• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Patient und Arzt im sozialen Wandel" (07.06.1979)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Patient und Arzt im sozialen Wandel" (07.06.1979)"

Copied!
7
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Patient und Arzt

im sozialen Wandel

Festvortrag bei der Eröffnungsveranstaltung des 82. Deutschen Ärztetages am 15. Mai 1979

Dr. med. Hans Wolf Muschallik,

Erster Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung

Zeige mir, mit wem Du umgehst, und ich sage Dir, wer Du bist. Die- sen Ausspruch möchte ich zum Thema "Patient und Arzt im sozia- len Wandel" provokativ auf die Gesellschaft übertragen. Zeige mir, wie Du Deine soziale Verant- wortung wahrnimmst, und ich sa- ge Dir, wie stabil der Staat ist, in dem Du lebst.

Daß unsere Bundesrepublik - auch wenn sich itire pluralistische Gesellschaft und ihre parlamenta- rische Demokratie zur Zeit in einer schwierigen Wirtschafts-, sozial- und bildungspolitischen Phase be- findet - von mir als Beispiel für eines der entwickeltsten und sta- bilsten Staatswesen genannt wird, hat wenig Kritik zu erwarten. Dabei ist Stabilität natürlich nur gegenwartsbezogen und zu- kunftsformend zu verstehen; denn wir leben im Strom der Geschich- te, panta rhei - und nichts ist be- ständiger als der Wandel; und wie definiert das die Philosophie: Der Begriff "Wandel" lebt aus dem Ge- gensatz zum Beharrenden, aus der Antinomie zum Unwandelbaren.

Denn: Das Sein wandelt Erschei- nungsform und Wesen; aber es bleibt das Sein, das sich wandelt, und als solches, als Sein, bleibt es unwandelbar. Und damit ergibt sich auch die Aufgabe, das Un- wandelbare durch Wandel zu be- wahren.

Bei der Definition der sozialen Verantwortung wird ein allgemei-

ner Konsens schon schwieriger zu finden sein:

..,.. Ist die soziale Verantwortung im Sinne dogmatisch-kollektiv gläubiger Sozialisten eine allum- fassende dirigistische Staatsver- sorgung, die. dem arbeitenden Menschen Jetztendlich nur ein Ta- schengeld frei verfügbar beläßt?

..,.. Oder sind freiheitliche Existenz und Verfassung als bestimmende und tragende Werte des menschli- chen Zusammenlebens nicht auch bei der sozialen Verantwortung der sinnvolle und notwendige Rahmen?

Ich meine, um meine Grundposi- tion gleich zu Beginn klarzustel- len, daß unser freiheitlicher Staat und in ihm unsere pluralistische Gesellschaft als die ihn tragenden Säulen sich auch und gerade bei dem gegenwärtig als unsicher empfundenen Zustand des Netzes sozialer Sicherung dann als das stabilste und leistungsfähigste Sy- stem erweisen und behaupten

wird, wenn dessen Strukturprinzip

in allen Bereichen die grundsätzli- che Verantwortung des Individu- ums, des Bürgers, vor die des Staates stellt. Keine Gesellschaft kann auf die Bereitschaft ihrer Bürger zu Verantwortung und zu Leistung verzichten.

ln unserer weltanschaulich, ge- sellschaftlich und politisch plurali- stischen modernen Lebensweit muß ein Grundkonsens über Iei-

tende Grundwerte und ein Min- destmaß an Gemeinsamkeit der Überzeugungen und Verhaltens- weisen hergestellt und im Be- wußtsein der Menschen ständig neu verankert werden.

Nur so kann nach meiner Überzeu- gung ein gedeihliches Zusammen- leben der Bürger in einer freiheitli-

chen, rechtsstaatliehen und sozia-

len Demokratie gesichert er- scheinen.

Personale Verantwortung auch bei Gesundheit und Krankheit Auf Patient und Arzt bezogen, heißt dies vereinfacht, daß Ge- sundheit und Krankheit nicht nur die Mitwirkung des Menschen er- fordern, sondern auch die primäre Erkenntnis und die Bejahung sei- ner personalen Verantwortung.

Es heißt, daß eine kritische Über- prüfung des Anteils notwendig er- scheint, welchen der einzelne von den Risiken des Lebens nicht selbst tragen kann, also eine Über- prüfung des Umfangs der Solidar- haftung.

Bei einer solchen Positionsbe- stimmung gehe ich davon aus, daß die Medizin der Zukunft, mehr und mehr unter dem Zwang zur Koor- dination und . Kooperation ste- hend, nicht durch eine fortschrei- tende Subspezialisierung und ein damit produziertes Kostenüberge- wicht zu einer noch teureren Staatsmedizin führen wird.

Es gibt heute zahlreiche ärztliche Berufssparten mit sehr unter- schiedlichen Hauptbegabungs- richtungen, und es wird zuneh- mend auch den Gesundheitstech- nologen geben müssen, ebenso wie der Arztfunktionär wohl auch weiterhin erforderlich sein wird. Ich bin aber vor allem davon über- zeugt, daß es zukünftig vermehrt den qualitativ hochstehenden All- gemeinarzt geben muß und daß parallel dazu durch Aktivierung des ökonomisch und gesundheit- lich richtigen Verhaltens aller Bür-

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 23 vom 7. Juni 1979 1565

(2)

ger eine Alternative geschaffen wird, damit eine immer höher spe- zialisierte Medizin für die Men- schen, welche ihrer Hilfe bedür- fen, sowohl seelisch annehmbar als auch finanzierbar bleibt.

~ Nur so wird nach meiner Über- zeugung ein stabiles Gesundheits- wesen zu schaffen sein, welches auf dem Fundament des persönli- chen Arztes gleichermaßen die physischen und psychischen me- dizinischen Bedürfnisse der Men- schen im Interesse eines gleich- mäßigen und dauerhaften gesund- heitlichen Wohlstandes befriedigt.

~ Nur so wird sich unter Aufwen- dung überschaubarer sozialer Mit- tel für diejenigen, deren eigene Kraft nicht ausreicht oder welche schicksalsbedingt der Hilfe der Solidargemeinschaft bedürfen, ein humaner Einsatz der modernen, sich schnell weiterentwickelnden medizinischen Erkenntnisse und Möglichkeiten in einem freiheitli- chen Gesundheitswesen sinnvoll durchführen lassen.

~ Nur so werden die schon in den nächsten Jahren zu erwartenden revolutionären Aussagen der me- dizinischen Wissenschaft - bei- spielsweise im Bereich der Mole- kularbiologie, der Immunologie und der Gen-Manipulation - mit dem Begriff der Freiheit des Men- schen zu harmonisieren sein. Die Freiheit der individuellen Lebens- führung und der persönlichen Le- bensgestaltung in gesunden wie in kranken Tagen ist ein wichtiger Teil der im Menschen verbliebe- nen Freiheit. Und wie jede Teilfrei- heit kann sie nur bestehen in frei- williger Selbstbegrenzung. Jede schrankenlos ausgenutzte Freiheit - auch in der Krankenversiche- rung -vernichtet sich selbst.

Gegen die Entmündigung des Bürgers durch

eine verordnete Betreuung

~ Ich bekenne mich zur Mündig- keit des Bürgers. Seine Freiheit und seine soziale Sicherheit sind

durch das Gesetz zu schützen.

Aber ich wende mich gegen seine Entmündigung durch eine staat- lich verordnete Betreuung von der Wiege zur Bahre.

Nicht der Irrglaube von der Orga- nisierbarkeit menschlicher Bezie- hungen durch technische Super- bürokratien und austauschbare Datenstrukturen eines gläsernen Individuums ist eine Alternative für die Gesundheit einer freien Menschheit im kommenden Jahr- zehnt. Ein modernes Gesundheits- wesen in ein angemessenes Ver- hältnis zur Bewahrung von Huma- nität und allgemeiner Freiheit zu setzen, dies ist, so meine ich, eine, ja dies ist vielleicht die wichtigste Aufgabe in der heutigen Zeit.

Bleiben wird immer das Verlangen des Menschen nach individuellem persönlichen Schutz und das Ver- langen nach Hilfe durch den frei gewählten Arzt in persönlicher Not. Dazu scheint mir allein ein System ambulanter Gesundheits- beratung und Krankenversorgung, das den persönlichen Arzt und das frei gewählte, auch gegen Daten- austausch geschützte individuelle Patient/ Arzt-Verhältnis als das Wesen der eigentlichen Medizin betrachtet, der einzig richtige Weg zu sein.

Dennoch, es kann nicht meine Aufgabe sein, bereits fertige Ant- worten und konkrete Problemlö- sungsmodelle vorzustellen. Das Forum des Deutschen Ärztetages wird dieser immer neuen histori- schen und aktuellen Verpflichtung

nachkommen und Antworten auf anstehende gesundheits- und so- zialpolitische Fragen zu finden ha- ben und dabei auch über die Rolle und das Verhältnis von Patient und Arzt im Spiegel des sozialen Wandels nachdenken müssen.

Dabei wird allerdings- und dieser Hinweis sei mir erlaubt- den Ver- waltern wie stets nur die Vergan- genheit gehören; die Zukunft wird mit denen sein, die verantwortete Antworten geben.

1566 Heft 23 vom 7. Juni 1979 DEUTSCHES ARZTEBLATT

Nach meinem Verständnis kommt dabei der Praxis der Medizin und ihrer weiteren Entwicklung sowie den Organisationsstrukturen un- seres Gesundheitswesens eine große Bedeutung zu. Die Grundla- gen dieser Praxis bilden ja die Leitvorstellungen unserer ärztli- chen Berufsethik und die Prinzi- pien unserer freiheitlichen sozia- len Ordnung. Von ihnen her hat sich unser heutiges Gesundheits- system entwickelt, und auf ih- rer Basis muß es weitergeführt werden.

Natürlich ist es in einem Festvor- trag bei der Kompliziertheit der Probleme nicht möglich, die vielen interessanten Aspekte einzeln sy- stematisch anzusprechen, und ich bitte, es mir nachzusehen, daß ich auch weiterhin etwas essayistisch vorgehe und Einfällen folge.

Zunächst sollten wir nicht glau-

ben, daß die aufgezeigten Kursan-

gaben des sozialen Wandels und der anvisierten Position von Arzt und Patient unerreichbare, weil zu hehre Ziele wären: "Wir haben die moderne, klassenlose Gesell- schaft verwirklicht." Mit diesen Worten proklamierte Ludwig Er- hard 1965 die formierte Gesell- schaft, eine Gesellschaft, die

"nicht mehr aus Klassen und Gruppen besteht, die einander ausschließende Ziele durchsetzen wollen", sondern eine Gesell- schaft, die, "fernab aller stände- staatlichen Vorstellungen, ihrem Wesen nach kooperativ ist" und die "auf dem Zusammenwirken al-

ler Gruppen und Interessen be- ruht".

Zehn Jahre später, im Jahr 1974, entwarf die Bundesregierung das

"Leitbild" des "gewandelten Bür- gertypus": "Der gewandelte Bür- gertypus, der seine Freiheit auch im Geflecht der sozialen und wirt- schaftlichen Abhängigkeit be- haupten und kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantwor- ten will - das ist das Leitbild des mündigen Bürgers unserer Tage. Wo der ,vitale Bürgergeist' zuhau- se ist, wo verantwortungsbewußte

(3)

Sitzungen anläßlich des Ärztetages; oben: Vorstand der Arzneimittelkommission mit (v. r. n. I.) Prof. Henschler, Dölle, Kreienberg, Überla; stehend AMK-Geschäfts- führer Dr. Kimbel. Mitte: Jury für den Fortbildungsfilmpreis der Bundesärztekam- mer mit (v. r. n. I.) Prof. Vogel, Dres. Müller-Plettenberg, Loch, Gastinger und Ausschuß-Geschäftsführerin Renate Schiffbauer. — Hinter der Kulisse: Im Kongreß- büro werden die Tagungsmappen zusammengestellt

und verantwortungsbereite Men- schen demokratisch am Leben und an der Gestaltung der örtli- chen Gemeinschaft mitwirken, da haben extreme und antidemokrati- sche Kräfte keine Chance."

Angesichts der tiefgreifenden Wandlungen und Fortschritte im Verlauf vor allem der sozial- und gesundheitspolitischen Entwick- lung der letzten hundert Jahre er- scheinen diese optimistischen Be- urteilungen durchaus gerechtfer- tigt. Denken wir nur an Verbesse- rungen wie den Schutz der Arbeit- nehmer vor den Grundrisiken des Lebens durch Krankenversiche- rung, Rentenversicherung, Unfall- versicherung und Arbeitslosenver- sicherung oder an die Einführung und Weiterentwicklung der Ar- beitszeitordnung, des Kündi- gungsschutzes, des Mutterschut- zes und des Jugendarbeitsschut- zes. Oder denken wir an unser der- zeitiges umfassendes Gesund- heitssicherungssystem, zu dem wir uns bekennen können, ge- wachsen aus der Sozialordnung dieser Bundesrepublik Deutsch- land, jenes neuen sozialen Rechts- staates, den Theodor Heuss, Kon- rad Adenauer, Kurt Schumacher und viele andere nach 1945 aus dem magischen Viereck Republik

— Demokratie — sozialer Rechts- staat — und Bundesstaat als neue Ordnung entworfen haben, und die in unserem Grundgesetz ver- ankert ist.

Jeder, der gesundheits- und so- zialpolitisch verantwortungsbe- wußt denkt, wird bestätigen: Unser Gesundheitssicherungssystem hat sich bewährt. Es ist leistungsfähig, es trägt den Bedürfnissen sowohl des einzelnen Menschen als auch unserer Gesellschaft Rechnung.

Es garantiert die fundamentalen Prinzipien der freien Arztwahl für den Patienten ebenso wie die Rechtsstellung des freiberuflich wirkenden Arztes. Es bietet die Gewähr, daß die Erkenntnisse der modernen Medizin allen Versi- cherten zugute kommen, und es stellt bis heute immer noch sicher, daß sich die Kosten in einem ange-

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 23 vom 7. Juni 1979 1567

(4)

messenen Verhältnis zur Lage der Gesamtwirtschaft entwickeln kön- nen. Wir dürfen auf das Erreichte mit Recht stolz sein.

Vor neuen

sozialen Wandlungen

Dennoch: Die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen steht im Zentrum der gesundheitspoliti- schen Diskussion in allen indu- strialisierten Ländern. Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt steigt, und speziell die jüngste Rezession und die dabei aufgetretenen Finanzie- rungsengpässe, alarmierend in der Rentenversicherung, abge- wälzt auf die Krankenversiche- rung, haben die Diskussion aktua- lisiert. Uneinigkeit herrscht dar- über, wo die Ursachen liegen und welche Konsequenzen sich erge-

ben. Man darf also nicht den Blick dafür verstellen, daß wir sozialen Wandlungen unterliegen, und man darf vor diesen Problemen nicht den Kopf in den Sand stecken;

dies lädt immer nur zum Treten ein.

Die alten sozialen Fragen des 19.

Jahrhunderts sind zwar weitge- hend gelöst. Dennoch hat insbe- sondere die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts im Zusammenhang mit den aus vielen Gründen ex- pandierenden Gesundheitsausga- ben auch ihre speziellen sozialen Fragen:

Hohe Selbstmordquote, „Drop outs", insbesondere bei Jugendli- chen, körperliche und geistige Be- hinderungen sowie psychische Störungen verschiedenster Art, und um es zu konkretisieren: Hohe Krankheitsbeteiligung im Zusam- menhang mit Nikotineinwirkung, 1,5 Millionen Alkoholiker, davon rund 150 000 Jugendliche, 20 000 Risikoschwangerschaften, 5000 Kinder, die jährlich durch Alkohol- mißbrauch mißgebildet zur Welt kommen, 30 000 Jugendliche in Jugendsekten, 400 Drogentote im Jahre 1978, rund 50 000 Drogen- abhängige allein im harten Kern der Drogenkonsumenten, voraus-

sichtlich 60 000 Frührentner auf Grund von Drogenmißbrauch — dies sind nur einige wenige Felder und Zahlen, die schlaglichtartig das Spektrum und die Brisanz der neuen sozialen Fragen unserer Zeit beleuchten mögen.

Diese Konflikte und Probleme aber sind Anzeichen einer allgemei- nen Entwicklung, sie sind Begleit- und Folgeerscheinungen unserer schnellebigen und immer kompli- zierter werdenden Zeit. Mit zuneh- mender Geschwindigkeit verän- dern sich ständig alle Größen, die unser Gesellschaftssystem und die in ihm stattfindenden Prozesse be- stimmen. Hand in Hand damit voll- zieht sich eine immer weiter ge- hende Aufgliederung unserer Ge- sellschaft in unendlich viele Berei- che und Unterbereiche. Die Fülle und Technizität von Entscheidun- gen sind kaum noch zusammen- zuhalten und im Sinne eines auch nur annähernd einheitlichen Wir- kens auszurichten. Ein menschli- ches Handeln gemäß den gemein- samen Grundüberzeugungen un- serer Gesellschaftsordnung wird immer schwieriger. Die Ansprüche vor allem der Technik und der von ihr geprägten Gesellschaft stellen eine Herausforderung ersten Ran- ges an den Menschen des 20.

Jahrhunderts dar. Dies um so mehr, je mehr Eigengesetzlichkeit und Eigendynamik sie entfalten.

Die Kafkasche Vision der mensch- lichen Verirrung und Entfrem- dung, der Hilflosigkeit sich selbst und dem Mitmenschen gegenüber in einer Welt, die nicht mehr „Auf- nahme" zu gewähren bereit ist, scheint bereits überholt von der Wirklichkeit des sozialen Wandels unserer Zeit: Der Mensch ist in ei- nen tiefen Zweifel über sich selbst geraten. Die Hoffnung, durch viel Wissen vom Menschen den Men- schen und seine Welt menschli- cher machen zu können, scheint sich mehr und mehr als Illusion zu erweisen. Keine Zeit hat nach Heidegger so viel und so Mannig- faltiges vom Menschen gewußt wie die heutige; aber auch keine Zeit wußte weniger, was der Mensch sei, als die heutige.

Trotz einer bis heute immer wieder gebannten weltweiten Kriegsge- fahr und trotz der Hoffnung, daß die Probleme der Ölkrise, der nu- klearen Spaltung, der Arbeitslo- sigkeit und der insgesamt knap- per werdenden Energieressourcen sich im Prozeß einer freien Wil- lensbildung und internationalen Entscheidungsfindung lösen las- sen werden, dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, daß wir oh- ne große Anstrengung und Besin- nung jene Sicherheit und Gebor- genheit wiedergewinnen, die frü- heren Generationen individuelle Grundrechte so selbstverständlich garantierte.

Gewandeltes Bild vom Menschen

Im Gegenteil: Wenn wir aus der historischen Erfahrung und be- sonders aus den sozialen Verän- derungen der letzten zwanzig bis dreißig Jahre lernen und uns den Blick für die gegenwärtigen Strö- mungen und Tendenzen offenhal- ten wollen, dann gilt es, aus der

Ratlosigkeit und Ungeborgenheit, die uns heute allenthalben befällt, zu einer Selbst- und Neubestim- mung zu kommen, für den Men- schen schlechthin und für Patient und Arzt im besonderen.

Selbst- und Neubestimmung aber heißt zunächst und vor allem an- deren, dem gewandelten Bild des Menschen Rechnung zu tragen.

Das heißt auch Abschied nehmen von einer Medizin-Philosophie, die den Menschen aus einer Betrach- tungsweise allein physischer oder allein psychischer Defekte heraus auf ein isoliertes Krankheitsbild reduziert, ohne ihn in seiner Viel- schichtigkeit als soziales Wesen zu begreifen.

Der Mensch als Patient ist auch ein Mitbürger unserer Zeit, der zwar im Augenblick der Begeg- nung mit dem Arzt Rat und Hilfe sucht, der aber zugleich auch ei- nen Beruf hat, der Familienvater ist, der allein lebt, der jung oder alt ist, der in einer bestimmten ihn

1568 Heft 23 vom 7. Juni 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(5)

prägenden und von ihm mitge- prägten Umgebung lebt, der eine bestimmte Erziehung und Ausbil- dung genossen hat, der ganz bestimmte Sozialisationsphasen durchlaufen hat, der individuelle Probleme und Sorgen hat, der tag- täglich so und so viele Rollen übernehmen muß. Dies alles läßt der Mensch als Patient nicht drau- ßen vor der Tür, wenn er ins Sprechzimmer tritt. Der Mensch, der dem Arzt begegnet, ist kein zwei- oder drei- oder vielgeteiltes Wesen, sondern ein ganzes, wenn auch ein vielfältiges und viel- schichtiges, in soziale Großsyste- me eingebundenes Individuum, das nicht einen Teil von sich mit- bringt, sondern sich selbst.

Gesundheit und Krankheit betref- fen den ganzen Menschen, in sei- ner Gesamtheit von Körper, Seele und Geist sowie als soziales We- sen. Gesundheit, Krankheit und Medizin sind genauso ein „fait so- cial" wie der von ihnen betroffene Mensch und vollziehen sich in der konkreten personalen Begegnung zwischen Patient und Arzt, einge- bunden in das konkrete Sozialge- füge der jeweiligen Zeit. Der Pa- tient ist genausowenig nur Patient, wie der Arzt nur Arzt ist.

Nur wenn wir uns dessen bewußt sind, wenn wir diese Vielschichtig- keit als Anspruch des Patienten an uns gelten lassen und sie als Auf- gabe des Arztes gegenüber dem Patienten sehen, werden wir viel- leicht auch die Paradoxien in den Griff bekommen, die den gewan- delten Bürger unserer Tage kenn- zeichnen und bestimmen. Parado- xien des gewandelten Bürgers, darunter verstehe ich Widersprü- che in den Denk- und Verhaltens- weisen, die zunächst kaum auflös- bar erscheinen. Die heute stark ausgeprägte und weitverbreitete Wissenschafts- und Technologie- gläubigkeit, die bis hin zum Ver- kennen und sogar zur utopischen Fehleinschätzung der medizini- schen Möglichkeiten und Grenzen reicht.

Gesundheit als superiores Gut, als einer der höchsten Werte, und ho-

her Informationsstand über Ge- sundheit, das ist die eine Seite des Wandels im Bewußtsein des Bürgers.

Dem stehen allerdings allzu oft ein unzureichend gesundheitsgerech- tes Verhalten und eine Lebenswei- se gegenüber, die vielfach dem Gesundheitsbewußtsein und der Aufgeklärtheit geradezu diametral entgegengesetzt sind.

Gesellschaftlicher Wohlstand, ho- her Lebensstandard des einzelnen und hohes Dienstleistungsniveau in fast allen Lebensbereichen kennzeichnen unsere hochentwik- kelte Gesellschaft, die ihren Bürgern fast alles bietet und kaum etwas verweigert. Dieser Wohl- stand mit dem dazugehörigen Pro- fitdenken fast um jeden Preis schürt den Aberglauben des alles Machbaren und verleitet gleichzei- tig dazu, zu vergessen, daß Krank- heit, Gebrechen und Tod ebenso wesensmäßig zur menschlichen Existenz gehören wie Leben, Ju- gend, Vitalität und Gesundheit.

Dieses Verhalten hat nicht unbe- dingt nur etwas mit Trägheit oder Unvernunft zu tun, sondern in er- ster Linie mit den Umwelteinflüs- sen, und ist vielleicht letztendlich eine didaktisch-methodische Her- ausforderung, und zwar insofern, als die Konzepte, die wir anbieten können, inhaltlich zwar richtig sind, aber die Konzeption der Ver- mittlung noch nicht ausreicht, um Menschen zum richtigen Handeln zu führen.

Wir brauchen

ein überzeugendes Konzept der Gesundheitserziehung Gesundheitsinformation, Gesund- heitsberatung und Gesundheitser- ziehung als „gleichberechtigter Bestandteil einer den ganzen Menschen ansprechenden Erzie- hungskonzeption" — das muß eine unserer Antworten sein. Ein

„überzeugendes didaktisches und praktisches Gesamtkonzept", mit der Vermittlung und Verwirkli-

chung der Erkenntnis „Gesund- heit kann und muß man lernen — von der Jugend bis ins Alter" —, ein solches Wirken gehört nach mei- ner Überzeugung als Aufgabe des Arztes für die Zukunft an vorderste Stelle!

Die Erhaltung und Förderung der Gesundheit sowie der Krankenver- sorgung zählen zwar zu öffentli- chen Aufgaben von eminenter Be- deutung. Gesundheit als öffentli- ches und privates Gut ist aber vor allem auch und in erster Linie pri- vate Aufgabe von unbestreitbarem

Rang. Dies ergibt sich aus dem unveräußerlichen Recht und der bindenden Verpflichtung des ein- zelnen Bürgers zu Eigeninitiative

und Eigenverantwortlichkeit. Die Beziehungen zwischen dieser per- sönlichen Initiative und persönli- chen Verantwortung einerseits und dem öffentlichen Raum des sozialen Sicherungssystems ande-

rerseits, das gilt es dem gewandel- ten Bürger unserer Zeit, unserem

Patienten deutlich zu machen.

Nur der grundsätzlich persönli- chen Verantwortlichkeit jedes ein- zelnen Bürgers kann auch eine möglichst weitgehende Garantie der Freizügigkeit sowohl für die individuelle Gesundheitsvorsorge als auch für die Inanspruchnahme und Wahl ärztlichen Rates und ärztlicher Hilfe entsprechen. Dar- aus ergibt sich die Aufgabe: Wir

müssen dem Bürger dabei helfen, wieder den Mut zur Eigenverant- wortung und Eigeninitiative, den Mut zur Mitverantwortung zu fin- den. Das Bewußtsein für das rich- tige Verhältnis zwischen persönli- cher Initiative und Verantwortung einerseits und berechtigter Inan- spruchnahme der Solidargemein- schaft andererseits muß wieder geweckt werden.

Wenn dies gelingt, wenn der unse- ren Rat und unsere Hilfe suchende Mensch bereit ist, sowohl seine ei- gene Gesundheitserhaltung als auch die Konsequenzen für die so- ziale Gemeinschaft mitzuverant- worten, dann erst haben wir den gewandelten Bürger als mündi-

1570 Heft 23 vom 7. Juni 1979 DEUTSCHES ARZTEBL ATT

(6)

gen Patienten, den durch perso- nale Entscheidungsfreiheit sowie durch Solidarität und Rücksicht- nahme auf das Gemeinwohl be- stimmten Menschen.

Manche mögen das vielleicht et- was schwarz-weiß gezeichnete Bild des Wohlstandsbürgers an- zweifeln und die daraus abgeleite- ten Verhaltensweisen bedauern.

Ich meine, man sollte sie zu verste- hen versuchen und in diesem Zu- sammenhang auch darüber nach- denken, ob der Arzt von morgen nicht so, etwa wie eingangs von mir gezeichnet, sein muß. Es wäre fatal, wenn auf ärztlicher Seite nicht beachtet würde, daß auch ei- genes Fehlverhalten vorliegt, und es wäre fatal, wenn die Ärzteschaft heute nur so reagieren würde, wie es ihr im Augenblick am bequem- sten erscheint.

Die Technologie der Medizin, die ständig weiter verbessert wird, ist auf eine immer bessere Erfahrung regelhafter Vorgänge orientiert, wobei der Mensch eine durch- leuchtbare Materie und eine unter- suchbare Substanz ist. Mit dieser heute unverzichtbaren Technolo- gie entstehen aber auch Riesende- fizite ärztlichen Verhaltens, weil in der technologischen Medizin die Versuchung, sich als Subjekt zu- rückzuziehen, so außerordentlich groß ist. Dem muß, wie ich meine, bewußt gegengesteuert werden.

Es muß, so banal es klingen mag, dem Arzt von morgen wieder ärzt- liches Verhalten beigebracht wer- den als Voraussetzung für die Zu- sammenarbeit von Patient und Arzt in einer psychosomatischen Medizin. Nur so kann gemeinsam mit dem Patienten das Geschäft des Deutens einer durch Krank- sein veränderten Wirklichkeit und Körperlichkeit aufgenommen und durchgehalten werden! Nur so ge- winnt der Arzt im Patienten den Partner, der als Berater und Mitar- beiter allein in der Lage ist, ihn darüber zu informieren, was seine ärztlichen Interpretationen und Eindrücke für den Patienten be- deuten.

Wiederentdeckung

der Sprache in der Medizin In diesem Zusammenhang ist von zentraler Bedeutung die Wieder- entdeckung der Sprache in der Medizin: „Niemand hat im tägli- chen klinischen Betrieb und in der Sprechstunde genügend Zeit, um zu sprechen." Ein Vorstoß in diese verlorene Sprachregion ist nach Mitscherlich eine der dringend- sten Forderungen in der Medizin, die man stellen muß, wenn man wünscht, daß in ihr da, wo es sinn- voll ist, wieder ein menschlicher Kontakt mit zum therapeutischen Auftrag gehört.

Viel zu wenig kann angesichts der heutigen Massenausbildung die Befähigung vermittelt werden, daß medizinisches Wissen und ärztli- che Kunst sich erst durch das Me- dium menschlichen Verhaltens realisieren. Hiermit meine ich, ver- einfacht ausgedrückt, die jedem Psychiater, aber auch jedem Allge- meinpraktiker vertraute Erkennt- nis, daß die Art, wie der Arzt etwas tut, entscheidend ist für das, was er erfährt, und daß das Verhalten des Arztes, die Glaubwürdigkeit seines Darstellens und Helfens ei- ne „Conditio sine qua non" für den Erfolg aller ärztlichen Bemü- hungen darstellt. Dieses Verhal- ten, welches unzählige Stilvarian- ten hat, muß — und ich zitiere

Bochnik — nicht nur, aber in be- sonderem Maße für den Arzt für Allgemeinmedizin zu einem Lern- inhalt gemacht werden. Wenn dies nicht gelingt, wenn sich das medi- zinische Lernziel in Quizform so weiterentwickelt, wird es das, was unsere Bevölkerung heute und morgen braucht, Ärzte, die sich ärztlich verhalten und die mit Be- sonnenheit und Respekt den indi- viduellen Freiheitsraum achten, der selbst im ärmlichsten Rest menschlichen Lebens noch vor- handen ist, bald nicht mehr geben.

Hier ist auch eine Auseinanderset- zung mit der Bildungspolitik, der Arztzahlentwicklung, der Ausbil- dungskapazität und ganz ent- scheidend auch mit unseren Leh-

rern notwendig. Neubestimmung des Ziels der ärztlichen Ausbil- dung im Rahmen einer Änderung der Approbationsordnung unter vorübergehender Novellierung der Zulassungsordnung sowie die Si- cherstellung einer praxisorientier- ten Weiterbildung — dies können Ansätze sein, die der Erhaltung und Förderung der Qualität der ärztlichen Versorgung in unserem Lande dienen.

Hinwendung

zur Allgemeinmedizin

Parallel hierzu wird es erforderlich sein, die jungen Mediziner von der Notwendigkeit und der Richtigkeit einer stärkeren Hinwendung zur Allgemeinmedizin zu überzeugen.

Das wiederum erfordert ein grund- legendes Umdenken hin zur

> Anerkennung des hohen Wer- tes der Allgemeinmedizin,

I> Anerkennung ihrer Bedeutung für eine ausgewogene, medizi- nisch sachgerecht koordinierte ambulante ärztliche Versorgung und

> Anerkennung ihres Stellenwer- tes bei der ökonomischen Balance im Gesundheitswesen.

Diese Problematik, mit der sich der 82. Deutsche Ärztetag intensiv beschäftigen wird, scheint mir zur Zeit noch wichtiger als die Kosten- problematik.

Diese entscheidenden und sicher heißen Diskussionen und Ausein- andersetzungen müssen aber mit Genauigkeit und Objektivität erfol- gen und dürfen nicht zu einem in- nerärztlichen Kampf gegen die, Gegenwartswerte benutzt werden.

Es wird der Toleranz aller Beteilig- ten bedürfen, einer Toleranz, die bereit ist, zu verstehen und nicht die eigene Meinung zum Dogma zu machen. Der bayerische Mini- sterpräsident, Dr. Strauß, hat aus Anlaß der „Woche der Brüderlich- keit" eine Definition gefunden, welche ich für die anstehenden

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 23 vom 7. Juni 1979 1571

(7)

Beratungen des Deutschen Ärzte- tages zitieren möchte: „Toleranz ist notwendigerweise eine Tu- gend, die die Mehrheit gegenüber der Minderheit, der Stärkere ge- genüber dem Schwächeren üben muß. Sie ist der Verzicht auf den Ausschließlichkeitsanspruch für die eigene Überzeugung."

Trends zu

planwirtschaftlichen Lösungen nicht zu übersehen

Eine Betrachtung meines Themas

„Patient und Arzt im sozialen Wandel" aus speziell kassenärztli- cher Sicht soll und darf abschlie- ßend nicht fehlen.

Bisher und auch im Zusammen- hang mit der jüngsten Gesetzge- bung ist es der Ärzteschaft zwar gelungen, die von manchen ge- plante enge Reglementierung der Leistungen der Krankenversiche- rung und ein Zerschlagen ihrer Gliederungen zu verhindern. Den-

noch ist die Gefährdung unseres freiheitlichen Systems zwar nicht größer, aber, wie ich meine, par- tiell deutlicher geworden. Europä- ische Trends in Richtung auf eine sozialistischere Gesellschaft sind ebensowenig zu verkennen wie Trends zur planwirtschaftlichen Lenkung, zur Zentralisierung der Entscheidungsbefugnisse und zur Bürokratisierung der Leistungser- bringung auch im Gesundheitswe- sen. Die Ausweitung staatlicher Erfassung und Verwaltung aller le- bensrelevanten Daten macht selbst vor dem privaten Bereich nicht halt. Politische Kräfte, die diese Ziele verfolgen, schreckt die Erkenntnis anscheinend nicht, daß aus solchen Bürokratien, wie bei- spielsweise im sogenannten inte- grierten Gesundheitswesen ge- plant, eine galoppierende Demoti- vation und eine zunehmende Stechuhr-Mentalität entsteht, die mit der Heilung von kranken Men- schen nichts zu tun hat. Glanz und Elend verstaatlichter Gesundheits- wesen sind als authentische Bei- spiele zwar in genügender Zahl vorhanden, dennoch verheißen

manche Kräfte weiterhin ihre Heilslehre von der einheitlichen Pflicht-Gesundheitsversorgung für alle Bürger.

Ich halte es für einen schon im Denkansatz fatalen Irrtum, wenn man glaubt, Gesundheit von Staats wegen verordnen zu kön- nen. Chancengleichheit, Gerech- tigkeit, aktive Beteiligung und

Partnerschaft erreicht man nicht durch Zentralisierung und Büro- kratisierung, und weder durch Planwirtschaft noch durch Global- oder Feinsteuerung. Gleichheit si- chern, indem man Freiheiten be- schneidet, das ist, so meine ich, der Anfang der Entmündigung un- serer Bürger!

Würde der Patient im Arzt einen weisungsgebundenen, von staatli- chen Instanzen ferngeleiteten, un- ter einem imperativen Mandat ste- henden Funktionsträger sehen, so ginge die vertrauensvolle Zuwen- dung verloren, und der Dienst am Sozialversicherten würde zu blo- ßer Sozialtechnik abgleiten. Zum wiederholten Male stelle ich gegen solche Überlegungen die These, daß Aufwendungen für Gesund- heit und Krankheit Sozialinvesti- tionen in Humanvermögen sind.

An diesem Humankapital-Denken orientieren wir uns, nicht an einem makrosozialen Steuerungsden- ken. Eine Betrachtungsweise, wel- che Gesundheitsaufwendungen nur als Teil einer Soziallastquote sieht, müssen wir genauso ableh- nen wie die Forderung nach einer rein einnahmenorientierten Aus- gabenpolitik, weil sie keine befrie- digende Antwort auf die Kosten- problematik in einem modernen Gesundheitswesen zu geben ver- mag.

Unter dem dominierenden Maß- stab der jeweils gesicherten Er- kenntnisse medizinischer Wissen- schaft und humaner Zielsetzungen wird es primär die Aufgabe der Selbstverwaltungen von Kranken- kassen und Ärzten sein, daraus unter Abwägung mittelfristiger ge- samtwirtschaftlicher Entwicklun-

gen die Ziele für Aufgaben und Ausgaben für die ärztliche Versor- gung in Gesundheit und Krankheit jeweils abzustecken.

Selbstverwaltung

eine gesellschaftspolitische Entscheidung

Selbstverwaltung — das kann man nicht oft genug betonen — ist nicht einfach eine mechanistische Or- ganisationsentscheidung. Sie ist vielmehr eine gesellschaftspoliti- sche Entscheidung in jenem präzi- sen Sinn der Beteiligung bestimm- ter Kreise an der Gestaltung ihrer eigenen Verhältnisse. Wenn die- ses System, wie viele immer wie- der fordern, „umgebaut" würde, so würde damit eine gesellschafts- politische Weiche gestellt, die nicht nur unser freiheitliches Ge- sundheitswesen zerstört, sondern unsere Bundesrepublik in eine Le- gitimationskrise gegenüber denje- nigen stürzen würde, die auf die- ses System der Mitwirkung bei der Gestaltung ihrer eigenen Aufga- ben mit Recht vertrauen.

Damit schließt sich der Kreis, den ich mit meiner Philosophie zu ent- wickeln versucht habe, mit einer Philosophie der verantworteten Freiheit. Es wird nicht leicht sein, auf einer solchen Grundlage die Aufgaben der Zukunft zu erfüllen.

Dennoch bin ich davon überzeugt, daß dies zu schaffen ist, wenn wir das Phänomen des sozialen Wan- dels von Patient und Arzt heute erkennen und danach handeln.

Hierzu gehört allerdings auch die Einsicht, daß mehr Lebensqualität sich weder in mehr technischem Fortschritt noch in Wohlstand bis zum Platzen erschöpfen kann, sondern durch bewußte menschli- che Zuwendung entsteht. Hierzu gehört Optimismus und großes Engagement zum Wohl aller Bür- ger — und hier sind besonders wir Ärzte aufgerufen.

Ein altgedienter Kassenarzt dankt für Ihre Aufmerksamkeit.

1572 Heft 23 vom 7. Juni 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Ob Kant Sittlichkeit sagt oder ideale Menschheit oder Auto- nomie oder Gewissen, immer spricht er von dem geistigen Men- schen, welcher sich im natürlichen Menschen durch

Weltrich ha- be stets versucht, diese im Sinne einer Behandlungsfehlerprophylaxe für die ärztliche Fortbildung nutzbar zu ma- chen.. Sein Ziel sei es gewesen, zukünftig für

Nur: Was nicht mehr täglich geübt werden kann, ver- kümmert.Was nicht mehr zur Heilkunst vervollkommnet wird, kann auch an jüngere Ärzte nicht mehr lehrend wei- tergegeben

Wir möchten, daß er un- fehlbar sei und auf der Höhe der Kunst stehe, entschieden und fein- fühlig, ein Optimist, peinlich gewis- senhaft, aufopfernd bis zur Er- schöpfung und

Es kann sicher nicht allein über die Gesundheits- und Sozialpolitik die notwendige Veränderung die- ses komplexen Geschehens be- wirkt werden, es ist aber Aufgabe aller für

Wie wir den Begriff der Rehabilitation heute nicht allein auf ärztliche Ak- tivitäten zurückführen, sondern auf eine Leistung der Gemeinde ansehen, muß auch die Betreuung

Ich zi- tiere: „Selbsterfüllung oder Le- benserfüllung wird nicht von der Hingabe an außerhalb des Indivi- duums liegende Ziele erhofft, son- dern von der Realisierung unmit-

Nur so kann ein gedeihliches Zusam- menleben der Bürger in einer frei- heitlichen, rechtsstaatliehen und sozialen Demokratie gesichert er- scheinen." Gesundheit