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2 Digitale Transformation und berufliche Bildung – Annäherungen, Rezeption und Perspektiven

Digitale Transformation verweist auf grundlegende Veränderungen in unserer Le-bens- und Arbeitswelt, die auf digitale Technologien und die damit verbundenen Möglichkeiten und Formate der Vernetzung, den Umgang mit großen Datenmen-gen (Big Data) und Formate künstlicher IntelliDatenmen-genz zurückgeführt werden können 166 Didaktische Gestaltung der Ausbildungsvorbereitung am Berufskolleg – Chancen und Herausforderungen der digitalen Transformation

(vgl. Cole 2017). Diese Veränderung geht über Digitization als Umwandlung von analogen Daten in digitale Formate (Digitization, vgl. Hess & Wiesbrock 2019, Til-son, Lyytinen & Sørensen 2010) und Digitization als Digitalisierung bestehender Pro-zesse (vgl. Tilson, Lyytinen & Sørensen 2010) hinaus. Diese Entwicklungen stehen nicht isoliert, sondern im Wechselspiel mit weiteren gesellschaftlichen Megatrends, wie z. B. Individualisierung, Globalisierung und Internationalisierung. Berufliche Bildung steht hier vor einem Innovations-Paradoxon. Auf der einen Seite wird an berufliche Bildung herangetragen, den (vorliegenden) Veränderungen digitaler Transformation gerecht zu werden und darauf entsprechend vorzubereiten, und an-dererseits wird die Forderung mitgeführt, digitale Transformation mitzugestalten und die Entwicklungen beeinflussen zu können. Damit können durchaus konträre Herausforderungen verbunden sein und damit auch unterschiedliche Kompetenz-anforderungen entstehen. Lehrende stehen hier vor der Aufgabe, diese unterschied-lichen Anforderungen zusammenzuführen.

Es soll nun zunächst der Blick auf die Veränderungen gerichtet werden. Die Veränderungen sind sichtbar und finden sich in vielfältigen Formen. Klassische Bei-spiele sind das Entstehen von Hoteldienstleistern ohne Hotels, die Etablierung von digitalen Musikbörsen, der Einzug von Augmented Reality-Technologien in den All-tag, digitale Bezahlsysteme oder Smart-Home-Technologien. Damit einher gehen neue Geschäftsmodelle und es wird die Verdrängung bestehender Geschäftsmodelle genannt. „90 % der noch vor 50 Jahren erfolgreichsten Firmen weltweit sind heute von der Bildfläche verschwunden. 2017 kommen sieben der zehn wertvollsten Fir-men aus der Digitalwirtschaft. Obwohl der Standort bei digitalen Geschäftsmodellen eigentlich keine Rolle mehr spielt, stammen fünf der Firmen aus den USA, keine einzige aus Europa.“ (Keese 2017, S. 17) Hier zeigt sich gerade für die industriell ge-prägte Wirtschaftsstruktur ein erheblicher Veränderungs- und Entwicklungsdruck.

Auch da findet sich eine kontroverse Diskussion, inwiefern evolutionäre oder revolu-tionäre Entwicklungen erforderlich sind. Dementsprechend werden auch unter-schiedliche Anforderungen an die berufliche Bildung gerichtet. Ist die berufliche Bil-dung aufgefordert, Fachpersonal für sich weiter entwickelnde bestehende Bereiche bereitzustellen oder ist es erforderlich, neue Geschäftsmodelle über berufliche Bil-dung anzustoßen und hierzu „Innovatoren“ oder sog. „Disruptoren“ auszubilden, die in der Lage sind, disruptive Veränderungsprozesse aufzunehmen und zu gestal-ten? In diesem Zusammenhang wird dann zumindest in der populärwissenschaft-lichen Literatur infrage gestellt, ob Null-Fehlertoleranz oder 100 Prozent Genauigkeit in digitalen Geschäftsmodellen noch richtungsweisend sein können und sollen. Da-mit kann das Konzept der Fach- und Sachbearbeiterausbildung in der beruflichen Bildung durchaus infrage gestellt und die Gestaltung des Veränderungsprozesses hervorgehoben werden. Weniger grundlegend stellt sich die Herausforderung, dass es einer (neuen) Auseinandersetzung mit beruflichen Anforderungen und damit ver-bunden beruflicher Kompetenz bedarf. Dementgegen zeigen branchenbezogene Studien zur Bedeutung von Berufsbildern auf, dass diese auch zukünftig einen Rah-men bieten und auf die Arbeitswelt vorbereiten können. Hier wird eher ein weiterer

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Entwicklungsbedarf von Berufen gesehen (vgl. u. a. Spöttl & Windelband 2017). Ver-änderungen in den Qualifikationsanforderungen sind insgesamt absehbar, wissens-intensive Arbeitsbereiche werden an Bedeutung gewinnen. In diesem Kontext finden sich Ansätze, das Substituierungspotenzial und damit die Automatisierungsmöglich-keiten von Arbeit durch Technik zu bestimmen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) stellt hierzu einen Job Futuromat zur Verfügung, der auf Ba-sis der Differenzierung der Berufe in Tätigkeitsfelder und der Bestimmung von Au-tomatisierungsgraden in den Tätigkeitsfeldern Hinweise zum Automatisierungs-potenzial anbietet (vgl. IAB 2020). Damit kann zwar das SubstituierungsAutomatisierungs-potenzial bzw. das Automatisierungspotenzial von Arbeit durch Technik bestimmt werden, allerdings wird durchaus kontrovers diskutiert, welche Entwicklungspfade damit ver-bunden sind. Das Substituierungspotenzial muss nicht darauf hinweisen, dass Be-rufe verschwinden werden oder keine Bedeutung mehr haben. Es macht aber deut-lich, dass Tätigkeitsfelder und ihre Zuschneidungen in Berufen vor gravierenden Veränderungen stehen und diese auch im Rahmen aktueller Neuordnungen zu er-kennen sind (vgl. z. B. die aktuelle Verordnung über die Berufsausbildung zum Bankkaufmann und zur Bankkauffrau, Bankkaufleuteausbildungsverordnung 2020).

Sofern sich Berufe verändern, wäre hinsichtlich der Kompetenzentwicklungswege in den Ausbildungsgängen zu klären, inwiefern sich das Wesen der Berufe verändert und welche Zugänge zu einer beruflichen Handlungskompetenz eröffnet werden sollen. Diese Frage ist keinesfalls neu und kann über verschiedene Beispiele diffe-renziert werden: Sind digitalisierte Prozesse sichtbar zu machen, um ein Systemver-ständnis zu erfahren? Für den kaufmännischen Bereich stellt sich die Frage, ob das

„händische“ Buchen und die Bearbeitung von Geschäftsvorfällen bedeutsam sind oder Briefverkehr einzuüben ist. In welcher Form ist zukünftig eine handwerkliche Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden Werkstoffen erforderlich? Wie können die Eigenschaften von Metall erfahren werden und was soll dies mit dem Auszubildenden machen? Für den Bereich der Orthopädietechnik kann die Frage aufgeworfen werden, ob „Maße“ noch per Hand abzunehmen sind, wo auf digitale Hilfsmittel zurückgegriffen werden kann? Letztlich geht es bei der Beantwortung dieser Fragen darum, was einen Beruf und die damit verbundene Handlungskompe-tenz auszeichnet.

Die möglichen Beschäftigungseffekte derartiger Automatisierungsrisiken wer-den durchaus kontrovers diskutiert. Dabei ist beispielsweise zu berücksichtigen, ob es sich betrieblich lohnt, Automatisierungsmöglichkeiten wahrzunehmen und Ar-beit durch Technik zu ersetzen. Es werden hier unterschiedliche Entwicklungspfade aufgezeigt. Dabei wird einerseits ein Upgrading von Qualifikationsanforderungen und den damit verbundenen Beschäftigungseffekten und andererseits ein Polarisie-rungspfad gesehen, der das Verschwinden von Qualifikationsanforderungen auf ei-nem mittleren Qualifikationsniveau sieht. Ittermann, Niehaus und Hirsch-Kreinsen (2015, S. 42) kommen zu folgender Aussage: „Im Ergebnis scheinen die Perspektiven der Industriebeschäftigung in Deutschland unter den Bedingungen der Industrie 4.0 völlig offen.“ Diese Feststellung bezieht sich auf die Beschäftigungseffekte von In-168 Didaktische Gestaltung der Ausbildungsvorbereitung am Berufskolleg – Chancen und Herausforderungen der digitalen Transformation

dustrie 4.0. Dies zeigt zumindest, dass die Perspektiven für die verschiedenen Be-schäftigungssegmente offen sind. Dabei werden die Qualifikationsanforderungen in den Beschäftigungssegmenten einem deutlichen Wandel unterliegen. Dies kann z. B. für Einfachtätigkeiten bedeuten, dass sie nicht vollständig substituiert werden, aber Art und Form der Einfachtätigkeiten auch einem Veränderungszyklus unterlie-gen, was wiederum mit Anlern- und Anpassungsprozessen verbunden sein kann oder z. B. eine zunehmende Mobilität erfordert. Neue Technologien können auch für Einfachtätigkeiten neue Möglichkeiten bieten. Insgesamt ist zu erwarten, dass so-ziale und kreative Fähigkeiten an Bedeutung gewinnen werden. Dies steht nicht im Widerspruch zu fachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern weist auf Verän-derungen in den Tätigkeitsfeldern hin und auf die Notwendigkeit einer Anpassung und Weiterentwicklung der fachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Dabei sind so-ziale Kompetenzen nicht einfach additiv ergänzend zu betrachten, sondern die Kom-petenzen stehen in einem wechselseitigen Verhältnis. Soziale KomKom-petenzen werden zunehmend benötigt, um eine Aktualisierung und Weiterentwicklung fachlicher Kompetenzen vornehmen zu können.

Dies wird darüber hinaus mit einem veränderten Verhältnis von Mensch und Technik einhergehen, wobei sich beispielsweise die Frage stellt, wie bzw. in welcher Form sich dieses Verhältnis verändert. Wie können Menschen darauf vorbereitet werden, dass sie in komplexen Systemen nicht nur über Taktungen, sondern auch über Formen künstlicher Intelligenz gesteuert werden, aber dennoch die Verantwor-tung für komplexe Systeme haben und Probleme aufdecken müssen? Die veränderte Interaktion von Mensch und Maschinen wird in vielen Bereichen damit einherhen, dass Dinge auf der Oberfläche nicht mehr sichtbar sind bzw. nicht sichtbar ge-macht werden und erfordert einen grundlegenden Einblick in die zugrunde liegen-den Systeme und eine hohe Achtsamkeit, um die Systeme und Zusammenhänge erfassen zu können.

3 Zwischenspiel: Digitalisierung und Bildung

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