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Die Macht des cantus: Mündlichkeit und Politik im Mittelalter

4 DIE MAUREN- UND WELTBILDER IM WERK ALFONS’

4.3 Der Libro de las Cruzes

1.4.20 Die Macht des cantus: Mündlichkeit und Politik im Mittelalter

Die Cantigas de Santa Maria sind die größte mittelalterliche musikalische nicht- liturgische Sammlung auf der Iberischen Halbinsel.433 Sie sind das beste Beispiel der iberischen cantigas434 (aus dem Lateinischen cantus), die aus gedichteten Liedern bestehen und zum Singen geschrieben wurden. Dabei handelt es sich um eine poetisch-literarische Gattung der Iberischen Halbinsel, die ihre mittelalterliche Parallele im deutschen Minnesang und in den provenzalischen Troubadourliedern fanden.

In Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Menschen im Mittelalter nicht lesen konnten, kann man davon ausgehen, dass die wissenschaftlichen Werke Alfons’ in der Regel an einen kleinen intellektuellen Kreis gerichtet waren. Jedoch kann man dasselbe nicht von den Cantigas de Santa Maria behaupten, da die Vermittlung von Dichtungen damals vor allem mündlich einherging und sich deshalb für eine wesentlich größere Verbreitung von

433 Kleine, El rey que es formosura del Espanna, 2005, 59.

434 Kroll, Cantigas, LexMa, Bd.2, 1458-1459.

Ideen eignete. Hinsichtlich der mündlichen Vermittlung solcher Dichtung betonte Paul Zumthor in seinem Werk Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, dass es bezüglich der provenzalischen Dichtung eine Einmütigkeit hinsichtlich der Bestimmung für den mündlichen Vortrag in vielen Studien gibt.

Nicht bewiesen werden kann jedoch, dass ihre Bewahrung allein dem Gedächtnis überlassen wurde. Zumthor erwähnt aber Musikwissenschaftler, die behaupten, dass die Überlieferung der Melodien zweifellos über mehrere Generationen mündlich blieb, selbst wenn die Texte von Anfang an häufig schriftlich fixiert waren.435 Noch bezüglich der Mündlichkeit und schriftlichen Abfassung der „poetischen“ Texte im Mittelalter formuliert Zumthor weiterhin die Hypothese, dass die Gesamtheit der Texte, die aus dem 10., 11., 12.

und in geringerem Maße auch aus dem 13. und 16. Jahrhundert zu uns gekommen sind, durch die Stimme hindurchgegangen ist – ein Postulat, dem ein wichtiger Zusatz folgt: „Dieses vokale Hindurchgehen vollzog sich nicht willkürlich, sondern war ein Zweck der Texte“436. Mit anderen Worten, der Text diente meistens der Bewahrung der mündlichen Überlieferung.

Der Autor stellt schließlich fest, dass die Tatsache, dass zumindest seit dem 13. Jahrhundert die poetische Vokalität in Berührung mit dem Feld der Schrift praktiziert wurde, keinen Einfluss auf die Transzendenz von Raum und Zeit, die die Mündlichkeit und performance des Gedichts enthalten hätten, bewirkt habe. Das gelte für die meisten Troubadourlieder.437

Im oben erwähnten Werk weist Zumthor auch auf den Einfluss auf die Zuhörerschaft eines anderen poetischen Genre hin‚ den cantus gestualis. Zumthor bezieht sich vor allem auf den Inhalt und die unwiderstehliche Macht der Vokalität des Gesangs. Der Autor erwähnt einen Zeitzeugen, Jean de Grouchy438, der bedauerte, dass am Ende des 13. Jahrhunderts die Adressaten der mündlichen Epik nur noch die einfachen Leute – civibus laborantibus et mediocribus – gewesen seien. Aus diesem Text schließt Zumthor unter anderem, dass die Adressaten dieses Genres die Arbeitenden und Armen gewesen seien und dass der Gesang sie dazu habe bringen sollen, ihr unterprivilegiertes Leben geduldig zu ertragen. In diesem Sinne stellte dieser Gesang folglich einen staatserhaltenden Faktor dar. Der cantus gestualis wurde an einem genau bestimmten Ort durchgeführt und erhob sich während der Freizeit – und

435 Zumthor, Die Stimme und die Poesie, 1994, 30.

436 Ebd., 35.

437 Ebd., 57-58.

438 Ebd., 28. Hier erwähnte Zumthor das Werk von Krauss, Europäisches Hochmittelalter, 1982, 145- 180.

Mußestunden, die die Arbeit unterbrachen, also unter Bedingungen, die für ein klares Zugehörbringen und aufmerksames Zuhören am besten geeignet waren.439

In Anlehnung an diese Feststellungen Zumthors präsentiere ich im Folgenden einige Betrachtungen bezüglich der Cantigas de Santa Maria, ihrer mündlichen Verbreitung und schriftlichen Fixierung:

Der Inhalt: Ein Teil der Lieder stammt aus der mündlichen Volkstradition, ein anderer Teil handelt von der Geschichte des Königs, seiner Familie und des Königreichs. Die Cantigas standen somit in einem Prozess innerhalb der mündlichen Tradition. Der Text bewahrte das Mündliche und führte gleichzeitig neue Ereignisse und die Vorstellungen des Königs in das Feld der mündlichen Tradition ein.

Die Schriften: Nur vier Handschriften – alle aus der Zeit Alfons’ – sind überliefert. Sie zeigen die Entwicklung dieses großen und kunstvollen Projekts, da innerhalb dieser vier Handschriften umfangreiche Verbesserungen zu ersehen sind (siehe Kapitel 2). Die Verbesserungen bestanden sowohl in dem Hinzufügen von neuen Liedern und Illustrationen, als auch in der Verbesserungen von Form und Texten. Die äußerst geringe Anzahl von Handschriften und die Weiterentwicklungen in ihnen zeigen, dass ein möglichst perfektes Werk entstehen sollte, das nicht zur schriftlichen Vermittlung geschrieben wurde, sondern zur Bewahrung des Mündlichen.

Der öffentliche Raum: Im zweiten Kapitel wurde die sangbare Eigenschaft der Cantigas dargestellt, woraus sich die Frage ergibt, wo die Cantigas de Santa Maria gesungen wurden. Eine Antwort darauf geben die Miniaturen, die nicht nur darstellen, wer die Cantigas musikalisch darbrachte, sondern auch wo sie musiziert wurden. Die in den Miniaturen als die Verfasser dargestellten Figuren – dabei Alfons an zentraler Stelle – und Musikanten befinden sich ganz deutlich in einer höfischen Umgebung. Daher liegt es nahe, dass die Handschriften und ihre Miniaturen am Hof Alfons’ geschrieben und gemalt wurden und dass die Cantigas dort gesungen wurde. Dabei muss man berücksichtigen, dass der Hof Alfons’ ein Wanderhof war, das bedeutet, der Hof hatte keinen festen Aufenthaltsort, sondern reiste mit dem König gemeinsam durch das Land. Da der König persönlich an jeder corte440 in jeder Stadt teilnahm,

439 Zumthor, Die Stimme und die Poesie, 1994, 29.

440 Corte war ein Rat von Menschen, die autorisiert waren, über die wichtigen Handlungen des Staats zu intervenieren. Die cortes wurden in Kastilien meisten vom König geleitet und der Text, der sich aus dieser Versammlung ergab, wurde auch corte genannt. Die Versammlung war zeitweilig und wandernd, also gab es z. B. einen Corte de Sevilla (1252), etc. In den cortes wurden auch neue Gesetze zu den fueros der betreffenden Stadt hinzugefügt. Eine andere Bedeutung des Wortes bezieht sich auf das deutsche Wort Hof, z.B. „a corte de Alfonso“, der übrigens auch ein wandernder Hof war.

war sein Hof sehr beweglich. Das bedeutete für die Verbreitung der Cantigas, dass diese nicht nur in Sevilla oder Toledo gesungen wurden, sondern in vielen anderen Städten Kastiliens.

Das Singen der Cantigas im öffentlichen Raum war auch der Wunsch Alfons, der in seinem Testament zum Ausdruck kommt441 (siehe Kapitel 2.5.2.4).

Weiterhin enthalten einige Verse der Cantigas de Santa Maria selbst Hinweise darauf, dass die Cantigas de Santa Maria in der Öffentlichkeit gesungen sowie mündlich überliefert und verbreitet werden sollten. Diese Verse rufen das Publikum auf explizite Weise zum Zuhören auf (Kapitel 2.5.2).

„Mais oyredes maravilla fera”442

Aber ihr werdet von einem großen Wunder hören

„Mais agora oyredes a mui gran façanna que ali mostrou a Virgen”443

Aber hört jetzt die Heldentat, Die die Jungfrau dort gezeigt hat

„E daquest’ un gran milagre direi, onde devoçon Averedes poi-l’oyrdes”444

Und ich werde von einem großen Wunder berichten, von dem ihr gerne hören werdet

Ob die Cantigas allerdings wirklich an öffentlichen Festen gesungen wurden, kann man nur vermuten. Mit Sicherheit wissen wir nur, dass dies der Wille und die Absicht Alfons’

war. Auf jeden Fall ist es aber sehr wahrscheinlich, dass die Cantigas bei einigen Veranstaltungen, wie zum Beispiel den Festen Marias, gesungen wurden, da bei diesen

441 “Otrosí mandamos que los libros de los Cantares de los Milaglos de Loor de Sancta María sean dados en aquella eglesia o el nuestro cuerpo fuere enterrado e que los fagan cantar en las fiestas de Sancta María e de Nuestro Senor.“ (Wir befehlen, dass die Bücher der Gesänge über die Wunder und das Lob der Heiligen Maria jener Kirche gegeben werden, in der mein Körper begraben werden wird und dass sie (die Gesänge) an den Festen der Heiligen Maria und Unseres Herren gesungen werden.), in Diplomatario andaluz, 1991, Dokum. 521, 557-564, hier 560.

442 CSM, cantiga 105, V. 49

443 CSM, cantiga 222, V. 41-42

444 CSM, cantiga 337, V. 5-6

Festlichkeiten große Menschenmengen zusammentrafen und sich mit viel Tanz und Musik unterhielten. Weiterhin ist es belegt, dass dieselben Spielleute, die am Hofe spielten und musizierten, auch auf den populären und religiösen Festlichkeiten spielten. Diese Spielleute waren auf diese Weise die Verbreiter der Lieder und ihrer Botschaft im öffentlichen Raum, jenseits des Hofes.445 Bezüglich des breiten Publikums und des umfangreichen Tätigkeitsraumes der Spielleute schreibt Walter Samen in seinem Werk Spielleute im Mittelalter, dass viele Ereignisse im Leben der Menschen des Mittelalters des Spielmannes bedurften. „Lange Reisen und Wanderungen, Schlachten, festliches Essen, ja selbst das Baden oder der Kirchgang wurden mit Musik vollzogen. Der Musiker, der diese zu bieten hatte, stand voll in der Wirklichkeit seiner Zeit, er war in der Kindbett ebenso zu Gast wie während der Hochzeit oder am Sterbebett, bei Staatsaktion anwesend oder bei der Arbeit des Bauern und in der Werksatt des Handwerkers zu finden“.446 Weiterhin waren die öffentlichen Räume wie Straßen, Gassen und Märkte ebenfalls lohnende Lokalitäten für Spielleute.447 Im Fall der Cantigas de Santa Maria ist die Präsenz maurischer Spielleute beim Spielen der Lieder in den Miniaturen der cantiga 120, fol.125 im Codice Escurialense, belegt, in denen ein Maure und ein Christ dargestellt werden, die zusammen Gitarre spielen (Abbild 3). Die Vermutung liegt also nahe, dass diese maurischen Spielleute am Hof Alfons’ als Vehikel für die Verbreitung der Cantigas im maurischen Raum, in der morería, dienen konnten. Alain Brissaud betont, dass noch gegen Ende des 15. Jahrhunderts verweisen Schriften auf Mudejaren-Musikanten, die die katholische Fronleichnamsprozession mit ihrem Spiel begleiteten und anschließend am Festmahl teilnahmen.448

Mit der Eigenschaft der Ideenverbreitung der mittelalterlichen Dichtungen und ihrer politischen Rolle beschäftigen sich einige Studien. Das Werk von Carlos Alvar ist ein Beispiel für die Studien über die Vereinigung von Politik und Dichtung am Hof Alfons’.449 Der Autor weist darauf hin, dass Alfons bereits als Infant von Dichtern umgeben war, die nicht nur politischen Einfluss hatten, sondern auch an der Reconquista teilnahmen und Schenkungen erhielten. Alvar nennt beispielsweise Gonçal Eanes do Vidal sowie Pelay Pérez Corre, Meister des Santiagoordens. Beide hatten einen wichtigen Anteil an der Eroberung von Murcia und kämpften an der Seite des Infanten Alfons. Sie waren auch Vertreter der

445 Vlg. Hartung, Die Spielleute, 1982, 101-103; Salmen, Der Spielmann, 1983, 67-80.

446 Salmen, Der Spielmann, 1983, 67.

447 Ebd., 74.

448 Brissaud, Islam und Christentum, 1993, 235.

449 Carlos Alvar, Poesía y política, 1984, 5-20.

galizisch-portugiesischen Dichtung und brachten ihr politisches Engagement in ihren Gedichten zum Ausdruck.450

Alvar hebt ein weiteres Beispiel für die Vereinigung von Politik und Dichtung in der Umgebung Alfons’ hervor. Dabei handelt es sich um die Gedichte der Ghibellinen, die den König von Kastilien im Wahldisput um die Krone des Heiligen Römischen Reiches unterstützten. Nachdem Alfons am 18. März 1256 von dem Prokurator von Pisa als Staufer-Erbe anerkannt wurde,451 erkannten die Italiener Alfons als Rex Romanorum an und schickten ihm eine Gesandtschaft nach Kastilien mit Brunetto Latini als Leiter, der das Ereignis auch in seinem Gedicht Tesoretto erzählt.452

Die politische Rolle der mittelalterlichen Dichtung im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen Ghibellinen und Guelfen untersucht auch Martin Aurell, einer der größten Spezialisten für provenzalische Dichtung. Er analysiert die Darstellung der Kämpfe zwischen beiden Parteien in den Gedichten des 13. Jahrhunderts wie auch die politische Haltung der Troubadours in dieser Auseinandersetzung. Der Autor hebt die Parteilichkeit der Gedichte der Troubadours hervor, die auf der Seite der Ghibellinen standen und damit das Haus des Staufern unterstützten. Er weist auf die wichtige politische Bedeutung dieser Dichtungen hin und stellt fest: „Le sirvents est le media par excellence du Moyen Âge, le moyen le plus rapide, large et efficace de diffuser une propagande politique et d’agir sur l’opinion publique“.453

Eine weitere interessante Studie über die mittelalterliche Dichtung unternahm José Rivair Macedo, der die Rolle der politischen provenzalischen Lieder – die sogenannten sirvents – im Zusammenhang mit dem Albigenser-Kreuzzug in Okzitanien erforschte. Dieser Autor analysiert nicht nur die Herkunft der Dichter, die im Allgemeinen aus dem gebildeten Adelsstand kamen, sondern auch das Publikum, an das die Gedichte – in Anbetracht der mündlichen Vermittlung – gerichtet waren. Er betont, dass die Adressaten aus verschiedenen sozialen Gruppen bestanden und auf diese Weise die angesprochenen Themen popularisiert wurden. Die sirvents seien durch das Singen der Spielleute und danach von Mund zu Mund von den Zuhörern weiterverbreitet worden. In Übereinstimmung mit Martin Aurell sagt

450 Ebd., 8.

451 Meyer, Kastilien, die Staufer und das Imperium, 2002, 127; Carlos Alvar, Poesía y política, 1984, 9.

452 G. Contini, Poeti del Ducento, Vol. 2, zitiert von Carlos Alvar, Poesía y política, 1984, 10.

453 “Die sirvents sind par excellence das Medium des Mittelalters, das erfolgreichste, weitgehendste und schnellste Mittel zum Verbreiten politischer Propaganda und zum Beeinflussen der Allgemeinen Meinung”, Martin Aurell, Chanson et propaganda politique, 1994, 186.

Macedo, dass diese Gedichte – dank ihrer mündlichen Überlieferung – als erfolgreiches Verbreitungsmittel und als politische Propaganda gewirkt hätten.454

Beide Autoren folgen derselben Forschungslinie für politische Geschichte, die im Werk Le forme della propaganda politica nel due e nel trecento455 präsentiert wird. Da wird das historische Problem erörtert, wie die verschiedenen öffentlichen Autoritäten (autorità pubbliche), die im 12. und 13. Jahrhundert installiert waren, versuchten, durch ihr öffentliches Ansehen zu überzeugen und ihre Machtposition dadurch durchzusetzen und zu verteidigen.456 In demselben Werk stellt Jacques Le Goff am Schluss fest, dass es im Mittelalter echte Propagandainstitutionen gab. Jedoch sei dabei zu bedenken, dass die Propaganda in jener Zeit noch diffus war.457

Das Wort Propaganda für die mittelalterliche Zeit klingt anachronistisch, wenn die Verwendung dieses Worts nicht begründet werden könnte. Eine interessante Begründung präsentiert Giles Constable in seiner Studie über die klösterliche, päpstliche und kaiserliche Propaganda:

“The very term ‚propaganda’ summons up images of centralized government and control over mass media, which, was impossible before the age of printing and even more so that of television and radio. The eleventh and twelfth centuries saw for perhaps the first time in European history, however, a serious and conscious effort to influence the views and actions of important individuals und groups in society”.458

Marina Kleine schließt sich bezüglich der Verwendung des Begriffs Propaganda für die mittelalterliche Zeit den oben erwähnten Autoren an. In ihrer Forschungsarbeit über die Repräsentation der königlichen Macht durch die Darstellung des Monarchen in den Werken Alfons’ des Weisen459 schreibt sie, dass das Wort Propaganda verwendet werden kann, wenn es dabei in seinem Kontext geklärt wird. Aus diesem Grunde widmet Kleine das erste Kapitel ihrer Arbeit der Erörterung des propagandistischen Charakters der Werke Alfons’. Da stellt sie auch fest, dass die Cantigas de Santa Maria – wegen ihrer mündlichen Überlieferung – unter den Werken Alfons’ das größte propagandistische Potential enthalten.460

454 Macedo, Poesia e poder, 1996, 143-163.

455 Cammarosano (Hrsg.), Le forme della propaganda, 1994.

456 Cammarosano, Presentazione, in: Cammarosano (Hrsg.), Le forme della propaganda, 1994, 1.

457 Le Goff, Conclusions, in: Cammarosano (Hrsg.), Le forme della propaganda, 1994, 519-520.

458 Giles Constable, Papal, Imperial and Monastic Propaganda, 1983, 180.

459 Kleine, El rey que es formosura del Espanna, 2005, 20.

460 Kleine, El rey que es formosura del Espanna, 2005, 66.

Meines Erachtens eröffnet die Kombination von Kunst und Inhalt, wie sie in den Cantigas de Santa Maria dargestellt wird, die Möglichkeit, die Cantigas als ein Propagandamittel zu verwenden. Man kann nicht verneinen, dass es schon im Mittelalter zielgerichtete Bemühungen gab, um Standpunkte und Taten einiger Gruppen zu beeinflussen.

In diesem Sinn wird hiermit das Wort Propaganda verwendet, also im Sinn der bewussten und zielgerichteten Verbreitung einer Idee, um die Meinung und das Handeln Anderer zu beeinflussen.

Viele Textstellen der Cantigas de Santa Maria deuten auf diese beabsichtigte Verbreitung ihrer Botschaft und den breiten Adressatenkreis hin. Die Lieder erzählen nämlich unter anderem die Geschichten und den Alltag von Spielleuten, Seeleuten, Bauern, Pilgern, Frauen, Kindern, Juden, Mauren, Geistlichen, also von jeder erdenklichen Figur aller Gesellschaftskreise, so dass eine Selbstidentifizierung verschiedenster Menschen mit den Erzählungen stattfinden konnte. Ein weiteres Argument für den beabsichtigten breiten Adressatenkreis der Cantigas ist die cantiga 409, in der alle sozialen Gruppen, oradores (Betende), religiosos (Mönche), cavaleiros (Ritter), donas onrradas (ehrenhafte Frauen), donzelas (Fräulein), escudeiros (Schildknappen), burgeses (Bürger), cidadãos (Stadtbewohner), aldeãos (Dorfbewohner), mesteiraes (Handwerker), ruãos (anderes Wort für Stadtbewohner) und mercadores (Händler)461 zum Singen und Tanzen eingeladen sind, um die Heilige Maria zu verehren und loben.

Joseph Snow analysierte diese cantiga in Verbindung mit den gesamten Cantigas de Santa Maria und stellte die allgemeine Absicht Alfons’ fest, alle soziale Schichten (jerarquías sociales) zum Lob Marias zu vereinigen. Das sei eine Neuerung in diesem literarischen Genre gewesen und entspreche der globalen gesellschaftlichen Sichtweise Alfons’.462 Dies kann dafür sprechen, dass Alfons seine politischen und missionarischen Absichten auf alle Gesellschaftsschichten gerichtet hatte. Dies schließt auch seine Auffassung bezüglich der korporativen Struktur der Gesellschaft ein, die mehrere Male in den Werken Alfons’ dargestellt wird und bei der jedes Element der Gesellschaft eine Funktion hat (Kapitel 4.2.3).

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Alfons für die Cantigas de Santa Maria eine bedeutsame Publikumserwartung hatte, denn sie wurden zum Singen und zur mündlichen Verbreitung komponiert. Der große Vorteil der mündlichen Verbreitung bestand

461 CSM, cantiga 409, V.51-52, 66-67, 81-85.

462 Snow, Alfonso X y/en sus Cantigas, 1985, 77.

darin, dass man nicht lesen können musste, weil die Informationen durch bloßes Zuhören aufgenommen werden konnten. Das bedeutet, dass die Informationen trotz des hohen Analphabetismus für den größten Teil der Bevölkerung zugänglich war, weshalb sie ein großes Propagandapotential hatten. Weiterhin ist auch zweifellos, dass Alfons – selbst in seiner Frömmigkeit – nicht nur zu seinem eigenen Vergnügen die Cantigas de Santa Maria geplant, organisiert bzw. geschrieben hatte. Wie andere Dichter oder Herrscher hatte auch er eine Publikumserwartung und war sich darüber im Klaren, wen er mit seiner Botschaft erreichen wollte und wer von seiner Botschaft erreicht werden konnte.

Marina Kleine betont in ihrem oben erwähnten Werk weiter, dass die Bilder der königlichen Macht, die das politische Denken Alfons’ erkennen ließ und durch seine Texte vermittelt wurden, als ein Versuch der Legitimierung und Stärkung seines zentralistischen politischen Ziels interpretiert werden können.463 Ich stimme dem zu und stelle fest, dass diese Bilder nicht nur seiner politischen Absicht einer zentralistischen Macht dienten, sondern auch Alfons’ Gesellschafts– und Weltauffassung eines hierarchischen gesellschaftlichen Körpers zum Ausdruck bringen, in dem jedem Teil eine Funktion bestimmt war. In diesem Sinne waren die Mauren auch ein von der Botschaft der Cantigas anvisiertes Publikum. Für diese These sprechen unter anderen die maurischen Melodien, durch die die Cantigas auch orientalische Charakteristiken erhielten. Dadurch wurden nicht nur die Mozaraber und Mudejaren angesprochen, sondern auch die Juden, da sie mit maurischen Melodien im Laufe der Jahre vertraut geworden waren.

In den nächsten Unterkapiteln wird der Inhalt der Cantigas de Santa Maria untersucht, in welchen eine Botschaft an die Mauren vermittelt werden sollte. Als wichtiger Aspekt der Analyse wird zunächst jedoch der religiöse Zusammenfluss auf der Iberischen Halbinsel und die Rolle Marias im muslimischen Glauben erörtert.