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Archiv "Arzt und Patient in der Leistungsgesellschaft" (24.04.1975)

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen THEMEN DER ZEIT

Leistungen, Leistungsprinzip und Leistungsdruck in den verschiedenen Lebensaltern A) Bei Kindern und Jugendlichen Die Bundesärztekammer hat durch ihren Wissenschaftlichen Beirat eine Stellungnahme über mögliche Schädigungen der Schulkinder durch Überforderung ausarbeiten lassen. Ich kann auf diese Empfeh- lungen verweisen, welche Warnun- gen enthalten, das Schulkind durch moderne Lehr- und Lernmethoden zu überfordern. Die Stichworte Ge- samtschule, Ganzheitsmethode, Mengenlehre sind heute ebenso politische Reizworte geworden wie der Leistungsdruck. Nur kommt diesmal die Argumentation aus der anderen Richtung.

Schüler und insbesondere die El- ternschaft haben in den betroffe- nen Bundesländern bereits deut- lich reagiert. Es kann nicht Sache der Schulärzte und der Gesund- heitsämter sein, mögliche gesund- heitliche Schäden durch aggressi- ve Unterrichtsformen ohne die not- wendigen, biologisch begründeten Anpassungsmöglichkeiten zu er- kennen. Dies ist Sache der nieder- gelassenen Ärzte und sicher ein nützliches Betätigungsfeld für Psy- chologen, Psychosomatiker und Soziologen. Der heranwachsende Organismus ist nach ganz anderen Maßstäben zu messen als der er- wachsene oder gar der alte Mensch. Das ist eine Binsenwahr- heit, die man aber heute in der ge- samten Jugenderziehung und in der Berufsbildung zu wenig be- rücksichtigt.

Die in den letzten Jahren lautge- wordenen Forderungen nach Mo- dernisierung der Ausbildungsver- fahren sollten berücksichtigen, daß der junge Mensch geführt und ge- leitet sein will. Bei allen notwendi- gen Freiheiten muß er die ordnen- de Hand spüren, ohne die ihm die Orientierung in den weiterführen- den Schulen, in der Lehrlingsaus- bildung oder auf den Universitäten unmöglich ist. Gerade aus den Stu- dentenschaften kommt der Ruf nach einer straffen Studienbera- tung, nach festen Unterrichtsplä- nen mit entsprechender Effizienz- kontrolle. Das ist nicht identisch mit Repression. Die Überprüfung des Wissensstandes in überschau- baren Zeiträumen ist für den Aus- bildungsgang auch des Mediziners unerläßlich und für die Selbstkon- trolle wie für die eigene Motivie- rung notwendig. Man hat unter dem Stichwort Mitbestimmung, un- ter der Parole Drittelparität, viel Unheil an den Universitäten ange- richtet, das sich in den letzten Jah- ren selbst ad absurdum geführt hat. Wir können nur hoffen, daß die gleichen Fehler in der Lehrlings- ausbildung und in der beruflichen Weiterbildung unterbleiben. Die Folgen wären noch verheerender als an eindeutig politisch ausge- richteten Universitäten!

Was Leistungsdruck bedeuten kann, ist an manchen amerikani- schen Medical Schools zu erken- nen. Das gnadenlose Hinausprüfen von Semester zu Semester hat zur Neurotisierung ganzer Jahrgänge geführt. Die Studenten bedienen sich gelegentlich krimineller Tricks, um das rettende Ufer zu er-

reichen. Abschreiben, Fälschung von Protokollen, Behinderung von Kollegen bei ihren Klausuren und Experimenten werden immer wie- der berichtet. Das sind Exempel für eine unsinnige und gefährliche Praxis, die nachhaltige Schäden der Gesundheit an Leib und Seele setzen werden. Ich verweise auf die Untersuchungen von Harold Treffert aus der Winnebago-Ner- venklinik in Wisconsin (FAZ 19, S.

7, 1975).

Wird dann dieser Leistungsdruck in den nachfolgenden Berufsjahren aufrechterhalten, so kumulieren sich die Schadensfolgen. Nicht sel- ten weicht der Betroffene in die schillernden Gefilde des Rausches und der Sucht aus. Daß Furcht vor Versagen und Existenzangst hier- bei dann eine wichtige Rolle spie- len, versteht sich von selbst.

Leistung und Krankheit B) Bei Menschen mittleren Alters Zur Motivierung der drastischen Arbeitszeitverkürzung und zur Be- gründung des angeblich notwendi- gen drastischen Leistungsabbaus wurden, wie ich bereits ausführte, Gesundheitsschäden angegeben.

Betrachten wir die Morbiditäts- und Mortalitätsstatistiken der Industrie- länder, so führen mit weitem Ab- stand die Herz- und Gefäßkrank- heiten, gefolgt von den Krebs- krankheiten. Als Beispiel sollen die Verhältnisse in der Bundesrepublik diskutiert werden.

Die koronaren Herzkrankheiten so- wie zerebrale Ereignisse sind die führenden Todesursachen. Aufge- schlüsselt stehen an erster Stelle die degenerativen Herz- und Ge- fäßkrankheiten mit ihren deletären Folgen. Welche Rolle spielen be- ruflicher und sozioökonomischer Streß als markantes Beispiel für leistungsbezogene Gesundheitsstö- rungen in der Ätiologie dieser Krankheiten?

Die Untersuchung der sogenannten Risikofaktoren bzw. -konstellatio-

Arzt und Patient

in der Leistungsgesellschaft

Gotthard Schettler

Fortsetzung und Schluß

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Psychosomatisches Risikoprofil des Infarktgefährdeten

ängstlich immobil

besorgt um Familie selbstunsicher

Furcht vor Mißerfolg im Beruf aggressiv

Zwang zu Körperpflege

kontaktscheu verkrampft

vernachlässigt Gesundheit

sexuell verklemmt

sozial überangepaßt

nen ergibt eine weitgehende Über- einstimmung für die koronaren Herzkrankheiten und für die extra- kraniellen Hirngefäßverschlüsse.

Wir unterscheiden die Risikofakto- ren erster Ordnung, nämlich Ziga- rettenrauchen, arterielle Hyperto- nie und Fettstoffwechselstörungen, von denen der zweiten Ordnung wie Übergewicht, mangelnde kör- perliche Bewegung, Diabetes melli- tus, Gicht und Hyperurikämie so- wie Polyzytämie. Diese Risikofakto- ren spielen, wenn auch in anderer Reihenfolge, die Hauptrolle für Ge- fäßverschlüsse in Extremitäten, Nieren und Eingeweiden. Insbeson- dere unter jüngeren Menschen, die derartigen Krankheiten erlagen, gibt es kaum einen ohne derartige Risikokonstellationen. Nicht selten besteht eine Anhäufung mehrerer Faktoren, die damit zum Risikobün- del werden.

Mögliche Streßfolgen sind unter all diesen Faktoren nur die arte- rielle Hypertonie und das Zigaret- tenrauchen. Vor allem die Fälle mit chronischem Bluthochdruck mittle- ren oder leichten Grades haben schwere Schäden an den Herz- und Hirngefäßen. (Die malignen Hypertonien, die man ganz über- wiegend nicht auf Streßfolgen be- ziehen kann, enden bekanntlich in- nerhalb von ein bis zwei Jahren tödlich.)

In der Tat kann nicht geleugnet werden, daß gewisse Formen der essentiellen Hypertonie durch Streß ungünstig beeinflußt werden.

Wir sind uns aber mit den besten Kennern der Hypertonieprobleme (Page, Pickering, Platt, H. P. Wolff) einig, daß Streß nur eine unter zahlreichen anderen Ursachen ist.

Nach Page spielt er eine sehr un- tergeordnete Rolle. Es ist jeden- falls eine unbewiesene Behaup- tung, der leistungsbedingte Streß stelle die Hauptursache der essen- tiellen Hypertonie mit ihren Folge- krankheiten dar. Auch die Psycho- somatik der Hochdruckkrankheiten kann hier nicht weiterführen. Psy- chologische Faktoren wurden be- kanntlich von Friedman u. a. für die koronaren Herzkrankheiten ange-

schuldigt. Christian, P. Hahn, Nüs- sel, Hehl u. a. haben an unserer Klinik und am Institut zur Erfor- schung des Herzinfarkts, Heidel- berg, ein psychosomatisches Risi- koprofil des Infarktgefährdeten auf- gestellt, das in der obigen Ab- bildung wiedergegeben ist (Abbil- dung).

Es kann nicht geleugnet werden, daß der Leistungsdruck einige die- ser Faktoren hervorrufen oder un- terhalten kann. Es wurden hier Konfliktsituationen aufgezeigt, wel- che durch die Merkmale „kontakt- scheu und verkrampft" einerseits,

„sozial eingestellt oder überange- paßt an die sozialen Normen" an- dererseits gekennzeichnet sind.

Der permanente Konflikt scheint darin zu bestehen, daß die sozialen Normen kontaktreiches, eher ober- flächlich soziales und unverkrampf- tes Verhalten fordern. Das Bedürf- nis der Patienten ist jedoch auf ge- ringe, aber intensive und affektive Kontakte ausgerichtet. Daraus er- geben sich ständige Konflikte mit entstehenden Schuldgefühlen und Ängsten. Diese Ängste äußern sich nach Hehl vor allem in Unsicher- heiten, Aggressionen und einem starren Festhalten an bestimmten Verhaltensabläufen. Hier werden zur Zeit ausgedehnte weitere Un- tersuchungen angestellt, die sich

auch mit der Berufsanamnese be- fassen. Die Ergebnisse sind von Land zu Land und manchmal sogar von Betrieb zu Betrieb sehr unter- schiedlich. Die von der WHO be- gonnene weltweite Studie über die Krankheitsursachen des jugendli- chen Herzinfarktes können weitere Aufschlüsse geben. Richtungwei- send sind Ergebnisse von Kagan und Mitarbeitern. Es wurden Japa- ner im Mutterland, in Hawaii und in Kalifornien untersucht. Die Herzin- farktquote in Japan war ungewöhn- lich niedrig. Probanden vergleich- baren Alters mit ähnlichen Beru- fen und mit vergleichbaren Streß- konditionen erkrankten in Kaliforni- en um ein Mehrfaches häufiger. Ja- paner in Hawaii standen etwa in der Mitte. Sorgfältige katamnesti- sche und anamnestische Erhebun- gen ergaben, daß Ernährungsfehler und Rauchgewohnheiten hier die entscheidende Rolle spielen.

Es geht auch nicht an, das Zigaret- tenrauchen als Folge von Lei- stungswillen und Leistungsdruck zu erklären. Es gibt den ausgespro- chenen Freizeitraucher, der abends und an Wochenenden be- sonders intensiv raucht. Er ist ge- nauso durch Herzinfarkt gefährdet wie der im Beruf zum Kettenrau- cher Gewordene. Es gibt ferner zu denken, daß die Kombination Ziga-

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Arzt und Patient in der Leistungsgesellschaft

rettenrauchen, Fettstoffwechselstö- rungen, Übergewicht und Diabetes eine der ungünstigsten Konstella- tionen darstellt. Penetrantester Ein- zelfaktor ist das Zigarettenrauchen.

Bei Männern unter dem 40. Le- bensjahr fanden wir über 90 Pro- zent schwere Raucher.

Auch bei herzinfarktkranken Frau- en spielt das Rauchen die ent- scheidende Rolle, wenn der Infarkt vor der Menopause auftritt. Mit weitem Abstand folgt bei den Frau- en die Hypertonie. Der biologische Schutz eines normalen Östrogen- spiegels wird demnach durch Ziga- rettenrauchen weitgehend aufge- hoben.

Differenzieren wir alle bekannten Risikofaktoren, so ist die Mehrzahl von ihnen nicht eine Folge des Leistungsdrucks, sondern von Ver- haltensstörungen, wie sie durch die Wohlstandsgesellschaft ge- kennzeichnet sind. Falsche Ernäh- rung ist ein Schlüsselfaktor. Das gilt für die ungemein angestiege- nen Störungen des Fettstoffwech- sels, für Diabetes mellitus, Gicht, Fettsucht und schließlich auch für den Faktor mangelnde körperliche Übung. Unsere präventiven und rehabilitativen Maßnahmen müssen daher diese Verhaltensstörungen und ihre Folgen bekämpfen, wenn sie festgestellt sind. Präventive Maßnahmen kommen zwangsläufig im Alter zu spät. Daraus ergibt sich, daß die Früherkennung wirk- lich in den frühen Lebensphasen, nämlich beim Jugendlichen, begin- nen muß. Daß die Humangenetik auch in der Früherkennung der Herz- und Kreislaufkrankheiten wichtig ist, haben wir am Beispiel der Hypercholesterinämien nach- gewiesen.

Es ist also nicht der Leistungs- druck, sondern es ist die falsche Lebensführung, welche die Herz- und Kreislaufkrankheiten so be- drohlich ansteigen läßt. Die richtig ausgewogene Verteilung von Ar- beit und Erholung, vor allem aber auch die biologisch sinnvolle Ge- staltung der Freizeit sind wichtige Parameter für die Erhaltung der

Gesundheit und die Beseitigung von Störungen. Ein hart arbeiten- der Bauer oder Handwerker ist viel weniger gefährdet als der mit sei- ner Gesundheit wüstende, genuß- und vergnügungssüchtige Groß- stadttyp, der weder körperlich ge- übt noch geistig strapaziert ist.

Natürlich bestehen zwischen Wohl- standsgesellschaft und Leistungs- gesellschaft wechselseitige Bezie- hungen. Wir haben sie unter dem Stichwort Wohlstands- und Kon- sumgesellschaft der Leistungsge- sellschaft gegenübergestellt und ihre Rolle im Wohlfahrtsstaat un- tersucht. Wir haben aber ein Argu- ment, das für die weit überwiegen- de Bedeutung der Verhaltensstö- rungen durch übermäßigen Wohl- stand spricht, nämlich Beobach- tungen in Not- und Hungerzeiten.

In den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren wurden die Men- schen in Europa zu den höchsten Leistungen im wahrsten Sinne des Wortes angetrieben. Streß in sei- nen verschiedenen Erscheinungs- formen war reichlich vorhanden.

Gerade in diesen Jahren gab es praktisch keine Herzinfarkte, keine extrakraniellen Hirngefäßverschlüs- se, kaum Lungenarterienembolien.

Erst mit der sogenannten Wieder- auffütterungsperiode kam es zum sprunghaften Anstieg aller jener Krankheiten und zu einem immer stärkeren Befall jugendlicher Al- tersklassen. Die gleiche Entwick- lung zeigt sich nun wiederum im asiatisch-pazifischen Raum, zum Beispiel in Singapore oder in Neu- seeland. Wir sind darauf an ande- rer Stelle näher eingegangen (Schettler, 1974).

Wie vielschichtig die Probleme sind, zeigt sich auch an der Zunah- me der Leberzirrhose. Sie geht in den meisten Ländern mit einem Anstieg des Alkoholkonsums ein- her. Nun könnte man argumentie- ren, daß der Alkoholismus eben auch eine Folge des Leistungs- drucks sei. Die sozialmedizini- schen Erhebungen in Frankreich, in Schweden, Finnland und in den USA zeigen aber, daß der Alkoho- lismus nicht die hart arbeitenden

Klassen bevorzugt, sondern quer durch die gesamte Bevölkerung geht. Die Vagabundentrunksucht hat ein interessantes Gegenstück im Wohlstandsalkoholismus, der auch bei uns nicht selten ist. Es ist nun ungemein interessant, daß der Alkoholismus auch in den Wohl- fahrtsstaaten stark zunimmt. Er ist überdies nicht auf die Industrielän- der begrenzt, wie das Beispiel Po- len zeigt.

Als Paradebeispiel für Streßfolgen können das Magengeschwürslei- den und die Colitis ulcerosa gelten.

Hier zeigt sich aber, daß der Lei- stungsdruck gegenüber anderen Streßfaktoren eine untergeordnete Rolle spielt, was aus der starken Ulkuszunahme im belagerten Le- ningrad geschlossen werden kann.

Angst, Hunger und Schlafmangel ließen die Zahl der Magenge- schwüre ansteigen.

Auch die Zunahme der Suizide in den Industrieländern kann nicht einseitig dem Leistungsdruck an- gelastet werden, sondern sie ist außerordentlich verschieden be- gründet. Das gilt auch für die ra- sche Zunahme der tödlichen Unfäl- le und speziell der Verkehrsunfälle, die nach der Statistik bei jungen und Menschen mittleren Alters ra- scher zugenommen haben als alle anderen Todesursachen.

Sind also in jenen Altersklassen, die dem Leistungsdruck am augen- fälligsten ausgesetzt sind, ver- gleichsweise wenige Faktoren zu finden, die zu Dauerschäden füh-

ren, so muß noch geprüft werden, welche Stellung der alte Mensch in der Leistungsgesellschaft hat.

C) Der alte Mensch

in der Leistungsgesellschaft Zuvor sind einige Bemerkungen

über die Stellung der Alten in der Gesellschaft angezeigt.

Wenn man die Wohlstands- oder auch die Konsumgesellschaft der Leistungsgesellschaft entgegen- stellt, so ist zu bedenken, daß Lei-

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stungs- und Konsumgesellschaft einander wechselseitig bedingen.

Als drittes Charakteristikum stellt sich nach Rosenmayr die wohl- fah rtliche Versorg ungsstaatlichkeit ein. Dadurch wird die Leistungs- orientiertheit geradezu unterminiert.

Krisenhaft kann sich das äußern im Ruhestand und im Pensionierungs- alter. Die den aktiven Berufsprozeß verlassenden Alten scheiden aus der Leistungsgesellschaft aus, ha- ben aber die gleichen Ansprüche an die Konsumgesellschaft. Das bedeutet, daß sie nunmehr als aus- schließlich Nehmende erscheinen müssen. Sie werden auch vom Staat als solche definiert. Wenn sich der Staat des Leistungsvermö- gens und des Leistungswillens äl- terer Mitbürger nicht versichert, wenn das Pensionsalter als reiner Ruhestand verstanden wird, wenn dieses Pensionsalter aus einer falsch verstandenen Ökonomie der Kräfte immer weiter vorverlegt wird, so muß dies verheerende Fol- gen für die Gesellschaft haben. Es ist ganz unsinnig, die Frühpensio- nierung zwischen 50. und 55. Le- bensjahr zu fordern, um dadurch freie Arbeitsplätze zu schaffen. Die Aufgabe allein des Prinzips der Er- fahrung bedeutet erhebliche Verlu- ste. Unsinnig ist es auch, die 35- Stunden-Woche im Sinne der Pro- tektion der Arbeitenden zu fordern.

Wenn man das Ganze medizinisch zu begründen versucht, indem die moderne Leistungsgesellschaft den Menschen so verschleißt, daß er nur mehr in der Lage sei, die 35- Stunden-Woche zu leisten, so fehlt hierfür jeder wissenschaftliche Be- weis. Ich habe den Verdacht, daß hier gesellschaftspolitische Maxi- men, wie sie von manchen Funktio- nären vorgetragen wurden, das führende Motiv sind.

Geradezu lebensgefährlich für ei- nen Staat wird die Verquickung der Leistungsunwilligkeit, sichtbar in der 30- bis 35-Stunden-Woche, mit gleichbleibendem oder ansteigen- dem Konsumbegehren und immer stärkerer Zunahme der wohlfahrtli- chen Versorgung durch den Staat.

Dadurch müssen sich Konflikte auch für den alternden Menschen

ergeben, der nach wie vor am Wohlstand, am Konsum teilnehmen will, ohne noch selbst in der Lage zu sein, entsprechende Leistungen als Äquivalent zu erbringen. Er lebt dann sozusagen vom eigenen Ka- pital. Ob sich aber die Zinsen bei zunehmender Inflation auch auf diesem Sektor tragen?

Es ist keineswegs so, daß mit dem Altern die Leistungsfähigkeit prin- zipiell abnimmt. Die Tests amerika- nischer Autoren Jones, Miles und Mitarbeiter könnten einen Rück- gang der Intelligenz von der Mitte des vierten Lebensjahrzehnts an vermuten lassen. Man sprach von einem Defizitmodell des Alterns und von der Adoleszenz-Maximum- Hypothese. Daraus folgten negative Aussagen über das Altern über- haupt. Es gibt aber gewichtige Ar- gumente gegen derartige Aussa- gen. Zwar steht fest, daß im Alter die geistige Wendigkeit, vor allem aber die Orientierung in neuen un- gewohnten Situationen abnimmt, dafür wächst mit dem Alter die so- genannte kristallisierte Intelligenz, die sich im Allgemein- und Erfah- rungswissen, im Wortschatz und im Sprachverständnis äußert.

Rosenmayr führt zu diesem außer- ordentlich wichtigen Problem an, daß die Retardierung der Reak- tionszeiten im Alltag recht störend werden kann, zumal Rekreations- und Regenerationsfähigkeit ver- langsamt sind. Dieses Phänomen kann aber nicht allein organische, sondern auch soziologische und sozialpsychiatrische Ursachen ha- ben. Wenn man von einem geteste- ten älteren Menschen geradezu verlangt, daß er Abnutzungser- scheinungen gegenüber dem Jün- geren aufweise, so muß die unter- schiedliche Ausbildung der ver- schiedenen Generationen berück- sichtigt werden.

Nach Ursula Lehr ist die Altersva- riable nur eine unter vielen ande- ren Determinanten der geistigen Leistungsfähigkeit im hohen Alter.

Faktoren wie soziale Herkunft, bis- herige Schulbildung, spezieller Beruf und Ausgangsbegabung

spielen eine weitaus größere Rolle für den Lernerfolg im Erwachse- nenalter als sogenannte biologisch bedingte und ein für allemal fest- stehenden Altersbesonderheiten.

Aus Ergebnissen von Feldstudien kann man folgern, daß der ältere Mensch von sich aus schon Ar- beitsbereiche auswählte und ande- re verlassen hat, um sich besser anpassen zu können. Je intelligen- ter er ist, um so bessere Kompen- sationsmöglichkeiten hat er. Die Umwelt muß ihn hierbei unterstüt- zen. Dies ist auch eine enorme ärztliche Aufgabe. Es ist interes- sant, daß die älteren Arbeiter in je- nen Wirtschaftszweigen überreprä- sentiert sind, die eine rückläufige Tendenz aufweisen. Dies ist in der heutigen Zeit besonders zu beob- achten. Der Wechsel des Arbeits- platzes wird vom Älteren weniger angestrebt und oft auch weniger erreicht.

Nach französischen Untersuchun- gen (J. Daric) setzt der Leistungs- abfall um so später ein, je höher die berufliche Qualifikation ist. So erreichen mittlere und höhere An- gestellte zwischen dem 50. und 60.

Lebensjahr ein Leistungsmaximum.

Die Qualität der Arbeit, die Verläß- lichkeit und Gewissenhaftigkeit sind im Durchschnitt besser als beim Jugendlichen. Auch nimmt die Unfallhäufigkeit vom 50. Le- bensjahr deutlich ab. Andererseits können ältere Menschen Rationali- sierungsmaßnahmen, Umstellun- gen des Arbeitsrhythmus und der Arbeitsweise erfahrungsgemäß we- niger ertragen. Es kann dann zu Konfliktsituationen kommen. In die- sen Situationen sucht der Betroffe- ne selten seinen Arzt auf. Hier gilt es nun, Vorsorge- oder auch Heil- maßnahmen einzuleiten. Unser So- zialversicherungssystem garantiert jedem Bedürftigen eine entspre- chende Versorgung. Heilfürsorge und Kuren müssen aber im Einzel- fall sorgfältig abgewogen werden und auch entsprechend motiviert sein. Die Kosten für Kurmaßnah- men und für die Durchführung ei- nes Heilverfahrens zahlen sich dann aus, wenn der Betroffene in die Lage versetzt wird, seinen Be-

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Arzt und Patient in der Leistungsgesellschaft

ruf weiter auszuüben und der dro- henden Frühinvalidität und Pensio- nierung zu entrinnen. Es wird also auch eine Aufgabe der Kurärzte sein, die Leistungsfähigkeit auszu- testen.

Viele Menschen an der Grenze des Pensionsalters oder des Invalid isierungsalters versuchen, rasch noch in den Genuß eines Heilverfahrens zu geraten und dann in den Status des Dauerpa- tienten zu gelangen. Dies ist ein ty- pischer Zug des Wohlfahrtsstaates, wo der einzelne versucht, die Ein- richtungen dieses Staates so lange wie möglich auszubeuten. Wenn schon der Staat die Inflation nicht verhindert, wenn er schon nicht da- für sorgt, daß die nachlassende Leistungsfähigkeit durch erhöhten Konsum ausgeglichen wird, dann soll er entsprechend büßen. Der einzelne nimmt gleichsam Rache am Staat. Rosenmayr spricht von einer Ausbeutungstendenz, der sich der Wohlfahrtsbürger ausge- setzt glaubt. Wenn er nun schon durch die Wohlfahrtsgesellschaft zu Inaktivität und Aktivitätsdrosse- lung verdammt werde, so soll die Gesellschaft auch kräftig dafür zahlen.

Der alte Mensch muß vor solcher Denkweise bewahrt bleiben. Dazu können auch wir Ärzte beitragen, wenn wir ihm zeigen, welche Mög- lichkeiten er noch hat, wenn wir ihm helfen, sie zu nutzen. Wir sind hierbei auch auf die Familie und auf den Betrieb angewiesen. Wich- tige Hilfen können wir in der sinn- vollen Gestaltung der Freizeit ge- ben, die der alte Mensch bzw. der Ruheständler zwangsläufig hat.

Nachbarschafts- und Freundeshil- fe, Altenklubs und -zirkel können sehr nützlich sein. Auch in der Freizeitgestaltung soll der Mensch positiv motiviert sein.

Aufgaben für die Ärzte

Was können wir Ärzte beitragen, um den Menschen in dieser Lei- stungsgesellschaft zu helfen? Wie können wir unsere eigenen Lei- stungen wirksamer machen? Was

können wir dazu beitragen, um un- sere Arbeit rationeller zu machen?

Müssen wir der Kostenexplosion auch der Medizin wehrlos gegen- überstehen? Ich glaube nicht.

Es ist selbstverständlich, daß jeder Patient möglichst optimal zu ver- sorgen ist, in der Diagnose und in der Therapie. Das gilt für alle Al- tersklassen, das gilt für Vorsorge und Früherkennung wie für Nach- sorge und Rehabilitation. Man wird sich aber auf allen Sektoren bemü- hen müssen, die Diagnose zu ratio- nalisieren. Das ist nicht primär eine Sache des Computers, son- dern gezielter und einfacher Maß- nahmen. An der Spitze steht die sorgfältige Anamnese. Sie führt in mindestens der Hälfte aller Fälle auf den richtigen Weg und erspart viele sogenannte Suchtests. Auf- wendige diagnostische Maßnah- men, zum Beispiel mit Radionukli- den, mit Röntgen- oder Laborme- thoden sind gelegentlich notwen- dig, aber auch sie sind rationell einzusetzen. Es scheint mir, daß die Zahl diagnostischer Maßnah- men im Einzelfall umgekehrt pro- portional sein kann dem Leistungs- vermögen und der diagnostischen Treffsicherheit des Arztes. Das gilt auch für die Therapie. Wer sich seiner Diagnose sicher ist, wird auch rasch und zielstrebig behan- deln können. Die Schrotschußdia- gnostik führt nicht selten zur thera- peutischen Polypragmasie. Auch die Ex-juvantibus-Therapie will ein- fach gehandhabt und gekonnt

praktiziert werden.

Nun hat der Arzt gelegentlich sei- nem Patienten gegenüber einen schweren Stand. Er kommt, als flei- ßiger Zeitungs- und Illustriertenle- ser, als Fernsehkonsument mit ganz bestimmten Vorstellungen und Forderungen zu seinem Arzt, auch was Art und Kosten der Medi- kamente betrifft. Er pocht auf sein Recht. nicht nur wirksame, sondern vor allen Dingen auch teure Medi- kamente zu erhalten, und er pocht darauf, daß er mehrere Medika- mente gleichzeitig bekommt.

Die Polypragmasie in der Verord- nungsweise ist eine Crux unserer

modernen Medizin. Fragt man nach ihren Ursachen, so liegen sie in der Symptomabhängigkeit man- cher Mediziner. Für jedes Symptom wird ein bestimmtes Mittel gesucht und angewandt. Wenn man dann die früher selbst oder durch einen anderen Kollegen verordneten Me- dikamente abzusetzen vergißt, so entsteht dann eine lange Latte von Medikamenten. Diese Kumulation ist nicht nur in vielen Fällen wider- sinnig, für den Patienten gefähr- lich, sondern sehr häufig vollkom- men unnötig. Zudem widerspricht sie jeder wirtschaftlichen Verord- nungsweise.

Ich bin sicher, daß Millionen in un- seren Krankenhäusern eingespart werden könnten, wenn Mißbräuche der Arzneimitteltherapie abgestellt würden. Wie kann das erreicht werden? Durch eine mehr pragma- tisch bestimmte Ausbildung der Ärzte, durch gezielte Forbildungs- maßnahmen, insbesondere auf dem Gebiete der Pharmakothe- rapie unter Beachtung der klini- schen Pharmakologie. Der junge Arzt muß wissen, was er verordnet, welche Wirkstoffe in den verschie- denen Kombinationspräparaten enthalten sind, welche Wirkungen das Pharmakon im einzelnen und in der Kombination hat. Der Arzt muß bei seiner Verordnung auch davon ausgehen, daß der natürli- chen Aufnahmebereitschaft des Patienten Grenzen gesetzt sind.

Wenn die unsinnige Verordnung von Dutzenden von Pillen pro Tag dem Patienten zu bunt wird, so läßt er die meisten oder gar alle Medi- kamente in der Nachttischschubla- de oder an einem noch sichereren Ort verschwinden.

Erhebungen an unserer Klinik ha- ben gezeigt, wie sehr mit dem Un- sicherheitsfaktor der Medikamen- teneinnahme gerechnet werden muß, selbst wenn es sich um harm- lose, gut tolerable Mittel handelt.

So nehmen unter 206 Patienten un- serer Klinik nur 36 Prozent ihre gut verträglichen Medikamente regel- mäßig ein. 64 Prozent nehmen sie sporadisch, 40 Prozent waren so unzuverlässig, daß der Erfolg vieler

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Therapien nicht gewährleistet ist (Weber und Gundert). Stellen sich zudem noch Unverträglichkeitser- scheinungen ein, so besteht die Gefahr, daß der Patient gleich alle verordneten, auch die lebensnot- wendigen Medikamente wegläßt.

Da nun viele schwerkranke Patien- ten einer Mehrfachtherapie bedür- fen, muß sich der Arzt über die Di- gnität seiner Maßnahmen im Ein- zelfall klarwerden. Der Praktiker ist in aller Regel zu wirtschaftlicher Verordnungsweise gezwungen. Er muß sonst mit Regressen rechnen, und zum anderen ist er für seine Therapie auch ganz allein verant- wortlich. Eine gezielte Therapie muß zum Beispiel auf dem Gebiete der Antibiotika, auch bei der An- wendung von Tranquilizern, von Antidepressiva und von Schlafmit- teln angestrebt werden. Nicht im- mer ist das teuerste Medikament auch das beste. Der alte Grund- satz, daß man mit einem relativ sparsamen Arzneimittelschatz aus- kommen soll, wird auch der wirt- schaftlichen Verordnungsweise zu- gute kommen. Diese Wirtschaftlich- keit ist aber ein Gebot der Stunde, wenn man die unwahrscheinliche Kostenexplosion betrachtet, die in den letzten Jahren stattgefunden hat und sich weiter fortsetzt.

Wir Ärzte haben die Pflicht, hier und jetzt die Situation zu überdenken.

Tun wir das nicht, so wird unser Staat, wird jeder einzelne Bürger Probleme bekommen, mit denen wir wahrscheinlich nicht fertig wer- den.

Dabei spielen die Kosten für die Medikamente im Etat der Kranken- häuser nur eine relativ bescheide- ne Rolle. Die Diagnostik ist zwar teurer geworden, kann aber leicht rationalisiert werden. Bedrohlich ist der Kostendruck auf dem Per- sonalsektor. Wo früher eine Or- dens- oder Diakonieschwester von den frühen Morgenstunden bis in die späte Nacht mit wenigen Hilfs- kräften die Station hervorragend versorgte, wo der Nachtdienst per- sonell relativ bescheiden besetzt war, sind heute in den großen und

mittleren Krankenhäusern, ganz zu schweigen von den Universitätskli- niken, personell sehr aufwendige Schichtdienste eingesetzt. Das gilt nicht nur für die Spezial- und In- tensivstationen, sondern in aller Regel für alle Krankenstationen. Es ist leicht einzusehen, was dies bei den sehr hohen Lohnaufwendun- gen bedeutet. Das ist nicht zu än- dern.

Wie man es aber damit vereinba- ren kann, in den Pflegebereichen die 40-Stunden-Woche einzuführen, ist mir unverständlich. In ausge- dehnten Diskussionen mit dem Pflegepersonal, aber auch mit Ärz- ten, habe ich festgestellt, daß die Forderungen nach der 40-Stunden- Woche nicht von dieser Seite aus- gegangen sind. Jene Kreise, die lautstark eine immer stärkere Ver- kürzung der Arbeitszeit, auch auf dem ärztlichen und Pflegesektor fordern, welche im Extrem die 35- Stunden-Woche propagieren, sind m. E. in stärkstem Maße für die be- stehende und noch zu erwartende Kostenexplosion verantwortlich zu machen.

Aber wer trägt heute schon Verant- wortung auf diesem Sektor? Ver- antwortung im Kollektiv nützt uns gar nichts. Man muß hier wirklich einmal in aller Deutlichkeit klarma- chen, wer an diesen Entwicklungen schuldig ist. Wenn man nun ver- sucht, auch die ärztlichen Dienste absolut zu reglementieren, etwa im Sinne der teilweisen oder totalen Sozialisierung, dann muß man sich darüber klarwerden, daß dies ei- ne Verdreifachung der ärztlichen Dienste, eben in dem erwähnten Schichtdienst, bedeutet. Von der für die Patienten der Bundesrepu- blik geforderten optimalen ärztli- chen Betreuung kann dann keine Rede mehr sein. Ich weise auch auf die geradezu ungeheuerlichen Kosten für die Verwaltung und die Krankenhausbürokratie hin, ohne die eine sozialisierte Medizin nicht auskommt. Konsequent durchge- dacht, wird diese Sozialisierung ja nicht beim Krankenhaus haltma- chen, sondern es ist ein erklärtes Ziel der Systemveränderer, zum

Beispiel nominierter Repräsentan- ten in gesundheitspolitischen Aus- schüssen einer großen Partei, die Freiheit des ärztlichen Berufsstan- des und der ärztlichen Tätigkeit zu- gunsten sozialistischer Reglemen- tierungen aufzuheben. Lesen Sie bitte die gesundheitspolitischen Vorstellungen des Führers der saarländischen Opposition, dann wissen Sie, welche Entwicklung von dieser Seite angestrebt wird.

Sie wird gottlob von nahezu allen Ärzten der unterschiedlichsten po- litischen Coleur abgelehnt, und wir können nicht dankbar genug sein, daß von seiten der verant- wortlichen Gesundheitsbehörden auf Bundes- und Länderebene im- mer wieder bestätigt worden ist, daß derartige Absichten offiziell nicht bestehen.

Wenn man uns also von außen her oktroyiert, daß wir bei vollen Lohnkosten nur noch 40 oder weni- ger Stunden zu arbeiten brauchen, so bedeutet dies volkswirtschaft- lich einen Verlust von Millionen, da die Dienstleistungen im Kranken- haus ja nicht weniger werden. Ich sehe nur eine Chance, das drohen- de Unheil abzuwenden, nämlich jene, daß ein jeder im Kranken- hausbereich wie in der gesamten ärztlichen Versorgung wieder ge- willt ist, mehr zu arbeiten, ohne auf finanzielle Abgeltung zu drängen.

Auch hier ist viel gesündigt wor- den, zum Beispiel in der Abrech- nung von geleisteten oder fiktiven Überstunden. Wir stehen hier vor der Notwendigkeit, uns zu stärke- ren individuellen Leistungen zu be- kennen, dabei von den finanziellen Möglichkeiten unserer Gemein- schaft auszugehen und unsere Be- reitschaft zu erklären, die Caritas wieder in den Mittelpunkt unserer Tätigkeit zu stellen. Die Heilberufe mit ihrem hohen Anspruch auf ethi- sche Motive könnten hier für die ganze Gesellschaft Beispiele set- zen. Wenn die Öffentlichkeit ge- wahr wird, daß die wirtschaftliche Denkweise in unseren Bereichen von individuellem Einsatzwillen und persönlicher Opferbereitschaft ent-

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen THEMEN DER ZEIT

Dozent Dr. Alexander Schuller ver- kündete provokativ: „Mein Beitrag wird zwei Teile umfassen, einen kognitiven Schub von etwa einer Stunde — also sehr viel mehr, als nach den gestern diskutierten Grenzen Ihrer Auffassungs- und Aufnahmefähigkeit möglich ist! Da- nach kommt ein gruppendynami- scher Schub." Hierzu bat er, Sech- sergruppen zu bilden, „damit Sie also jetzt schon während des Vor- trags als Gruppe versuchen, die Probleme, die Sie sehen, oder die Fragestellungen, die ich Ihnen auch vorschlagen werde, zu rezi- pieren und nicht als Individuen, sondern daß wir gleich sozusagen ein Gruppenlernen hier ausprobie- ren können."

„Warum hört hier keiner zu?"

Schuller interpretierte sein Thema als „gruppendynamische Aspekte von Leiterverhalten", referierte „im ganz konventionellen, frontalen Stil", legte damit einen „Diskussi- ons- und Kritikpunkt" im „Auswer- tungsinstrument der Sechsergrup- pe" vor.

Seine These: Der Umgang mit Gruppen wird nicht sui generis ver-

erbt, sondern ist erlernbar. Er be- zog sich auf Primär- und Arbeits- gruppen und versuchte, für die Ar- beits- und Beziehungsproblematik des Gruppenleiters Verständnis zu wecken:

„Sie haben das alle schon erlebt, daß es gute und schlechte Arbeits- atmosphären gibt. Wir haben das ja auch hier erlebt, glaube ich. Ich habe das jedenfalls so empfunden.

Und ich glaube, daß Sie sich alle schon einmal gefragt haben als Gruppenleiter, aber eben auch als Gruppenteilnehmer: Wie kommt das eigentlich zustande? Warum ist das so mies hier? Warum hört hier keiner zu? Warum reden alle durcheinander? Warum sind da so Aversionen gegen den Gruppenlei- ter? Warum sind wir hierher ge- kommen mit Interesse, und nach zehn Minuten haben wir keines mehr? Was ist da eigentlich?"

Dies habe sicher etwas mit dem Verhalten des Gruppenleiters zu tun, aber auch mit den Teilneh- mern, mit „umgekehrten Erwartun- gen", wie das am Vortage bereits als „Diskrepanzen zwischen den Erwartungen" auch sehr gut formu- liert worden sei.

scheidend erweitert wird, so wird sie hinter uns stehen.

Ich habe aufgezeigt, welche Aufga- ben und welche Möglichkeiten wir Ärzte in der heutigen Gesellschaft haben. Alle unsere Leistungen wer- den dann nachhaltige Erfolge brin- gen, wenn wir um eine Erziehung zur Gesundheit bemüht bleiben. So will die präventive Medizin verstan- den sein, so müssen die kurative und die Rehabilitationsmedizin ausgeübt werden. Es ist in den letzten Jahren viel vom Aufbau ei- ner neuen Gesellschaft gespro- chen worden. Er kann auf dem Ge- biet der Medizin mit einfachen Mit- teln durchgeführt werden, wenn wir nur wollen. Vergessen wir nicht, der Katalog der Indikatoren der Le- bensqualität wird von Gesundheit und Wohlbefinden angeführt. Wir wollen nicht den Wohlstand ab- schaffen, wir müssen nur mit ihm leben lernen!

Wenn ich früher einmal das einfa- che Leben als beste Gesundheits- vorsorge bezeichnet habe, so ist es heute recht fraglich geworden, ob dieses einfache Leben überhaupt noch möglich ist. Kann unsere Be- völkerung zu einem ausgewogenen Lebensrhythmus, der Arbeit und Erholung sinnvoll einschließt, über- haupt noch angeregt werden? Hier scheinen mir unsere Hauptaufga-

ben zu liegen. Sie jedem einzelnen bewußter zu machen und ihn zu überzeugen, daß es nicht nur ein Recht auf Gesundheit, sondern auch eine Pflicht zur Gesundheit gibt, muß unser aller Anliegen sein.

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med.

Dr. med. h. c.

Gotthard Schettler Direktor der

Medizinischen Universitätsklinik (Ludolf-Krehl-Klinik)

69 Heidelberg Bergheimer Straße 58

Kein Konzept aus der Retorte

Symposium der Kaiserin-Friedrich-Stiftung für das ärztliche Fortbildungswesen

Fortsetzung und Schluß

Am 14. und 15. Februar 1975 veranstaltete die Kaiserin-Friedrich- Stiftung für das ärztliche Fortbildungswesen in der Westberliner Kongreßhalle ein „Symposium über neue Verfahren für die ärztliche Fortbildung". Über dessen ersten Tag ist in Heft 16/1975 vom 17.

April, Seite 1133 ff. berichtet worden. Nachstehend wird zusammen- fassend über Vorträge und Diskussionen des zweiten Tages refe- riert.

Referenzen

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