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2.2 Das euro-amerikanische Verwandtschaftskonzept: Die Betonung der

2.2.1 Die Entwicklung von Blutsverwandtschaft als dominantes

Die historische Entwicklung des Modells von Blutsverwandtschaft in Europa und des-sen christliche Ursprünge hat der englische Sozialanthropologe Jack Goody (1989 [1983]) anhand der Veränderungen des europäischen Erscheinungsbildes von Ver-wandtschaft im Verlauf der Jahrhunderte nachgezeichnet. In seinem Buch „Die Ent-wicklung von Ehe und Familie in Europa“ beschreibt Goody den Einfluss der christli-chen Kirche in der Aufstellung von Heirats- und Erbschaftsbestimmungen, insbesonde-re durch die Einführung von Eheverboten, und in der Entwicklung zur Anerkennung von Blutsverwandtschaft als „echter“ Verwandtschaft. Die Idee der Blutsverwandtschaft in europäischen Gesellschaften ist nach Goody christlichen Ursprungs. In der Bibelfas-sung von König Jakob heißt es: „Keiner unter euch soll sich irgendwelchen Blutsver-wandten nahen, um mit ihnen geschlechtlichen Umgang zu haben“ (Vers 6 des 3. Levi-tikus 18, zitiert nach Goody 1989 [1983]:62). Goody zeigt auch auf, dass bereits in vor-christlicher Zeit das germanische Verwandtschaftssystem, das auf der Geschwistergrup-pe basierte, über das gemeinsame Blut konstruiert wurde. Die Grade des germanischen Systems unterschieden sich von dem römischen Verwandtschaftssystem. Die römische Zählweise berechnete die Zahl von Generationsschritten von Ego aus (auf- und abstei-gend). So galt Ego mit den Eltern im ersten Grad verwandt, mit den Geschwistern im

zweiten Grad usw. Ab dem siebten Grad galt man nach römischen Recht nicht mehr als verwandt. Bei der germanischen Zählweise bildete die Geschwistergruppe den Aus-gangspunkt. Mit ihnen war Ego im ersten Grad verwandt. Daraus ergibt sich, dass Ego beispielsweise nach germanischem Recht mit seiner Cousine im zweiten Grad und nach römischer Zählweise mit ihr im vierten Grad verwandt war (Goody 1989 [1983]:151-153). Im römischen Verwandtschaftssystem wurde demnach die (vertikale) Linearität, im germanischen System die Kollateralität als Hauptprinzip einer horizontalen Achse betont.

Im 11. Jahrhundert vereinheitlichte die Kirche jedoch die beiden verwendeten unter-schiedlichen Berechnungsmethoden. Als Zählweise der Verwandtschaftsgrade wurde nur noch die germanische (und nicht mehr die römische) anerkannt. Dies hatte weitrei-chende Konsequenzen für Heirats- und Erbschaftsangelegenheiten, da die Heiratsver-bote nun auf den siebten germanischen Grad ausgedehnt wurden, der im römischen Sy-stem dem 13. oder 14. Grad entsprochen hatte. Diese neue Berechnungsweise erweiterte den Kreis derjenigen, die aufgrund der kirchlichen Bestimmungen als Blutsverwandte galten und nicht mehr geheiratet werden durften. Damit waren auch erhebliche soziale Folgen verbunden. Mit der Einführung der exogamen Eheregelungen durch die Kirche wurde eine nennenswerte Akkumulation von Besitz innerhalb einer Verwandtengruppe stark erschwert, da innerhalb dieser Gruppe kein Erbe weitergegeben werden durfte.33 Auch nachdem die Verbote 1215 auf den vierten Verwandtschaftsgrad reduziert wur-den, waren viele Ehen auf einen kirchlichen Dispens von den Eheverboten angewiesen, die für die Kirchen eine erhebliche Geldquelle darstellten.

Neben der Trennung zwischen Bluts- und Affinalverwandten hatte die Kirche in Europa auch Einfluss auf eine weitere Verwandtschaftsgruppe, die „fiktive“ oder „spirituelle“

Verwandtschaft wie Adoption und Patenschaften. Mittels Adoption und Patenschaften, die nach Goody (1989 [1983]:211-212) auch vorchristlichen Ursprungs waren, konnte zwischen Blutsverwandten sowie zwischen Nicht-Verwandten eine „fiktive“ Verwandt-schaft hergestellt werden, wodurch die Möglichkeit bestand, Familienbande zu intensi-vieren oder zu erweitern (siehe auch Jussen 1991). Patenschaften, und damit die Tren-nung zwischen „natürlicher“ und „fiktiver“ Verwandtschaft, begannen gegen Ende des vierten Jahrhunderts, nachdem von der Erwachsenentaufe zur Kindtaufe übergegangen wurde. Damit fand ein Wandel von elterlicher zu nicht-elterlicher Patenschaft statt, in-dem die Paten Zeugen der geistigen Geburt eines Kindes bei der Taufe wurden und die

33 Siehe dazu auch HauserSchäublin (1998:57; Hervorhebung im Original): „Endogame Heiratsregelungen und -beziehungen sind – so wissen wir aus dem ethnologischen Studium außereuropäischer Gesellschaften – das Mittel, um Gruppenidentität und -solidarität, vor allem jedoch Besitz und/oder Status von Klassen und Kasten, aufrecht zu erhalten und zu stärken. Indem es nun plötzlich nicht mehr erlaubt war, Menschen aus einer näheren sozialen Umge-bung zu heiraten und man gezwungen wurde, Partnerinnen von anderen Verwandtschaftsverbänden zu heiraten, hatte dies zweifellos, zumindest längerfristig, eine Schwächung des eigenen Verbandes zur Folge“.

geistige Elternschaft übernahmen. Auch die Adoption wurde schon in vorchristlicher Zeit praktiziert, insbesondere wenn ein Mann keinen leiblichen Erben hatte. Das Be-streben der Kirche war es jedoch, die Praktiken der Adoption zu verbieten, da bei feh-lenden Erben der Besitz einer Verwandtschaftsgruppe der Kirche zufiel. Ab dem fünften Jahrhundert setzte die Kirche durch, dass adoptierte Kinder nicht mehr erbberechtigt waren (Goody 1989 [1983]:113). Mit Hilfe der Verurteilung von Adoption, der Wieder-heirat von Witwen und sämtlicher Ehen mit Affinalverwandten und „fiktiven“ Ver-wandten konnte die Kirche somit zum einen „fiktive“ Erben ausschließen, zum anderen bot sie den Witwen, für die eine Wiederheirat ausgeschlossen war, eine Versorgung in eigens gegründeten Witwenorden. Bei deren Ableben fielzumeist der Kirche deren Be-sitz zu. Gerade im Mittelalter war die Bedeutung dieser Zuwendungen erheblich. Die Folge dieser kirchlichen Bestimmungen war eine immense Vermehrung des kirchlichen Besitzes und eine gleichzeitige Verarmung von Verwandtschaftsverbänden.

Aus den obigen Ausführungen lässt sich erkennen, dass sich unter dem Einfluss der Kirche ein Verwandtschaftssystem entwickelte, in dem eine Hierarchisierung zwischen Bluts- und Adoptionsverwandtschaft stattfand und als die „wahren“ Verwandten nur noch die Blutsverwandten galten, die im Rahmen der Ehe als einzig legitime Institution durch einen körperlichen Akt gezeugt wurden. Nicht mehr die Kollateralität, sondern einzig die Linearität von Verwandtschaft und Deszendenz wurde nunmehr betont.

Gleichzeitig wurde ein Ego als zentraler Referenzpunkt eingeführt, von dem aus der Grad der Blutsverwandtschaft berechnet wurde.

„Die Bemühungen der Kirche zielten hingegen darauf ab, die auf der Ge-schwistergruppe basierende Berechnungsweise durch eine Methode zu er-setzen, die auf der Einheit des Fleisches (unitas carnis) beruhte und durch den Akt der Eheschließung (oder copula) eingesetzt wurde; ein System also, das auf dem verheirateten Paar und seinen Kindern fußte. Eine derartige Be-rechnungsmethode war darauf ausgerichtet, die Bedeutung der Nachkom-men innerhalb der direkten Linie besonders hervorzuheben und Verwandte der Seitenlinien auszuschließen.“ (Goody 1989 [1983]:158; Hervorhebun-gen im Original)

Das amerikanische Verwandtschaftskonzept wurde zum ersten Mal von David Schnei-der (1980 [1968]) in ethnologischer Perspektive analysiert, das er als ein kulturelles System mit einer spezifischen symbolischen Logik betrachtet. In seinem Werk „Ameri-can Kinship. A Cultural Account“ zeigt er auf, dass die Idee des gemeinsamen Blutes eine dominante Rolle in den amerikanischen Vorstellungen von Verwandtschaft34 spielt,

34 Schneider hat jedoch nur Daten innerhalb der urbanen, weißen Mittelschicht gesammelt (Schneider 1980 [1968]:121), was ihm immer wieder Kritik einbrachte. Kritisch äußert sich u.a. auch Scheffler (1976) zum Umgang mit den Aussagen der Informanten, die Schneider seiner Ansicht nach zu wörtlich genommen habe. Er akzeptiert dessen Unterteilung von Verwandten in „relatives by blood“ und „relatives in law“ anhand des empirischen Materials (Fortsetzung siehe nächste Seite)

und dass die Einheit von biologischer und sozialer Verwandtschaft im Mittelpunkt steht.

Blutsverwandte (relatives by blood) teilen in der Regel eine „natürliche“ Substanz und eine soziale Beziehung miteinander. Affinalverwandte (relatives by marriage) (Schnei-der 1980 [1968]:25ff) teilen nur die soziale Beziehung miteinan(Schnei-der, woraus sich ergibt, dass biologisch und sozial unterschiedliche Kriterien darstellen, um verwandtschaftliche Beziehungen zu charakterisieren. Die Ehe stellt einen rechtlichen Vertrag aufgrund ei-ner Willensentscheidung des einzelnen dar und kann durch Scheidung wieder gelöst werden. „Natürliche“ Verbindungen entstehen durch Zeugung und werden dadurch un-auflöslich (vgl. Schneider 1980 [1968]:23ff). Blutsverwandte sind aufgrund der geteil-ten biogenetischen Substanz, dem gemeinsamen Blut, die „wahren“ Verwandgeteil-ten, von denen man sich nicht wie von Affinalverwandten trennen kann, da das Gesetz der „na-türlichen Ordnung“ erstere miteinander verbindet.

„Blood is a matter of birth, birth is a matter of sexual intercourse. Sexual intercourse is an act which is undertaken and does not just happen. Yet as an act, it is natural. Its outcome is conception, which is followed by birth, and these are natural, too.“ (Schneider 1980 [1968]:38)

Nach Schneider gewinnt der Geschlechtsverkehr eine zentrale Bedeutung, da er Aus-druck der sozialen Beziehung zwischen den Eheleuten ist und gleichzeitig die biologi-sche Verbindung zwibiologi-schen Eltern, Kindern sowie Geschwistern herstellt.

„The distinctive features which define the members of the family and differ-entiate them from each other and which at the same time define the family as a unit and distinguish it from all other cultural units are those which are contained in the symbol sexual intercourse. Father is the genitor, mother the genetrix of the child which is their offspring. Husband and wife are in sex-ual relationship and theirs is the only legitimate and proper sexsex-ual relation-ship. Husband and wife are lovers and the child is the product of their love as well as the object of their love; it is in this sense that there are two kinds of love which define family relationships, one conjugal and the other cog-natic, and it is in this sense that love is a synonym for sexual intercourse.“

(Schneider 1980 [1968]:43)

Somit entsteht über den rechtlichen Vertrag der Ehe die kulturelle Einheit der Kernfa-milie aus dem Ehepaar mit seinen Nachkommen, die durch eine gemeinsame Körper-lichkeit miteinander verbunden sind; Zum einen über den Geschlechtsverkehr, der Aus-druck der sexuellen Beziehung des Ehepaares ist, zum anderen wird durch den Akt der Zeugung die biologische Identität zwischen Eltern und Kind hergestellt. Durch diese

nicht, sondern unterscheidet selbst zwischen Individuen, die als verwandt gelten, d.h. Blutsverwandten, und „relatives of other kinds“, die nicht als Verwandte angesehen werden wie Pflegemutter, Priester (Vater). Scheffler misst den

„real relatives“ eine sehr viel größere Bedeutung bei. Als Grundlage erkennt er die biologische (über gemeinsames Blut verbundene) Familie an. Verwandtschaftliche Beziehungen, die darüber hinaus gehen, sind für ihn „relatives by extension“.

geteilte Körperlichkeit (shared biogenetic substance) entsteht zwischen den Familien-mitgliedern ein emotionales Zusammengehörigkeitgefühl (diffuse enduring solidarity), was Schneider mit Liebe gleichsetzt (1980 [1968]:50).35

Im Zentrum sowohl des europäischen als auch des amerikanischen Verwandtschafts-konzeptes steht die Vorstellung von Blutsverwandtschaft als „echte“ Verwandtschaft, die untrennbar mit dem Körper verbunden ist. Zwischen Blutsverwandten besteht eine physische Verbindung über eine „natürliche“ Substanz, die diejenigen teilen, die als miteinander verwandt gelten, und die untrennbar verbunden ist mit der Vorstellung der Schaffung von Blutsverwandten durch Geschlechtsverkehr und Zeugung im Rahmen der Ehe. Das Idiom der ‚Natur‘ ist entscheidend in der Vorstellung, dass eine geteilte Körperlichkeit auch in sozialer Hinsicht unauflöslich miteinander verbindet: „The fa-mily is formed according to the laws of nature and it lives by rules which are regarded by Americans as self-evidently natural“ (Schneider 1980 [1968]:34).36 Die Idee der

‚Natürlichkeit‘ dieser Verbindungen führt auch zu einer Trennung zwischen „echter“

und „künstlicher“ bzw. „fiktiver“ Verwandtschaft, wozu Adoptionen und Patenschaften gezählt werden. Dieser Unterscheidung liegt die Vorstellung zugrunde, dass „fiktive“

Verwandtschaft der echten nur nachgebildet sein kann, wodurch sie eine andere kultu-relle Bewertung erfährt.