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In meiner Untersuchung versuche ich, ein zentrales Thema der Ethnologie, die Ver-wandtschaftsethnologie, mit den von ihr erarbeiteten Erkenntnissen auf eine komplexe Gesellschaft anzuwenden. Auf dem Hintergrund kulturvergleichender Studien zu Zeu-gung und Verwandtschaft wende ich den für ethnologische Arbeiten typischen holisti-schen Ansatz an mit einer Kombination verschiedenster Untersuchungsmethoden wie beispielsweise die teilnehmende Beobachtung, ausführliche qualitative Interviews sowie Erhebungen mittels Fragebögen. Empirische Daten werden im Rahmen einer ethnologi-schen Forschung in besonderem Maße durch die Feldforschung gewonnen, d.h. es geht um zeitintensive, langdauernde oder auch in Abständen im gleichen Gebiet fortgesetzte Forschungen zur Erfassung qualitativ dichter Daten (vgl. Girtler 2001; Jensen 1995). In meiner konkreten Forschung zur Erhebung des empirischen Material habe ich die Me-thode der teilnehmenden Beobachtung eingesetzt, da sie mir einen intensiven Einblick in die Erfahrungswelt der von „ungewollter Kinderlosigkeit“ Betroffenen im Kontext der Reproduktionsmedizin ermöglichte. Sie war außerdem sinnvoll, um vor allem grup-penspezifisches Handeln (wie z.B. Beratungen und Behandlungen, Treffen von Selbst-hilfegruppen u.ä.) zu dokumentieren, da verbale Antworten auf von mir als Wissen-schaftlerin gestellte Fragen nur einen Teil von effektiven Einstellungen und Meinungen darstellten, die zum Treffen von Entscheidungen und konkreten Handlungen führten.

Die teilnehmende Beobachtung machte es möglich, dass durch sie verbale Äußerungen mir gegenüber ergänzt, zum Teil auch korrigiert werden konnten.

Die Feldforschungsaufenthalte in den verschiedenen reproduktionsmedizinischen Zen-tren57, die mit einer Ausnahme (s.u.) zwischen zwei und drei Monaten dauerten, bilde-ten einen Schwerpunkt meiner empirischen Forschung. Sie ermöglichbilde-ten mir das Ken-nenlernen der verschiedenen medizinischen Techniken, der täglichen Abläufe und der Organisationsstrukturen der Kliniken. Durch meine Anwesenheit bei den verschiedenen Untersuchungen und Behandlungen sowie eigene Beobachtungen entstand eine ‚Ver-trauensbasis‘ zu den „ungewollt kinderlosen“ Paaren, die anschließende ausführliche qualitative Interviews zu einem großen Teil erst ermöglichten. Häufig teilten mir die Paare explizit mit, dass sie nie mit mir gesprochen hätten, wenn wir uns nicht so oft

57 Da im Kontext von Adoptionen und Pflegschaften keine stationäre Feldforschung mit teilnehmender Beobach-tung möglich war, gehe ich hier nur auf die konkrete Forschungssituation in den reproduktionsmedizinischen Klini-ken ein. Die empirische Datenerhebung bei Adoptiv- und Pflegeeltern beschreibe ich in Kapitel 3.2.

begegnet wären. Sie empfanden zum einen meine (erworbene) Kenntnis der verschiede-nen medizinischen Methoden und der Eingriffe als hilfreich, da sie somit im Gespräch nicht zu langen Erklärungen ansetzen mussten, ebenso wie sie es begrüßten, das ich durch meinen Aufenthalt ihre „Kinderwunsch-Geschichte“ schon ein bisschen kannte.

Die mehrmonatige Feldforschung hatte den Vorteil, dass sich die Paare Zeit nehmen konnten, um in Ruhe zu überlegen, ob sie sich zu einem Gespräch bereit erklären möchten. Die einen stimmten schon bei den ersten Treffen spontan zu, andere brauchten für diese Entscheidung länger. Die Aussagen der Paare bestätigten die Vorteile einer ethnologischen Untersuchung mit einer kontinuierlichen teilnehmenden Beobachtung.

Sie betonten das Gefühl, ernst genommen zu werden, da sich jemand so viel Zeit neh-men würde, um sich mit ihnen zu beschäftigen. Dieses positive Gefühl wirkte sich be-sonders auf die Länge und inhaltliche Ausführlichkeit der Gespräche aus. Zunächst fiel es den Interviewpartnern oftmals schwer, über „etwas Alltägliches und Selbstverständli-ches“ wie Familie, Verwandtschaft, Ehe, Elternschaft oder Kinder zu sprechen mit der Begründung, sie hätten noch nie darüber nachgedacht oder könnten sich auch nicht vor-stellen, worum es mir in meiner Untersuchung konkret ginge. Die gemeinsame Spra-che58 von Forscherin und ‚Beforschten‘ erleichterte den Zugang zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten und Wertvorstellungen, da in den Gesprächen deutlich wurde, dass „über Familienangelegenheiten reden“ bedeutete, sich einem intimen Bereich zu nähern, der sowohl das persönliche Geschlechts- und Gefühlsleben als auch die gesell-schaftliche Moral berührte. Im Verlauf der Interviews kamen fast alle befragten Perso-nen ins Reden und waren dann der Meinung, das es sich doch um ein Thema handele, dass für alle von Bedeutung sei. Das offene Gespräch über den „unerfüllten Kinder-wunsch“59, die persönlichen und medizinischen Hintergründe, Gefühle und Erlebnisse sowie die konkreten Erfahrungen mit der Reproduktionsmedizin bereiteten zunächst mehr Schwierigkeiten, wobei dennoch sowohl Frauen als auch Männer, die sich zu ei-nem Interview mit mir bereit erklärten, auch nach anfänglichen Hemmungen sehr offen über ihre Empfindungen und Erfahrungen redeten.

58 Nicht für alle befragten Paare war das Deutsche die Muttersprache, wurde jedoch von allen fließend verwendet.

59 Zur kulturellen Konstruktion des „Kinderwunsches“ siehe auch ausführlicher Beck-Gernsheim (1988), Hauser-Schäublin et al. (2001), Petersen (2000) und Stein/Sproll (1995). Im Zusammenhang mit der „ungewollten Kinderlosigkeit“ ist auch der „unerfüllte Kinderwunsch“ ein von den Betroffenen selbst verwendeter Begriff. Er wird jedoch ebenso wie „ungewollte Kinderlosigkeit“ besonders im öffentlichen Diskurs zur Beschreibung eines Zustandes, der als abweichend vom ‚Normalen‘ gilt, eingesetzt und impliziert dadurch per se eine Behandlungsnotwendigkeit. Der Begriff des „unerfüllten Kinderwunsches“ wird dabei semantisch wie der Name einer Krankheit benutzt und nimmt meiner Ansicht nach noch expliziter Bezug auf ein ‚Leiden‘ der Betroffenen, mit dem – wie auch Petersen (2000:73f) gezeigt hat – die Anwendung der Reproduktionsmedizin legitimiert wird. Die Betonung der Reproduktionsmedizin als „Hilfe für Paare mit unerfülltem Kinderwunsch“ und der Verwendung des Begriffes „Kinderwunsch-Therapie“ zeigt auch die Tendenz, nicht die körperlichen Eingriffe, sondern das Kind als Motivation und Ziel der Behandlungen in den Mittelpunkt zu rücken.

Zu welchen Personen ich jedoch letztlich Zugang bekam, und was mir in den Interviews erzählt (oder eben auch nicht erzählt) wurde, war abhängig von dem Bild der Paare von mir als Forschende generell im Rahmen der Klinik und weiterhin von ihrem persönli-chen Eindruck im Verlauf der Interviews. So stellten sie mir mehrfach sehr direkte Fra-gen u.a. zu meiner Person und zu meinen Lebensumständen („Sind Sie eiFra-gentlich ver-heiratet?“, „Haben Sie selbst Kinder?“, „Wollen Sie Kinder?“). Es wurde deutlich, wie sehr meine Positionierung bestimmte Blickwinkel eröffnete und andere verschloss.

Mein akademischer Grad, durch den ich vielen Paaren bildungsmäßig überlegen war, und meine ‚Nähe‘ zur Ärzteschaft, die ich in ihrer täglichen Routine in den verschieden-sten Situationen teilnehmend begleitete, führte zunächst zu einem hierarchischen Un-gleichgewicht. Einige Paare äußerten sich erst in den Interviews offen zu dem Gefühl der Beklommenheit, der Unsicherheit und des Beobachtet-werdens, das sie durch meine Gegenwart bei den ärztlichen Gesprächen und Untersuchungen empfunden hatten. Den-noch waren viele Personen bereit, sich von mir interviewen zu lassen, da wir uns auf-grund der längerandauernden Feldforschungsaufenthalte des öfteren trafen und sich, wie oben schon erwähnt, eine gewisse ‚Vertrautheit‘ einstellte. In den Gesprächen wurde die hierarchische Asymmetrie oft dadurch wieder ausgeglichen, dass zum einen die Be-fragten die ‚Experten‘ insbesondere bezüglich der reproduktionsmedizinische Behand-lungen waren, und zum anderen viele Interviews in deren privaten Räumlichkeiten statt-fanden, in denen sie sich sicherer bewegten und mit denen sie vertrauter waren als ich (siehe dazu auch 3.2).

Was sich bei meiner ethnologischen Forschung in Deutschland als schwierig erwies, war die Optik des fremden Blicks auf die ‚eigene‘ Gesellschaft zu richten. „Der Blick von draußen“ (Hauser-Schäublin 1997:16), das Wissen über Konzepte von Verwandt-schaft in ‚fremden‘ Kulturen, ermöglichte es zwar, die ‚eigenen‘ Vorstellungen mit der verfremdeten ethnologischen Brille zu beobachten. Dennoch hat sich gezeigt, dass auf-grund von Distanzierungsschwierigkeiten die Problematik gerade im Prozess des Er-kennens des ‚Eigenen‘ lag, dem das Abwägen und Gegenüberstellen mit dem ‚Frem-den‘ folgen musste (vgl. Hauser-Schäublin 1995:7). Die ‚Fremdheit‘ war offensichtli-cher während der teilnehmenden Beobachtung in den reproduktionsmedizinischen Kli-niken. Mir waren durch eigene regelmäßige Besuche bei einer Gynäkologin zwar die technischen Gerätschaften und bestimmte Untersuchungen bekannt, den Bereich der Reproduktionsmedizin kannte ich jedoch nicht. Aufgrund meiner Ausbildung besaß ich keine speziellen (fortpflanzungs)medizinischen Kenntnisse und Fertigkeiten, ebenso wenig wie ich die medizinische Fachsprache beherrschte. Es kristallisierte sich heraus, dass die spezifische Schwierigkeit der Ärzte darin lag, mit einer Kulturwissenschaftlerin und ihren spezifischen Forschungsmethoden umzugehen. Es wurde schnell deutlich, dass ich seitens der Ärzteschaft im naturwissenschaftlich-medizinischen Bereich als

‚Exotin‘ galt „mit ganz interessanten Themen“, die zum Teil zwar geduldet, jedoch in

der direkten Feldforschung oftmals mit Skepsis betrachtet wurde. Den Ärzten fiel es aufgrund ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung schwer, insbesondere die Methode der teilnehmenden Beobachtung zu verstehen, da ich damit direkt in ihren Berufsalltag eindrang, sie begleitete und bei der Ausübung ihres Berufes beobachtete, Fragen stellte und speziell auch auf die Interaktionen mit den Paaren achtete. Dies war für die meisten ungewohnt und führte in einigen Fällen auch zur direkten Ablehnung meiner For-schung. In allen vier von mir besuchten Kliniken wurde mir jedoch prinzipiell ermög-licht, die reproduktionsmedizinisch tätigen Ärzte zu begleiten, wenn auch die individu-elle Kooperationsbereitschaft und Offenheit unterschiedlich ausgeprägt war.

Ich möchte gern an dieser Stelle betonen, dass weder während meiner konkreten Feld-forschungsphase noch in späteren oder wiederholten Gesprächen seitens der betroffenen Paare mir gegenüber geäußert wurde (oder ich den Eindruck hatte), dass ich durch mei-ne Fragen erst Probleme ausgelöst habe, die eigentlich gar nicht vorhanden gewesen waren. „Wenn man in der Scheiße wühlt, fängt sie auch an zu stinken“ war die Meinung einiger Ärzte, mit denen ich vorab sprach, und die meiner Untersuchung ablehnend ge-genüber standen. Diese Ansicht habe ich zum damaligen Zeitpunkt nicht geteilt und teile sie vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen mit meinen Gesprächspartnern auch immer noch nicht.