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Archiv "Patient und Arzt verstrickt im Netz der sozialen Sicherung" (29.05.1980)

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83. DEUTSCHER ÄRZTETAG

Zentrales Thema des 83. Deut- schen Ärztetages in Berlin ist die Weiterentwicklung der gesund- heits- und sozialpolitischen Vor- stellungen der deutschen Ärzte- schaft, die erstmals vom 77. Deut- schen Ärztetag 1974 ebenfalls hier in Berlin verabschiedet wurden.

Man kann sicher eine Reihe von Gedanken daran knüpfen, ob dar- in eine Art Symbolik zu sehen ist;

treten doch die ideologischen Grundpositionen und die darauf beruhenden unterschiedlichen Gesellschafts- und Staatsformen mit ihren verschiedenen Wertun- gen des Individuums und der Ge- sellschaft, von Kollektivismus und Pluralismus, von Freiheit und Frei- zügigkeit an kaum einem anderen Ort in der Welt so deutlich sichtbar und fühlbar in Erscheinung wie in dieser Stadt.

Gesellschaftsstrukturen und Staatsformen haben selbstver- ständlich Auswirkungen auch in der Gesundheits- und Sozialpoli- tik. Ebenso sind umgekehrt über Bewegungen in der Gesundheits- und Sozialpolitik Auswirkungen in der allgemeinen Politik mit Verän- derungen der Bedeutung des ein- zelnen und seiner Beziehungen zur Gesellschaft denkbar, die so- gar zu Veränderungen von Gesell- schaftsstrukturen führen können.

Die politische Funktion der Ärzteschaft

Natürlich beeinflußt die Gestal- tung der Politik in den verschiede- nen Bereichen die ärztliche Ver-

sorgung der Bevölkerung und da- mit auch die Beziehung des ein- zelnen Menschen zu seinem Arzt.

Mit Recht war und ist daher der einzelne Arzt — aber auch die Ge- samtheit der Ärzte und damit ihre Selbstverwaltung — aufgerufen, sich um die Angelegenheiten des Gemeinwesens, der Gesellschaft, des Staats zu kümmern, sie mitzu- gestalten und sich im besten Sin- ne politisch zu betätigen. Die seit 1873 stattfindenden Deutschen Ärztetage haben in diesem Sinne nicht nur eine über hundertjährige Tradition, sondern eine entspre- chend gewichtige Legitimation, weil sie den Arzt unterstützen, der seit langem in Berufsordnungen und außerdem vom Gesetzgeber in der Bundesärzteordnung nie- dergelegten Bestimmung gerecht zu werden, in der es heißt, „Der Arzt dient der Gesundheit des ein- zelnen Menschen und des gesam- ten Volkes". Mit dieser Bestim- mung für Ärzte ist bereits das Spannungsfeld gezeichnet, in dem sich Überlegungen und Vor- schläge zur Gestaltung unserer Gesundheits- und Sozialpolitik be- wegen. Entscheidungen zugun- sten des Individuums gehen nicht selten zu Lasten der Gesamtheit und umgekehrt, sorgfältiges Ab- wägen aller Vor- und Nachteile ist also nötig, zumal dann, wenn mit einzelnen Entscheidungen Wei- chenstellungen für die Zukunft verbunden sind, durch die nahezu unwiderruflich Prioritäten zugun- sten des Staates oder einer ande- ren Gemeinschaft gesetzt werden und die Rechte des einzelnen spä- ter nur unter den größten Schwie-

rigkeiten oder auch überhaupt nicht wiederhergestellt werden können.

Nach den Artikeln 20 und 28 des Grundgesetzes ist die Bundesre- publik Deutschland ein sozialer Rechtsstaat. Es ist Aufgabe des Staates, den sozialen Frieden zu wahren und jedem Bürger ein menschenwürdiges Dasein zu er- möglichen. Die Rechtsordnung muß daher die Rechtsstellung des einzelnen sichern. Ausführlich sind im Grundgesetz in den Arti- keln 1 bis 19 die Grundrechte des einzelnen Menschen verankert, woraus zu schließen ist, daß nach dem Willen des unsere Verfassung 1949 verabschiedenden Parlamen- tarischen Rates dem Individuum gegenüber der Gemeinschaft eine starke Stellung zugedacht ist und bei der Abwägung der Interessen des einzelnen und der Gemein- schaft keineswegs immer die Ent- scheidung zugunsten der Gemein- schaft fallen kann oder muß.

Eine derartige Gemeinschaft muß außerdem keineswegs immer die denkbar größtmögliche Gemein- schaft sein, sondern es sind nach dem Grundgesetz eine Vielzahl von Gemeinschaften — Gemeinden

— vorgesehen, denen ausdrücklich das Recht zugestanden wird, ihre Angelegenheiten in eigener Ver- antwortung in Selbstverwaltung zu regeln, wobei selbstverständ- lich die Interessen der Gesamtheit der Gemeinden und der für sie gel- tenden Regeln und Gesetze zu be- achten sind.

Die Rechte des einzelnen und da- mit die Individualität sowie der Pluralismus sind wesentliche Be- standteile unserer freiheitlich de- mokratischen Grundordnung. Sie müssen daher auch bei allen Über- legungen zur künftigen Gestal- tung unserer Gesundheits- und Sozialpolitik Grundlage und Maß- stab der Entscheidungen sein.

Werden diese Grundlagen in ei- nem politischen Bereich unseres Staates, wie zum Beispiel der Ge- sundheitspolitik oder der Sozial- politik, verlassen, so kann die Be-

Patient und Arzt verstrickt im Netz der sozialen Sicherung

Referat von Dr. Karsten Vilmar

Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages bei der Eröffnungsveranstaltung des 83. Deutschen Ärztetages am 13. Mai 1980 in Berlin

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 22 vom 29. Mai 1980 1441

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83. Deutscher Ärztetag: Vilmar

seitigung tragender Elemente un- seres Gemeinwesens nicht ohne Folgen für die Stabilität des Gan- zen bleiben.

Unveränderte

Standortbestimmung

Da diese grundlegenden Voraus- setzungen heute ebenso wie bei der Verabschiedung der gesund- heits- und sozialpolitischen Vor- stellungen der deutschen Ärzte- schaft im Jahre 1974 bestehen, blieb konsequenterweise bei der jetzigen Weiterentwicklung und Neufassung die in den Leitsätzen formulierte Standortbestimmung unverändert. Danach wird die Ge- sundheitspolitik im freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat be- stimmt durch den Wert der Ge- sundheit als eines wesentlichen Elementes der persönlichen Exi- stenz des Menschen und begrenzt durch den Vorrang des Grund- rechtes des Menschen auf Schutz der freien Entfaltung seiner Per- sönlichkeit. Die Sozialpolitik dage- gen muß die für die Entfaltung der individuellen Freiheiten notwendi- ge soziale Sicherheit schaffen und den Ausgleich der unterschiedli- chen individuellen Chancen und Risiken in der Gesellschaft ermög- lichen.

Wie ich bereits bei der ersten Be- ratung der Neufassung der ge- sundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der deutschen Ärz- teschaft auf dem 82. Deutschen Ärztetag in Nürnberg 1979 aus- führte, wurde unverändert davon ausgegangen, daß Eigeninitiative und Eigenverantwortung des ein- zelnen für seine Gesundheit und die Gestaltung seines Lebens ge- stärkt werden müssen. Dem Recht des einzelnen auf individuelle Ent- faltung seiner Persönlichkeit ist Rechnung zu tragen. Unsere Kriti- ker müssen sich daran erinnern lassen, daß dies — wie ich ein- gangs belegt habe — ausdrücklich im Rahmen der Grundrechte im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert ist. Daraus folgt, daß die Aktivitäten des Staa-

tes den Menschen vor nachteiliger Beeinflussung von außen bewah- ren und ihm die Chance zu indivi- dueller Entfaltung geben müssen.

Der Staat im Rahmen einer abge- stuften Verantwortung nach dem Subsidiaritätsprinzip also nur dort tätig werden soll, wo die Möglich- keiten des einzelnen oder seiner Gemeinschaften nicht ausreichen.

Daraus folgt aber auch, daß die unterhalb der staatlichen Ebene gebildeten Gemeinschaften und damit auch die Solidargemein- schaften zur sozialen Sicherung das Grundrecht des einzelnen auf Entfaltung seiner Persönlichkeit und damit zur Gestaltung seines Lebens beachten müssen. Auch für sie gilt insoweit das Subsidiari- tätsprinzip. Auch sie sollen erst da eintreten, wo die Möglichkeiten des einzelnen nicht ausreichen.

Eine jeden Tatbestand des menschlichen Lebens regelnde und reglementierende, die Eigen- initiative lähmende und eigene Gestaltungsmöglichkeit erdrük- kende allumfassende Fürsorge ist daher mit dem Grundgesetz nicht in Einklang zu bringen. Das Netz der sozialen Sicherung soll den einzelnen vor dem Sturz in Not und Unglück bewahren. Es muß deshalb federnd und elastisch, selbstverständlich auch genügend engmaschig sein, um diesen Zweck zu erfüllen. Das soziale Netz darf aber nicht zu einem Fangnetz in der Art eines Fischer- netzes werden, bei dem es um so weniger Bewegungsmöglichkei- ten gibt, je größer der Füllungs- grad wird und bei dem jeder Ver- such der Befreiung an der Engma- schigkeit scheitert.

Es ist mit den Grundlagen unseres Staates, dem Gedanken der Frei- heit und des Pluralismus, aber auch dem Grundrecht des Men- schen auf die freie Entfaltung sei- ner Persönlichkeit unvereinbar, wenn die für alle Bereiche des Le- bens bestehenden Wahl- und Ge- staltungsmöglichkeiten bei der so- zialen Sicherung und in der Vor- sorge für Krankheit außer Kraft ge- setzt werden. Denn gerade der kranke und leidende Mensch hat

angesichts der tatsächlichen oder vermeintlichen existentiellen Be- drohung seines Lebens oft nur aus seinem eigenen Erleben entste- hende und zu erklärende Wün- sche, deren Befriedigung für ihn eine wesentliche Erleichterung seines Schicksals bedeutet. Es stünde im Widerspruch zu den in anderen Bereichen unseres Le- bens sicher oftmals nur mit Schwierigkeiten wahrzunehmen- den Gestaltungsmöglichkeiten, wenn man dem Menschen gerade im Krankheitsfall diese Grund- rechte beschnitte, ihm nur noch eine fremdbestimmte, überwie- gend oder ausschließlich an öko- nomischen und administrativen Gegebenheiten oder Erfordernis- sen ausgerichtete Bewegungs- freiheit" ließe und so den mündi- gen Bürger zum entmündigten Pa- tienten machte.

Zwangsläufig würde der Mensch so im Krankheitsfall zu einem blo- ßen Objekt, dem Gesundheitsgü- ter zugeteilt werden. Man stelle sich einmal gleiche Regelungen zur Befriedigung anderer Grund- bedürfnisse vor, wie des Essens und Trinkens, des Wohnens und der Kleidung, um zu erkennen, wie einschneidend derartige Be- schränkungen empfunden werden müssen, die darüber hinaus ja auch immer Beeinträchtigungen aller anderen Umstände mit sich bringen, aus denen letztlich indivi- duelle Zufriedenheit und sozialer Friede resultieren.

Die Gestaltungsmöglichkeiten für den einzelnen entsprechend sei- nen ureigenen Bedürfnissen müs- sen deshalb in allen Bereichen un- seres Lebens — um auch auf diese Weise einen Beitrag zur Humanität zu leisten — soweit wahrgenom- men werden können, wie dies oh- ne ernsthafte Beeinträchtigung der Interessen und Freiheitsräume anderer möglich ist.

Ursachen der Inhumanität Es ist doch Unsinn, ausschließlich im Gesundheitswesen nach mehr

1442 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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83. Deutscher Ärztetag: Vilmar

Humanität zu rufen und sich nicht um die Inhumanität in anderen Be- reichen zu kümmern und ohne sich zu bemühen, die Ursachen dieser Inhumanität aufzuklären.

Gründe dafür dürften zu suchen sein

> in den nicht ausreichend durchdachten und häufig über- stürzt durchgeführten Schul- und Bildungsreformen, die den Kon- kurrenzkampf fast bis in den Kin- dergarten vorverlagert und zur Auflösung der Klassengemein- schaften und Jugendfreundschaf- ten geführt haben;

I> in einer familienfeindlichen Steuer- und Wohnungsbaupolitik, die die durch die Industrialisie- rung ohnehin begünstigte Auflö- sung der Familienstrukturen wei- ter vorantrieb und weiter zur Ver- einzelung und Vereinsamung der Menschen beitrug;

I> auch in der zunehmenden Hek- tik unserer Lebensabläufe bei Ar- beit und Freizeit;

> in den Auswirkungen der oft ohne Rücksicht auf biologische Erfordernisse und Gegebenhei- ten in feste Zeitschemata gepreß- ten Arbeitsabläufe, insbesondere Schichtbetrieb und Wechseldienst.

I> Die immer weitergehende Auf- teilung einzelner Arbeiten, die vie- le Menschen an ihrem Arbeitsplatz dazu zwingt, sinnentleerte Teil- funktionen zu verrichten, dürfen bei dieser Ursachenforschung nicht vergessen werden.

I> Die Monotonie, oftmals unter gleichzeitigem Zeitdruck, führt durch physische Erschöpfung und psychische Abstumpfung dazu, daß auch die Freizeit nicht mehr sinnvoll zur Erholung, zur Erhal- tung oder Wiederherstellung der Gesundheit genutzt werden kann, nicht zuletzt deshalb, weil auch dort keine befriedigenden Lebens- inhalte mehr gefunden werden können.

> Dazu trägt wiederum in nicht geringem Umfang die heutige Ver- braucherbeeinflussung, aber auch die Gestaltung unserer Verkehrs-

und anderer Umweltbedingungen bei, die den Eindruck vermitteln, als orientiere sich das ganze Le- ben ausschließlich an den Mög- lichkeiten von 15- bis höchstens 50jährigen.

Wenn hier nicht ein Umdenken er- folgt und wieder mehr Gemein- schaftssinn und Interesse für den Nächsten entwickelt werden, kann die ohnehin schon festzustellende Aufgliederung der Gesellschaft in Altersklassen und die damit ein- hergehende Gettoisierung zu ei- nem ganz anders gearteten und möglicherweise viel härter ausge- tragenen Klassenkampf der Alters- gruppen führen. Eine derartige Entwicklung könnte die heute glücklicherweise trotz aller Schwierigkeiten in manchen Be- reichen noch vorhandenen zwi- schenmenschlichen Beziehungen unerträglich belasten oder sogar vollends zerstören. Ob unter sol- chen Umständen der vielgepriese- ne Generationenvertrag zur Siche- rung der Altersversorgung noch funktionieren wird, erscheint mehr als fraglich.

Es kann sicher nicht allein über die Gesundheits- und Sozialpolitik die notwendige Veränderung die- ses komplexen Geschehens be- wirkt werden, es ist aber Aufgabe aller für die Gesundheits- und So- zialpolitik Verantwortlichen, auf die Gefahren hinzuweisen und zu fordern, daß für alle Menschen al- ters- und leistungsgerechte Betäti- gungsmöglichkeiten gefunden werden müssen, die ihnen Le- bensinhalt vermitteln und das Ge- fühl geben, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gemeinschaft zu sein, eine für das psychische Wohlbefinden und damit die Ge- sundheit wichtige Voraussetzung.

Eigeninitiative und

Eigenverantwortung stärken Es wäre verfehlt, wenn man die hier eingetretenen und sich weiter abzeichnenden Fehlentwicklun- gen ausschließlich der Medizin an- lasten und in naiver Technik- und

Wissenschaftsgläubigkeit die Be- seitigung der Folgen durch orga- nisatorische Veränderungen im Gesundheitswesen erwarten woll- te. Zweckmäßige Prävention im weitesten Sinne erfordert mehr Aktivitäten in vielen anderen Be- reichen unserer Gesellschaft, die darauf gerichtet sein müssen, Ei- geninitiative und Eigenverantwor- tung zu stärken.

Obwohl in dieser Prävention, in der Beratung und Motivation zu gesundheitsgerechtem Leben ei- ne große Aufgabe für die Zukunft liegt, wird es nicht möglich sein — auch nicht durch vorbeugende Maßnahmen — Krankheit in jedem Fall zu verhindern, oder naturge- gebene Lebensabläufe, zu denen Entwicklungs- und Wachstums- prozesse ebenso gehören wie Al- terungsvorgänge und letztlich Sterben und Tod, so zu verändern, daß ewige Gesundheit in jugendli- cher Frische erreichbar wäre. Ein Gesundheits- und Jungbrunnen war schon im Mittelalter Illusion, er ist es noch heute und wird es aller Voraussicht nach auch in Zu- kunft bleiben.

Der kurativen Medizin kommt da- her auch künftig eine große Be- deutung zu. Es gilt, die geradezu unvorstellbar erweiterten Möglich- keiten sinnvoll zu nutzen, aber auch zu bedenken, daß mit den fast ins Unermeßliche erweiterten Möglichkeiten nicht nur die Hei- lungschancen gestiegen sind, sondern auch die Risiken, die ver- nünftigerweise jedoch zu den Risi- ken der Grundkrankheiten ohne die heutigen Behandlungsmög- lichkeiten in Relation gesetzt und gegen sie abgewogen werden müssen. Dabei muß natürlich auch bedacht werden, ob immer all das gemacht werden kann und darf, was technisch möglich, vielleicht wissenschaftlich auch besonders interessant oder gar, was noch nicht genügend erforscht und des- halb mit unwägbaren Risiken ver- bunden ist. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Entwick-

• Fortsetzung auf Seite 1447

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 22 vom 29. Mai 1980 1443

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83. DEUTSCHER ÄRZTETAG

Einer der Schwerpunkte der Eröffnungsveranstaltung: Der Regierende Bürgermeister heißt den Ärztetag willkommen

Ein „Festvortrag", der jedoch gleichzeitig das Referat für den ersten Tagesordnungspunkt der Plenarsitzung des Ärztetages und eine Stellungnahme zu aktuellen grundsätzlichen Fragen war, fer- ner die Verleihung der Paracelsus- Medaille an vier verdiente Ärzte sowie ein politischer Überblick über die Lage der Stadt Berlin und ihre Position im Kontext der aktu- ellen Weltpolitik, gegeben vom Regierenden Bürgermeister Diet- rich Stobbe — das war der Inhalt der Eröffnungsveranstaltung des 83. Deutschen Ärztetages am 13.

Mai 1980 im Berliner Kongreßzen- trum ICC. (Der Festvortrag des Präsidenten des Deutschen Ärzte- tages und der Bundesärztekam-

mer, Dr. Karsten Vilmar, ist auf die- sen Seiten im Wortlaut abge- druckt.)

Prof. Dr. Wilhelm Heim, Präsident der gastgebenden Berliner Ärzte- kammer, hatte den allgemein-poli- tischen Grundton bei seiner Be- grüßung schon angeschlagen. Die Teilung Berlins und Deutschlands sprach Prof. Heim besonders an:

„Ich wäre glücklich, wenn ich heu- te unsere Kollegen aus dem Ostteil dieser Stadt und dieses Landes als Delegierte oder als Gäste begrü- ßen könnte. Ich glaube, daß auch dort, wo sich über Mauer und Sta- cheldraht hinaus weltanschauli- che Gräben zwischen uns und den

Kollegen im anderen Teil unserer Stadt aufgetan haben, das ge- meinsame Band, sich den kranken Menschen verpflichtet zu fühlen und ihnen mit all unseren Kräften zu helfen, doch stärker ist. Über den Dienst am kranken Menschen und die zahlreichen gemeinsamen wissenschaftlichen Interessen ste- hen wir im ständigen Dialog.

Schon deshalb gehen unsere Ge- danken hinüber zu denen, die heu- te nicht hier sein können. Nicht zuletzt schöpfen wir auch aus der gemeinsamen medizinischen Tra- dition Berlins . . ."

Auch Prof. Stockhausen, als er — zugleich im Namen der mit ihm ausgezeichneten neuen Träger der Paracelsus-Medaille der deut- schen Ärzteschaft — die traditio- nellen Dankesworte sprach, bezog sich auf die Stadt Berlin: Wenn der Ärztetag wieder in Berlin zusam- menkomme, dann sei nicht nur die Berliner Luft oder das Flair der Weltstadt oder ein wohlverstande- ner Traditionalismus der Anlaß;

"Kein Traum, keine Euphorie, sondern bittere Notwendigkeit"

Bürgermeister Dietrich Stobbe erläutert bei der Eröffnung des 83. Deutschen Ärztetages die Position Berlins

1444 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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83. Deutscher Ärztetag:

Eröffnungsveranstaltung

die Ärztetage seien geradezu ma- gisch angezogen vom Geist der Freiheit und des Lebenswillens dieser Stadt, der den Ärzten als eine Entsprechung erscheine zu den entscheidenden Grundlagen ihres Wirkens: dem Dienst am Le- ben, der Humanitas, der Freiheit der Berufsausübung. Stockhau- sen appellierte an die Ärzteschaft, sich auch als Gemeinschaft von Individualisten bewußt zu bleiben, daß nur Geschlossenheit und Ein- heit den Berufsstand stark genug macht, die Freiheit der Berufsaus- übung für alle und für den einzel- nen zu erhalten.

Über die Auszeichnung der vier Ärzte ist bereits in Heft 21 des DEUTSCHEN-ÄRZTEBLATTES auf Seite 1913 berichtet worden: Prä- sident Vilmar überreichte die Pa- racelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft an Prof. Dr. med.

Franz Grosse-Brockhoff (Neuß), Dr. med. Rolf Schlögell (Köln),

Prof. Dr. med. Josef Stockhausen (Köln) und Prof. Dr. med. Rudolf Zenker (München). Dabei verlas er die in Heft 21 bereits zitierten Ur- kunden.

Berlins Regierender Bürgermei- ster Stobbe vermutete in seiner Ansprache, „es ist Ihnen recht, wenn ich jetzt nicht ein paar ge- stelzte Worte über die Gesund- heitspolitik, sondern etwas über unsere Stadt sage." Menschen nach Berlin zu holen — zu Messen, zu Kongressen, als Besucher —, das sei in Berlin eine zutiefst poli- tische Aufgabe. Damit wirke Berlin der Eigenisolation entgegen: Ge- rade Kongresse seien wichtig, in denen die Veranstalter ihre eige- nen Probleme besprechen, wichti- ger als die Diskussion um Berlin:

„Denn wir wollen ja einbezogen sein in den Kreislauf der Auseinan- dersetzungen, Ideen, Meinungen Westdeutschlands, Europas, der Welt."

Das fundamentale Problem Ber- lins, das der Teilung, ist nach wie vor nicht gelöst. Die Stadt sei aber, meinte Stobbe, in eine weitaus stabilere Position als vor etwa zehn Jahren hineingekommen. Sie sei in einem sicheren Fahrwasser, was ihr auch manche neue Chan- ce eröffne. Die Verträge, auf de- nen die Existenz Berlins beruhe, seien möglich geworden, weil in Europa ein Machtgleichgewicht bestehe: „Entspannung beruht nicht auf der freien Einsicht von Menschen und Regierungen und Völkern, sondern auf harten Tatsa- chen, die wir hier in Berlin ganz bitter zu spüren bekommen haben

— zum Beispiel auf der Tatsache, daß Frieden nur besteht, weil bei- de Seiten gleich stark sind und daß keine Seite der anderen ihren Willen politisch aufzuzwingen ver- mochte." Die Kuba-Krise habe ge- lehrt, daß die Bestimmtheit der Wahrung von Positionen sich ver- binden kann mit der Fähigkeit zum

Saal 2 des Internationalen Congress-Centrums am Nachmittag des 13. Mai: Teilnehmer der Eröffnungsveranstaltung

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 22 vom 29. Mai 1980 1445

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Begegnungen

und Gespräche im Foyer des Congress-Centrums

Oben: Berlins Ärztekammerpräsident Prof. Wilhelm Heim, Berlins Regieren- der Bürgermeister Dietrich Stobbe und der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Karsten Vilmar. — Rechts: Berlins Gesundheitssenator Erich Paetzold und die CDU-Bundestagsabgeordnete Dr.

med. dent. Hanna Neumeister. — Unten:

Der Ehrenpräsident der Bundesärzte- kammer, Prof. Dr. Ernst Fromm (Ham- burg), im Gespräch mit dem Tübinger Phlebologen Prof. Dr. Wilhelm Schnei- der, Träger der Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft

83. Deutscher Ärztetag: Eröffnungsveranstaltung

Dialog mit dem politischen. Geg- ner und mit der Fähigkeit, auch dessen Interessen einzuschätzen und unter Umständen sogar zu re- spektieren. Entspannungspolitik sei also nicht Ergebnis eines Trau- mes oder einer Euphorie, sondern ein Stück bitterer Notwendigkeit.

Es sei aber auch eine der „wirklich tiefen Berliner Erfahrungen", daß isolierte Betrachtungen der Stadt keinen Sinn haben: Im Hinblick auf die aktuellen Krisen in anderen Regionen der Welt bemerke man:

„Alles hängt mit allem zusammen, und hüte sich jeder vor der Mei- nung, das sei doch alles so weit weg!" Manche der heutigen Kri- sen seien gerade daraus entstan- den, daß in der jeweiligen Region das in Mitteleuropa bestehende Machtgleichgewicht nicht vorhan- den sei. Stobbe ergänzte diese Auffassung mit einem mit Bei- fall aufgenommenen Bekenntnis:

„Lassen Sie mich mit aller Klarheit einen Punkt hinzufügen: Entspan- nungspolitik für die Stadt ist nicht ohne Amerika machbar — Amerika, die Atlantische Partnerschaft, ist ja gerade die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des Macht- gleichgewichts, ohne das Ent- spannungspolitik nicht machbar ist." Die jüngsten Vereinbarungen zwischen Bonn und Ostberlin sei- en „auf Punkt und Komma" von den drei Schutzmächten politisch genehmigt worden. „Diese Kon- stellation muß aufrechterhalten werden. Darum werden wir Berli- ner kämpfen."

Berlin könne sich, schloß Stobbe, nur weiterentwickeln, wenn es nicht der Gefahr erliegt, aus der geographischen Lage auch eine Sondersituation abzuleiten. Berlin müsse sich einreihen in den Wett- bewerb vergleichbarer Städte und Regionen, was es aber nur könne, wenn in Westdeutschland und überhaupt in der Welt genügend Menschen immer wieder den Weg in diese Stadt finden. In diesem Sinne dankte der Regierende Bür- germeister dem Deutschen Ärzte- tag dafür, daß er nun zum fünften

Male nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin tagte. DÄ

1446 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Dr. Vilmar überreichte im Verlauf der Eröffnungsveranstaltung des 83. Deut- schen Ärztetages die Paracelsus-Me- daille der deutschen Ärzteschaft an (von links) Prof. Dr. med. Grosse-Brock- hoff (Neuss), Prof. Dr. med. Josef Stock- hausen (Köln), Dr. med. Rolf Schlögell (Köln) und Prof. Dr. med. Rudolf Zenker (München)

83. Deutscher Ärztetag: Vilmar

Patient und Arzt — verstrickt im Netz der sozialen Sicherung

• Fortsetzung von Seite 1443 lung der modernen Intensivmedi- zin oder der Transplantationsme- dizin. Begrenzungen der Möglich- keiten moderner Medizin können sich nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus ethisch-morali- schen Gründen ergeben.

Bezeichnenderweise und bedau- erlicherweise wird die gesund- heitspolitische Diskussion heute nicht unter moralischen, sondern vorwiegend unter ökonomischen Aspekten mit dem Hinweis auf be- grenzte finanzielle Mittel geführt und eine einnahmenorientierte Ausgabenpolitik gleichsam als oberstes Ziel der Gesundheits- und Sozialpolitik hingestellt.

Selbstverständlich werden alle vernünftigen Menschen — und es gibt eigentlich bislang keinen Hin- weis, daß die Ärzte nicht dazuge- hören — zugeben, daß man nicht mehr ausgeben kann als man ein- nimmt. Ebenso selbstverständlich ist aber doch auch, daß man nicht mehr Leistung verlangen kann, als man dafür zu zahlen bereit ist.

Die Entwicklungen in der Medizin laufen ebensowenig wie Entwick- lungen in anderen Bereichen stets deckungsgleich mit der Entwick- lung des Bruttosozialproduktes, Das Bruttosozialprodukt ist viel- mehr das Ergebnis einer Vielzahl höchst unterschiedlich verlaufen- der, teilweise steigender, teilweise aber auch im Vergleich zur Ge- samtheit fallender Komponenten, und auch die sogenannte Bei- tragssatzstabilität in der Sozialver- sicherung — gleichsam als Einfrie- ren in ewigem Eis — kann nicht als der Weisheit letzter Schluß ange- sehen werden. Bislang jedenfalls ist in keiner Weise erwiesen, wel- che Prioritäten der Bürger setzen möchte, falls es etwa gelänge, un- ter Einsatz größerer Mittel Erkran- kungen an Krebs zu vermeiden oder unter allen Umständen heilen zu können. Oder wenn wirksame Mittel gegen Gefäßleiden oder Al- terungsprozesse gefunden wer- den könnten. Im übrigen sind der- artige Vorgaben auch immer fremdbestimmt; denn die Mehr- heit der Gesunden, noch nicht Kranken, bestimmt über den Wert der Leistung, die ein Kranker in einer ganz bestimmten Situation von seinem Arzt erwartet.

Um Mißverständnissen vorzubeu- gen, es soll hier keiner unbilligen

Kostensteigerung das Wort gere- det werden, doch auch in der Ge- sundheitspolitik gilt das, was der frühere Vorsitzende der SPD-Bun- destagsfraktion, Fritz Erler, in Ab- wandlung eines Ausspruches von Bismarck sagte, „Politik ist die Kunst, das Erforderliche möglich zu machen".

Wenn das jedoch gar nicht erst versucht werden sollte und die Qualität der ärztlichen Versorgung in Krankenhaus und Praxis — ebenso wie die Qualität der Arz- neimittelversorgung — ausschließ- lich nach dem Preis und nicht nach der Effizienz beurteilt wird und wenn die Entscheidung dar- über, was nötig ist, nicht mehr un- ter Berücksichtigung der Interes- sen der Patienten durch die dazu berufene gemeinsame Selbstver- waltung unter Beteiligung der Ärz- te getroffen werden, könnte sich das soziale Netz leicht zu einer Fessel entwickeln, in die Patient und Arzt gemeinsam verstrickt wären.

Sozialversicherung finanzierbar erhalten

In Anbetracht der künftig nur be- grenzt zur Verfügung stehenden oder zur Verfügung gestellten Fi- nanzmittel im Gesundheitswesen, DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 22 vom 29. Mai 1980 1447

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83. Deutscher Ärztetag: Grundsatz-Programm

ist daher eine sorgfältige Ent- scheidung unter Abwägung aller Vor- und Nachteile über die Ver- wendung sowohl für den einzel- nen wie auch für die Solidarge- meinschaft erforderlich. Dabei sind sowohl die unbedingt nötige Solidarität als auch der Gestal- tungsfreiraum des Individuums, aber auch einzelner Solidarge- meinschatten und damit der Plura- lismus zu sichern und wenn mög- lich auszubauen und zu stärken.

Unter Beachtung auch all' dieser Umstände läßt sich feststellen:

e

Das System unserer geglieder- ten Sozialversicherung hat sich bewährt: Es ist der gemeinsamen Selbstverwaltung von Kranken- kassen und Ärzten gelungen, die ärztliche Versorgung der Bevölke- rung, Prävention und Rehabilita- tion, aber auch die übrige soziale Sicherung in Anbetracht der wis- senschaftlich begründeten Mög- lichkeiten der Medizin in großer Flexibilität auf ein Niveau zu brin- gen, das sich in der Welt überall sehen lassen kann.

e

Es besteht daher kein Anlaß, grundsätzliche Veränderungen in diesem System vorzunehmen - dennoch kann auch Bewährtes systemkonform weiterentwickelt werden. Es muß weiterentwickelt werden, wenn man in Anbetracht der enorm gestiegenen wissen- schaftlichen und technischen Möglichkeiten das System unserer sozialen Sicherung auch künftig finanzierbar erhalten will, ohne den Gestaltungsfreiraum des ein- zelnen in möglicherweise unzu- mutbarer und schließlich uner- träglicher Weise einzuschränken.

~ Aus diesem Grunde ist es auch nötig, heute vielleicht noch unpo- puläre Überlegungen darüber an- zustellen, wie dies erreicht werden könnte. Dazu gehören zum Bei- spiel Überlegungen, ob und inwie- weit die Solidargemeinschaften tatsächlich für alle Arten von Be- findensstörungen eintreten müs- sen, ob und inwieweit sie auch eintreten müssen, wenn durch fahrlässiges oder leichtsinniges

Verhalten Gesundheitsschäden hervorgerufen werden, wobei selbstverständlich sowohl die Fra- ge des Zusammenhangs als auch der Abgrenzung nicht ohne erheb- liche Schwierigkeiten zu beant- worten ist. Dennoch müssen der- artige Überlegungen emotionsfrei geführt werden dürfen. Sollte man nämlich zu der Folgerung kom- men, daß die Solidargemeinschaf- ten auch künftig für Folgen erwie- senermaßen gesundheitsschädi- genden Verhaltens eintreten müs- sen, schlösse ich folgerichtig die Überlegung an, welche Möglich- keiten für die Solidargemeinschaft bestünden, auf derart gesund- heitsschädigende Verhaltenswei- sen Einfluß zu nehmen. Das wie- derum könnte leicht zu einer im- mer weitergehenden Reglementie- rung aller Lebensumstände und einer Überwachung bis hin zu Eß- und Schlafgewohnheiten führen.

Für den grundsätzlich garantier- ten Gestaltungsfreiraum des ein- zelnen Bürgers bliebe auf diese Weise kein Raum mehr.

Selbstbeteiligungsmodelle erproben

~ Wenn aber dieser Weg nicht beschritten werden kann, muß nach anderen Möglichkeiten ge- sucht werden, die dem im Grund- gesetz verankerten Recht auf Ge- staltungsfreiraum des einzelnen entsprechen, andererseits aber auch seine individuelle Verantwor- tung für seine Entscheidungen mobilisieren. Dieser Weg dürfte am ehesten über Selbstbeteili- gungsmodelle erreicht werden können. Dieser Gedanke ist auch keineswegs so neu und so unver- einbar mit unserem System der so- zialen Sicherung, wie das in der öffentlichen Diskussion in einigen nur als polemisch zu bezeichnen- den Beiträgen dargestellt wird, denn auch unser heutiges Recht kennt bereits Wahlmöglichkeiten . und Selbstbeteiligungsregelun- gen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung, beispiels- weise die Direktbeteiligung an den Arzneikosten, bei Heil- und Hilfs- mitteln, bei Kosten für Kranken-

1448 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ARZTEBLATT

transport-die erst bei Überschrei- ten der Summe von 3,50 DM er- stattet werden - und besonders bei der Inanspruchnahme von Wahlleistungen im Krankenhaus.

Selbstverständlich dürfen Direkt- beteiligungsmodelle nicht durch zusätzlich zum Beitrag zu leisten- de Gelder die erste Inanspruch- nahme bei einer Neuerkrankung oder Verletzung erschweren oder unmöglich machen und auf diese Weise vielleicht die Gesundheit gefährden. Der Gedanke an eine Registrierkasse in einer Arztpraxis oder im Krankenhaus, die in einem sozialisierten System wie in Schweden durchaus üblich ist, kann also für die Bundesrepublik Deutschland getrost fallengelas- sen werden. Es geht auch nicht darum, den Ärzten zusätzliche Einnahmequellen zu erschließen, wie das in einem Zeitungsartikel kürzlich behauptet wurde. Selbst- beteiligungsmodelle, die auf ge- setzlicher Grundlage mit entspre- chend ermäßigtem Beitragssatz angeboten werden sollten, müs- sen von vornherein sicherstellen, daß die Sicherung aller Versicher- ten gegen das Krankheitsrisiko nicht beeinträchtigt, das Prinzip der Solidarhaftung der Versicher- tengemeinschaft nicht aufgege- ben wird und daß sie auch nicht zur Risikohäufung für bestimm- te Versicherungsgemeinschaften führen.

ln der Beratungsunterlage zur Weiterentwicklung der gesund- heits- und sozialpolitischen Vor- stellungen der deutschen Ärzte- schaft wird weder generell die Ein- führung von Selbstbeteiligungs- modellen, noch ein bestimmtes Selbstbeteiligungsmodell vorge- schlagen, es wird aber gefordert, auch über diese Möglichkeit zur Sicherung unseres freiheitlichen Systems auch in der Öffentlichkeit nachzudenken. Es ist also zu- nächst ein Aufruf zur gedankli- chen Selbstbeteiligung. Wer je- doch schon die Diskussion über diese Fragen ablehnt, bringt sich in den Verdacht, daß er durch Vor- enthaltung, geradezu durch Ent- eignung des Bürgers von Ent-

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83. Deutscher Ärztetag: Vilmar

scheidungs-und Gestaltungsmög- lichkeiten, durch lnstitutionalisie- rung der Medizin beabsichtigt, Machtpolitik zu betreiben.

Vorschläge

zur Krankenhausstrukturreform Überlegungen zur dauerhaften Fe- stigung unseres freiheitlichen Sy- stems der sozialen Sicherung müssen natürlich alle Bereiche mit einbeziehen und erstrecken sich damit auch auf das Krankenhaus- wesen. Hier wiederholt und be- kräftigt die Ärzteschaft noch ein- mal ihre seit nahezu einem Jahr- zehnt in der Öffentlichkeit vertre- tenen Vorschläge zur Reform der Struktur der Krankenhäuser und ihres ärztlichen Dienstes, die vom 80. Deutschen Ärztetag im Jahr 1977 in Saarbrücken um das koo- perative Belegarztsystem erweitert würden. Neben der erneuten Be- kräftigung und der Forderung, endlich im Interesse einer indivi- duellen ärztlichen Versorgung auch im Krankenhaus die wohl- durchdachten Vorschläge ver- mehrt in die Tat umzusetzen, wird aus diesen Vorschlägen beson- ders deutlich, daß sich die Ärzte- schaft keineswegs beharrlich neu- en Vorstellungen verschließt, son- dern selbst neue Vorstellungen entwickelt hat. Die Realisierung dieser Vorschläge der Ärzteschaft wird ebenso hartnäckig und mit ebenso großem Nachdruck gefor- dert, wie das Bewährte in unserem System, zu dem in ganz entschei- dendem Maße die Freiberuflich- keit des Arztes und seine berufli- che Entscheidungsfreiheit gehö- ren, heute und auch künftig vertei- digt wird. Maßstab dafür, ob das Neue oder das Bewährte das je- weils Bessere für die Zukunft ist, bleibt für die Ärzteschaft allein der Nutzen für eine möglichst gute in- dividuelle ärztliche Versorgung der Patienten.

Bedauerlicherweise kann man sich des Eindrucks nicht erweh- ren, daß diese Gedanken nicht immer und überall in der Poli- tik Richtschnur des Handeins

Aus dem "Blauen Papier

Selbstbeteiligung

zunächst in Modellen erproben

Während die Mitverantwortung des einzelnen an Art und Umfang seines Versicherungsschutzes in der priva- ten Krankenversicherung durch ent- sprechende persönliche Entschei- dungen über Art und Umfang des Versicherungsschutzes geprägt ist, bietet die gesetzliche Krankenversi- cherung eine so vollständige Absi- cherung, daß wirksame Anreize zu eigener Zurückhaltung bei Inan- spruchnahme von Versicherungs- leistungen fehlen.

Bis auf wenige Ausnahmen, zum Beispiel bei der freiwilligen Versi- cherung von Krankengeld, ist der Beitrag nach der wirtschaftlichen Lage des Versicherten unterschied- lich hoch: er wird in gleichen Pro- zentsätzen vom Lohn oder Einkom- men festgelegt. Auf diese Weise werden gesundheitliche Risiken, in- dividuelle Lebensweise und wirt- schaftliche Risiken durch Arbeits- unfähigkeit ohne weitere Entschei- dungen des Versicherten durch die Solidargemeinschaft abgedeckt.

Der Lohnabhängigkeit des Beitrages entspricht die Lohnabhängigkeit des Krankengeldes; alle übrigen Leistungen werden unabhängig von der Höhe des Beitrages nach ein- heitlichen Preisen bezahlt ... Wer- den der gesetzlichen Krankenversi- cherung durch den Gesetzgeber Aufgaben zugewiesen, die nicht die- sen Grundsätzen entsprechen, so muß de

r

Staat die Kosten hierfür übernehmen ...

Die Grenzen einer sozialen und so- lidären Versicherungsmöglichkeit sind dort erreicht, wo die Verant- wortung des einzelnen für ein ge- sundheitsgerechtes Verhalten und die Rücksicht der einzelnen Mitglie- der auf die finanzielle Belastbarkeit ihrer Versichertengemeinschaft sy- stematisch vernachlässigt werden.

Schon heute ist abzusehen, daß ein Sicherungsanspruch, der alle Risi-

ken von der geringsten bis zur größten finanziellen Belastung um- faßt, nicht von allen für alle bezahlt werden kann. Langfristig wird des- halb eine Rückverlagerung begrenz- ter wirtschaftlicher Risiken in die Entscheidung des einzelnen unver- meidlich sein, wenn die großen fi- nanziellen Risiken für alle finanzier- bar bleiben sollen. Andernfalls wird die Belastung der Arbeitseinkünfte mit kollektiven Abgaben extrem an- steigen, oder die

"Zuteilung

von Gesundheitsleistungen" im Sinne eines verwalteten Mangels wird zur Regel ...

Ohne das Bewußtsein eigener Ver- antwortung, auch für den Umfang der in Anspruch genommenen Lei- stungen, können solidare und so- ziale Einrichtungen auf Dauer nicht finanziert werden. Selbstbeteiligun- gen dienen

nic.~t

der Einkommens- erhöhung der Arzte, sondern erhö- hen ihre freiberuflichen Risiken. Da zumindest in der Bundesrepublik Deutschland noch niemand die Aus- wirkungen einer stärkeren Eigenver- antwortung und Mitbestimmung der Sozialversicherten durch Selbstbeteiligung ausreichend un- tersucht hat, sollten Selbstbeteili- gungsmodelle in einzelnen Lei- stungsbereichen auf gesetzlicher Grundlage alternativ zum zur Zeit gültigen Leistungsrecht erprobt werden.

Solche Selbstbeteiligungsmodelle dürfen

...,.. die Sicherung allerVersicherten gegen das Krankheitsrisiko nicht beeinträchtigen und

...,.. das Prinzip der Solidarhaftung der Versichertengemeinschaft nicht aufgeben.

...,.. Nicht zu einer Risikohäufung bei bestimmten Versichertengemein- schaften führen.

1450 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ARZTEBLATT

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Die Einführung einer Selbstbeteili- gung würde zwar, wie die Erfahrun- gen aus anderen Ländern mit Selbstbeteiligungssystemen zeigen, keine Garantie für eine Verringerung der Ausgaben der Versicherten

ins-

gesamt geben, sie würde aber Auf- gaben und Ziele der gesetzlichen Krankenversicherung durch die Mo- bilisierung individueller Verantwor- tungen ergänzen.

...,. Mit der Einführung von Selbst- beteiligungen wird die notwendige Beziehung zwischen der persönli- chen Inanspruchnahme aus eigener Entscheidung und der erbrachten Leistung wiederhergestellt.

...,. Die Transparenz von Leistungen und deren Kosten wird gesichert und damit die Mitverantwortung der Versicherten gestärkt.

...,. Die Abwägung des erforderli- chen Kostenumfanges im Krank- heitsfall kann unter Mitwirkung der Versicherten erfolgen

.

...,. Die Entscheidungsräume für den Grad der Absicherung werden erheblich erweitert; damit kann die Solidariüit einer Versichertenge- meinschaft gefördert werden.

...,. Eine direkte Beteiligung an den Kosten einer Heilbehandlung ist, wenn sie im Rahmen des sozial Zurnutbaren bleibt, auch geeignet, zu stärkerer Mitwirkung des Patien- ten am Heilungsprozeß anzuregen.

...,. Die Notwendigkeit, selbst Kon- sumverzicht im Krankheitsfall für sich und für erwachsene Mitversi- cherte leisten zu müssen, ist geeig- net, gesundheitsschädigendem Ver- halten entgegenzuwirken.

Solche Selbstbeteiligungsmodelle müßten von vornherein so zugeord- net und begrenzt werden, daß die wirtschaftliche und soziale Situation des einzelnen Versicherten ange- messen berücksichtigt wird.

Die Selbstbeteiligungsmodelle müßten daraufhin überprüft wer- den, ob

...,. durch sie in die Praxis des nie- dergelassenen Arztes keine zusätzli- chen administrativen Belastungen eingeführt werden und

...,. auch in Einrichtungen der ge- setzlichen Krankenversicherung der ökonomische Effekt der Selbstbetei- ligung nicht in unangemessener Weise durch Verwaltungsmehrauf- wand annulliert wird.

Der Besorgnis

,

Krankheiten oder Verletzungen könnten verschleppt werden

,

wenn Versicherte aus Sparsamkeit die Inanspruchnahme von ärztlichen oder anderen Versi- cherungsleistungen hinauszögern

,

könnte dadurch begegnet werden, daß die jeweils erste Inanspruch- nahme bei Neuerkrankung oder Verletzung von jeder Eigenleistung ausgenommen wird

.

Über allen Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten über Selbstbeteiligungen als Mittel der Kostendämpfung im Gesundheits- wesen oder als Steuerungselement im Sinne einer Mitverantwortung bei der Inanspruchnahme solidar fi- nanzierter Leistungen steht die ord- nungspolitische Bedeutung solcher Regelungen:

Unsere Gesellschaftsordnung will der einzelnen Persönlichkeit hohe Grundwerte garantieren. Dazu ge- hören Freiheiten, die den meisten Menschen sonst nicht offenstehen.

Ein kollektives soziales Sicherungs- system ohne entsprechende Ent- scheidungsfreiräume stünde dazu im Widerspruch. Es behindert die Eigenständigkeit und die Priorität bürgerlicher Pflichten und Rechte und schränkt diese in unnötiger Weise ein

.

in allen gesellschaftlichen Berei- chen der Bundesrepublik Deutsch- land sollte daher die Vielgestaltig- keit der Lebens- und Arbeitsbedin- gungen von innen her gesichert und die Verantwortung des einzelnen Bürgers für sich selbst und die Ge- meinschaft gestärkt werden.

83. Deutscher Ärztetag: Vilmar

sind. So scheinen alle bei Beginn der Beratungen zur Novellierung des Krankenhausfinanzierungsge- setzes vorhanden gewesenen gu- ten Vorsätze in den bald dreijähri- gen zahlreichen Verhandlungen und den anschließenden Be- schlüssen in Bundestag und Bun- desrat - bei dem offensichtlich von manchen als wesentlich wich- tiger eingeschätzten Gerangel um Kompetenzen- verlorengegangen zu sein. Die im Interesse einer möglichst guten ärztlichen Versor- gung der Patienten auch im Kran- kenhaus von der Ärzteschaft erho- benen Forderungen, ihre Mitwir- kung im Gesetzestext vorzusehen, blieben unberücksichtigt.

Es handelte sich dabei vor allem um Forderungen nach

...,. Mitentscheidung der Landes- ärztekammern beim Aufstellen der Krankenhausbedarfspläne der Länder gemäß § 5,

...,. entsprechende Mitwirkung bei der Aufstellung der Investitions- programme der Länder gemäߧ 7, ...,. Mitwirkung der Bundesärzte- kammer bei der Abstimmung von Planungsgrundsätzen auf Bun- desebene nach § 8,

...,. Mitentscheidung der Bundes- ärztekammer bei der Erarbeitung gemeinsamer bundesweiter Emp- fehlungen für die Wirtschaftlich- keit und Leistungsfähigkeit der Krankenhäuser, insbesondere für Personal-und Sachkosten, gemäß

§ 26 und

...,. stärkere Vertretung der Ärzte- schaft im zahlenmäßig nicht aus- zudehnenden Beirat nach § 36, dessen Zusammenarbeit mit dem Bund-Länder-Ausschuß nach § 35 darüber hinaus enger gestaltet werden sollte.

Es ist für die Ärzteschaft eine Selbstverständlichkeit, daß die Krankenhäuser in die Konzertierte Aktion einbezogen werden sollten, wenn diese Einrichtung in ihrer derzeitigen Form beibehalten wer-

den soll.

C>

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 22 vom 29. Mai 1980 1451

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83. Deutscher Ärztetag: Vilmar

Eine gewisse Berücksichtigung fand die Forderung auf Erhaltung der Pluralität der Krankenhausträ- gerschaft durch Modifizierungen im § 371 RVO.

Die am Gesetzgebungsverfahren in Bund und Ländern Beteiligten waren, unabhängig von ihrer Par- teizugehörigkeit, geradezu eifer- süchtig auf die Wahrung ihrer Kompetenzen bedacht. Um so leichter fielen ihnen aber die Ein- griffe in die Kompetenzen anderer durch Aufnahme von Vorschriften, die sich auf die Weiterbildung der Ärzte auswirken, die aufgrund lan- desgesetzlicher Bestimmungen den Ärztekammern übertragen ist, oder auch durch die bei keiner der zahlreichen Vorbesprechungen mit vielen Organisationen und Verbänden, also auch mit den ärztlichen Körperschaften je er- gänzte, in der Schlußberatung im Bundesrat eingeführte Bestim- mung, daß künftig die Landesge- sundheitsbehörden und die Kul•

tusminister einseitig bestimmen können sollen, in welchem Um- fang Polikliniken an der ambulan- ten kassenärztlichen Versorgung teilnehmen können und dann die gleichen Einzelvergütungssätze erhalten sollen wie Kassenärzte.

Es ist ein höchst ungewöhnlicher Vorgang, daß auf diese Weise eine Sachdiskussion über die außeror- dentlich schwerwiegenden Aus- wirkungen derartiger Bestimmun- gen in den zuständigen Ausschüs- sen des Deutschen Bundestages und des Bundesrates ebensowe- nig stattfinden kann wie eine Erör- terung dieser Thematik mit den übrigen betroffenen Organisatio- nen und Verbänden. Der Deutsche Bundestag hat nach dem Verhan- deln im Vermittlungsausschuß kei- ne Möglichkeit mehr, in eine Dis- kussion zur Sache einzutreten; er kann nur noch den Vermittlungs- vorschlag annehmen oder ableh- nen. Es widerspricht jedoch mei- nes Erachtens dem inneren Sinn von Demokratie, wenn die Diskus- sion über möglicherweise tiefgrei- fende strukturelle Veränderungen schon aus formalen Gründen un- möglich gemacht wird.

Massiver Eingriff in die Selbstverwaltung

Würde diese Bestimmung tatsäch- lich Gesetzeskraft erlangen, käme das nicht nur einem massiven Ein- griff in die gemeinsame Selbstver- waltung von Ärzten und Kranken- kassen gleich, sondern würde dar- über hinaus einen weiteren, ge- nauso erheblichen wie unange- messenen Kostenschub auslösen.

Man fragt sich, warum ausgerech- net die Vertreter der Länder mit der im Bundesrat bestehenden Mehrheit von CDU und CSU entge- gen den Sonntags- oder Montags- reden ihrer Minister mit der Ein- führung derartiger Bestimmungen zentrale Anliegen unseres freiheit- lichen Gesundheitssystems aufs Spiel setzen und wegen der bis- lang angeblich zu geringen Vergü- tung der Leistungen von Poliklini- ken im ambulanten Bereich, die ja wesentlich wegen der Forschung und Lehre erfolgen und nicht in erster Linie zur Versorgung der Patienten gedacht sind, gleichsam aus Kostengründen ein Stück Frei- heit für ein Linsengericht zu ver- kaufen beabsichtigen.

Es stimmt zumindest nachdenk- lich, wenn die gleiche Gesund- heitsministerkonferenz, wegen der Personalsituation in den Kran- kenhäusern auf die Revision ihres Beschlusses auf Anwendung der überholten Anhaltszahlen von 1969 angesprochen, sich als nicht zuständig betrachtet und an die Verantwortung der Selbstverwal- tung appelliert.

Da sich der Vermittlungsausschuß des Deutschen Bundestages und des Bundesrates am 22. Mai 1980 mit dem gesamten Gesetzentwurf befassen wird, seien hier noch- mals die Forderungen der Ärzte- schaft unterstrichen. Wenn es nicht gelingt, noch in letzter Minu- te entsprechende Veränderungen vorzunehmen, ist es besser, kein

neues Gesetz zu haben als dieses;

dem Patienten wäre mehr gedient.

Wenn dies mit Bezeichnungen wie

„Schlußstein der Kostendämp-

fungsgesetzgebung" oder „Stär- kung der Selbstverwaltung" ange- priesene Paragraphenwerk in der jetzt vom Bundesrat dem Vermitt- lungsausschuß zugeleiteten Form Gesetz würde, könnten aus dem

„Schlußstein" rasch Mühlsteine werden, zwischen denen nicht nur die berechtigten Interessen von Patienten, Ärzten und anderen im Krankenhaus Tätigen, sondern auch wesentliche Belange der ge- meinsamen Selbstverwaltung und außerdem Existenzmöglichkeiten freiberuflich tätiger Ärzte zerrie- ben werden könnten.

Eine auf diese Weise eingeleitete Institutionalisierung der Medizin und der ärztlichen Versorgung be- rührt aber nicht nur die Ärzte, son- dern beeinträchtigt in hohem Ma- ße auch die Beziehungen des Pa- tienten zum Arzt, weil dadurch das heute dem Patienten zustehende Recht auf freie Arztwahl weitge- hend aufgelöst würde. Ähnliche Auswirkungen sind auch zu erwar- ten, wenn sich die Tendenz fort- setzt und verstärkt, Teilbereiche der Medizin oder bestimmte Krankheitsgruppen zum Gegen- stand politischer Aktivitäten zu machen, die dann in die Forde- rung münden, jeweils entspre- chende Abteilungen an allen Kran- kenhäusern mit der Berechtigung zur ambulanten Versorgung oder

„Zentren" zu schaffen, so z. B. in dem Bericht der Bundesregierung an den Bundestag über Maßnah- men zur Rheumabekämpfung, wo es in der Zusammenfassung heißt:

„Im Bemühen um eine wohnortna- he Versorgung der in Betracht kommenden Rheumakranken ist es erforderlich, die bisherigen sta- tionären Spezialeinrichtungen in einem noch abzuklärenden Um- fange durch Rheuma-Abteilungen an allgemeinen und anderen Kran- kenhäusern zu ergänzen, wofür in erster Linie umstrukturierende Maßnahmen in Betracht kommen.

Bund und Länder werden sich ge- meinsam zu bemühen haben, zu- mindest für diese Abteilungen auch ambulante Betätigungsmög- lichkeiten zu eröffnen, die zusam- men mit niedergelassenen Spezia-

1452 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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GRUSSWORTE AN DEN 83. DEUTSCHEN ÄRZTETAG

An den Präsidenten des Deutschen Ärztetages Herrn Dr. med. Karsten Vilmar Sehr geehrter Herr Dr. Vilmar Die Delegierten und Gäste des 83. Deutschen Ärztetages in Berlin grüße ich im Namen der Sozialdemokratischen Bundes- tagsfraktion.

Die Diskussion um die Aus- und Weiterbildungsvorschriften für Ärzte werden dem Berliner Ärz- tetag ein besonderes Gewicht geben. Die SPD-Bundestags- fraktion hofft sehr, daß die deutschen Ärzte zu überzeu- genden und tragfähigen ge- meinsamen Vorstellungen zu- sammenfinden können. Eine Ärzteschaft, die in dieser für sie fundamentalen Frage in Mehr- heit und Minderheit gespalten ist, kann bei den erforderlichen gesetzgeberischen Arbeiten ei- ne wichtige Funktion nicht mehr erfüllen: den Politikern mit Rat zur Seite zu stehen. Für die SPD-Bundestagsfraktion wäre es kaum denkbar, bei ei- ner in dieser Frage gespaltenen Ärzteschaft für eine Seite Partei ergreifen zu müssen.

Wir haben die Pflicht, allen Ärz- ten zu ihrem Recht zu verhel- fen, sowohl den niedergelasse- nen Fachärzten und den Kran- kenhausärzten als auch den niedergelassenen Allgemein- und Hausärzten. Dazu ist erfor- derlich, daß sie sich zu Auffas- sungen zusammenfinden, die deshalb tragfähig sind, weil sie nicht der Minderheit den Ein- druck vermitteln, von der Mehr- heit übergangen worden zu sein.

Derzeit befindet sich die wichti- ge Novelle des Krankenhausfi- nanzierungsgesetzes im Ver- mittlungsausschuß von Bun- destag und Bundesrat. Für mei-

ne Fraktion habe ich bereits mehrfach deutlich gemacht, daß schon während der Geset- zesberatungen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages den Vorstellungen der Bundeslän- der weit entgegengekommen wurde. Wir wollen, daß dieses Gesetz in Kraft treten kann, es gibt jedoch Grenzen in der Ver- mittlungsfähigkeit der unter- schiedlichen Auffassungen von Bundestag und Bundesrat. Ich könnte mir nicht vorstellen, daß die SPD-Bundestagsfraktion ei- nem Vermittlungsvorschlag zu- stimmt, der die entscheidenden Aussagen des Gesetzes noch weiter verwässert. Dies gilt ins- besondere für die erforderliche Einbeziehung des Kranken- hausbereichs in die Empfeh- lungskompetenz der Konzer- tierten Aktion des Gesundheits- wesens.

Andererseits kann die SPD- Bundestagsfraktion nicht die Einschätzung einiger Ärztever- bände teilen, nach der keine Novelle des Krankenhausfinan- zierungsgesetzes besser sei als diese. Das vorliegende Gesetz ist nicht nur vertretbar, es be- deutet echte Fortschritte. Es wäre gut, wenn diese Ärztever- bände deutlich machen wür- den, daß ihre Einschätzung nicht diejenigen Maßnahmen vorbereiten soll, die nur in einer Aufkündigung ihrer Mitarbeit in der Konzertierten Aktion enden können. Dies allerdings würde den entschlossenen Wider- stand der SPD-Bundestagsfrak- tion finden.

Dem 83. Deutschen Ärztetag wünsche ich einen guten Ver- lauf.

Mit freundlichen Grüßen Herbert Wehner

Vorsitzender

der SPD-Bundestagsfraktion

An den Präsidenten der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages Herrn Dr. Karsten Vilmar 83. Deutscher Ärztetag

Sehr geehrter Herr Dr. Vilmar!

Ihnen und allen Teilnehmern des 83. Deutschen Ärztetages sende ich herzliche Grüße.

Der Deutsche Ärztetag hat sich für die diesjährige Sitzung die Aktualisierung und Erweite- rung der Gesund heits- und So- zialpolitischen Vorstellungen der Deutschen Ärzteschaft vor- genommen.

Angesichts der enormen Bela- stung des Gesundheitswesens ist dies sicher keine leichte Auf- gabe. Voraussetzung für ein realitätsnahes Programm muß meines Erachtens die Erkennt- nis sein, daß den Leistungs- möglichkeiten unseres Ge- sundheitswesens finanzielle Grenzen gesetzt sind. Leitvor- stellung muß jedoch die ange- messene Versorgung bei medi- zinischer Wirksamkeit und ver- tretbarem Aufwand sein.

Von allen Beteiligten des Ge- sundheitswesens ist verant- wortliches und wirtschaftlich begründetes Handeln gefor- de rt.

Nur dann werden wir das auf freiheitlichen Grundvorstellun- gen aufgebaute Gesundheits- wesen auf Dauer sichern kön- nen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihren Beratungen einen erfolg- reichen Verlauf und erwarte mit Interesse das Ergebnis Ihrer Beratungen.

Mit freundlichen Grüßen Dr. Heiner Geißler Generalsekretär der CDU

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 22 vom 29. Mai 1980 1453

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GRUSSWORTE AN DEN 83. DEUTSCHEN ÄRZTETAG

An den Präsidenten der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages Herrn Dr. Karsten Vilmar Sehr geehrter Herr Dr. Vilmar Zur Eröffnung des 83. Deut- schen Ärztetages sende ich Ih- nen als dem Präsidenten dieser traditionsreichen repräsentati- ven Versammlung der deut- schen Ärzteschaft die Grüße der FDP-Bundestagsfraktion.

Mein Kollege Hansheinrich Schmidt wird mehrere Tage an Ihren Veranstaltungen in Berlin teilnehmen und die gewonne- nen Erkenntnisse in die Arbeit der FDP-Bundestagsfraktion einbringen. Wir Freien Demo- kraten legen Wert auf einen en- gen, nicht abreißenden politi- schen Gedankenaustausch mit den Repräsentanten der deut- schen Ärzteschaft. Als gute Ba- sis hierfür betrachten wir den Entwurf des fortgeschriebenen

„Blauen Papiers", das liberalen Geist atmet. Dessen Beratung und Verabschiedung werden wir deshalb mit Interesse ver- folgen.

Mit freundlichen Grüßen Wolfgang Mischnick Vorsitzender

der FDP-Bundestagsfraktion

Dem 83. Deutschen Ärztetag in Berlin meine herzlichsten Grü- ße. Ich begrüße es, daß das Par- lament der deutschen Ärzte- schaft in diesem Jahr den freien Teil Berlins als Tagungsstätte gewählt hat, weil die Bindun- gen Berlins zur Bundesrepublik und seine Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft auch untrennbare Richtschnur unserer Politik sind. Mein Dank und meine Anerkennung gelten der deutschen Ärzteschaft. In

einem beispiellosen Einsatz an Arbeitskraft und Arbeitszeit, oft bis an die Grenze des Men- schenmöglichen und unter Ver- zicht auf für viele selbstver- ständlich gewordene soziale Errungenschaften, erfüllen die Ärzte ihren verantwortungsvol- len Dienst am kranken Men- schen, in der Forschung, bei der Ausbildung junger Men- schen und in den vielen Zwei- gen des öffentlichen Dienstes.

Die deutsche Ärzteschaft und der Deutsche Ärztetag nehmen immer wieder in leidenschaftli- chen Diskussionen und mit wei- terführenden Vorschlägen An- teil an der freiheitlichen Gestal- tung unseres Gesundheitswe- sens und damit an der freiheitli- chen Entwicklung unserer Ge- sellschaft. Auch dafür meinen herzlichen Dank. Ich bin über- zeugt, daß die deutsche Ärzte- schaft diese unsere Freiheit auch in Zukunft gegen Soziali- sierung und starres Zunftden- ken verteidigen wird. Denn bei- de sind rückwärtsgewandt, rückständig und überholt. Wir sind mit dem Beginn der 80er Jahre in das kritischste Jahr- zehnt dieses Jahrhunderts ein- getreten. Weltpolitische Verän- derungen, weltwirtschaftliche Herausforderungen und innere Fehlentwicklungen bedrohen Frieden, Freiheit und Sicher- heit. In der dramatisch verän- derten außenpolitischen Lage brauchen wir ein freiheitli- ches, solide finanziertes und menschliches Gesundheitswe- sen, das qualitativ hochwertig und quantitativ leistungsfähig ist, um die Belastungen und Ri- siken dieses Krisenjahrzehnts zu bestehen. Verbesserungen unseres Gesundheitswesens dürfen dabei nicht seine äußere und innere Freiheit gefährden.

Auch die Verbesserung der ärzt- lichen Ausbildung darf nicht auf Kosten derjenigen jungen

Menschen gehen, die mit Idea- lismus und Leidenschaft den Beruf des Arztes zum Lebens- ziel gewählt haben. Ich wün- sche Ihnen allen für die Zukunft Kraft und Mut. Sie können dar- auf vertrauen, daß die Unions- parteien Sie bei Ihrem Dienst am Gemeinwohl und Ihrem Ein- treten für unsere freiheitliche Ordnung mit aller Entschieden- heit unterstützen werden.

Franz Josef Strauß Vorsitzender

der Christlich-Sozialen Union Bayerischer Ministerpräsident

An den Präsidenten des Deutschen Ärztetages Herrn Dr. Karsten Vilmar Die CDU-Fraktion des Abgeord- netenhauses von Berlin grüßt den 83. Deutschen Ärztetag in Berlin als legitime Vertretung der deutschen Ärzteschaft und wünscht seinen gesundheits- politischen Beratungen und Entscheidungen ein gutes Er- gebnis. Die Berliner CDU be- grüßt die Bemühungen der deutschen Ärzteschaft, ihrer Selbstverwaltungskörperschaf- ten und ihrer freien Verbände um eine laufende Verbesserung der ärztlichen Versorgung un- serer Bevölkerung im Rahmen des bestehenden und bewähr- ten Systems unseres Gesund- heitswesens. Die Berliner CDU lehnt daher die erkennbaren Tendenzen zur Systemverände- rung und Sozialisierung des deutschen Gesundheitswesens ab, wie sie von einer Minderheit der Ärzteschaft spektakulär ge- fordert wird.

Heinrich Lummer

Vorsitzender der CDU-Fraktion des Abgeordnetenhauses von Berlin

1454 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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83. Deutscher Ärztetag: Vilmar

listen und mit Hilfe von wohnort- nahen Therapiemöglichkeiten die umfassende Versorgung der Rheumakranken sicherzustellen haben."

Zentrierung der Medizin Erinnert sei in diesem Zusammen- hang auch an Überlegungen zur Schaffung von Tumorzentren, Kin- derzentren, Betriebsarztzentren, Schmerz- und Sterbekliniken, und ähnlichem mehr. Sicher arbeiten die Ärzte schon immer patienten- zentriert. Bei so viel Zentralisie- rung ist man aber doch versucht, ironisch zu fragen, wird denn Me- dizin erst durch Zentren schön?

Durch eine derartige Zentrierung ist aber neben der Beeinträchti- gung des Vertrauensverhältnisses zwischen Patient und Arzt auch die Möglichkeit gegeben, daß Be- lange des Patienten berührt wer- den, wenn in großem Umfang per- sonenbezogene Gesundheitsda- ten und andere, eventuell vertrau- lich zu behandelnde Angaben ge- speichert oder sogar einem Daten- verbund zugeführt werden. Eine Entwicklung, die natürlich auch in allen anderen Bereichen, wo heu- te Daten erhoben werden, eintre- ten kann, besonders dann, wenn weitgehende Meldepflichten in Spezialgesetzen verankert wer- den, die die im Strafgesetzbuch geregelte Schweigepflicht, die auch für den Arzt gilt, weitgehend durchlöchern.

So ist im saarländischen Gesetz über das Krebsregister zu lesen, bestimmte Personenkreise, zu de- nen Ärzte gehören, „handeln auch ohne Einwilligung der Betroffenen weder rechts- noch standeswidrig, wenn sie dem Krebsregister unter Verwendung des in § 8 genannten Formblattes die für die Erhebung nach § 4 dieses Gesetzes erforder- lichen Daten mitteilen". Und einen Absatz weiter heißt es: „Standes- rechtliche Vorschriften, die ei- ner Tatsachenmitteilung an das Krebsregister nach Abs. 1 entge- genstehen, finden keine Anwen- dung". Die ärztliche Schweige-

pflicht ist keine standesrechtliche Vorschrift, sondern sie ist im Straf- gesetzbuch geregelt.

Und im Gesetzentwurf der Bun- desregierung für ein Chemikalien- gesetz wird verlangt, daß die Landesbehörden an das Bun- desgesundheitsamt alle bekannt gewordenen Krebserkrankungen, Fruchtschädigungen oder Erbgut- veränderungen beim Menschen zu melden haben. Es wird dann wei- ter detailliert ausgeführt:

„Die Meldung hat Angaben über 1. den Verlauf der Krankheit 2. Stoffe und Zubereitung, die die Erkrankung hervorgerufen haben können,

3. die Beschreibung der Krank- heitserscheinungen,

4. die angewendete Behandlung und deren Erfolg,

5. die Vorkrankheiten,

6. Risikofaktoren, insbesondere Rauchergewohnheiten, Alkohol- und Arzneimittelmißbrauch, und 7. die Sicherung der Diagnose zu enthalten".

Selbst wenn derartige Daten an- onymisiert gesammelt und weiter- gegeben werden sollen — was je- doch auch nicht in jedem Fall vor- gesehen ist —, wird kaum ein Pa- tient, der den Arzt aufsucht, an- nehmen, daß dieser derart um- fangreiche Meldungen über ihn nicht „nur" bezüglich seiner jetzi- gen Erkrankungen, sondern auch über sein gesamtes Vorleben an dritte Stellen machen soll. Bei dem Umfang der zur Meldung vor- gesehenen Tatbestände fragt man sich, ob die im Grundgesetz unter den Grundrechten aufgeführten Bestimmungen zur Wahrung des Brief-, Post- und Fernmeldege- heimnisses oder über die Unver- letzlichkeit der Wohnung noch Sinn haben, wenn mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung

sogar in der eigenen Wohnung nicht mehr Schutz vor fremden Einblicken gegeben ist als in einer Klarsichtpackung.

Hohe Anforderungen an den Datenschutz

Es ist unbestritten, daß epidemio- logische Forschung Daten benö- tigt und den Einsatz von Compu- tern erfordert. Ohne solche Daten sind kaum langfristige Zusammen- hänge, zum Beispiel bei der Ent- stehung bösartiger Neubildungen oder chronischer Krankheiten, aufzudecken. Es muß jedoch si- chergestellt sein, daß eine klare Trennung von medizinischen und Verwaltungsdaten erfolgt, daß ei- ne personenbezogene Datenspei- cherung und ein personenbezoge- ner Datenaustausch nur mit Zu- stimmung des Betroffenen erfol- gen, daß nicht Abrufmöglichkeiten auf der Grundlage einer General- ermächtigung eingeführt werden, deren Auswirkungen niemand übersehen kann, sondern daß dies nur aufgrund aktueller Willenser- klärungen des Betroffenen mög- lich ist. An den Möglichkeiten der Datenerfassung und der epide- miologischen Forschung wird be- sonders deutlich das Spannungs- feld zwischen den Interessen des Individuums und den Interessen der Gemeinschaft. Es müssen da- her auch hier ethisch-moralische Grenzen trotz aller verständlichen wissenschaftlichen Neugier be- achtet werden, um den Schutz des Individuums und seiner Persön- lichkeitsrechte zu sichern und den Menschen nicht in den Status ei- nes Versuchstieres herabzuwür- digen.

Bei der Beratung über die Weiter- entwicklung der gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft sind ei- ne Reihe weiterer Themen zu erör- tern, die teils Grundfragen des Le- bens berühren, teils von ver- gleichsweise geringerer Bedeu tung sind, weil es sich lediglich um mehr oder weniger starke ad- ministrative Einflüsse auf die ärzt- liche Versorgung handelt.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 22 vom 29. Mai 1980 1455

(15)

Aus dem "Blauen Papier"

Gesundheitspolitik- im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft

Im freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat wird die in den politi- schen Gesamtzusammenhang ein- gefügte Gesundheitspolitik

~

bestimmt durch den Wert der Gesundheit als eines wesentlichen Elementes der persönlichen Exi- stenz des Menschen

~

begrenzt durch den Vorrang des Grundrechtes der Menschen auf Schutz der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit.

Im freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat muß die Sozialpolitik

~

die für die Entfaltung der indivi- duellen Freiheit notwendige soziale Sicherheit schaffen

~

den Ausgleich der unterschiedli- chen individuellen Chancen und Ri- siken in der Gesellschaft ermögli- chen.

Wie alle politischen Aufgaben liegen die gesundheitspolitischen und so- zialpolitischen Aufgaben im Span- nungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Aufgaben des Staates müssen mit der persönli- chen Verantwortung des einzelnen abgestimmt sein.

Das rechtsstaatliche Bekenntnis zum Vorrang der Freiheit der Per- son bedeutet, daß jeder Mensch für die Gestaltung seines eigenen Le- bens zunächst selbst verantwortlich ist. Gesundheitspolitik und Sozial- politik dürfen die persönliche Ver- antwortlichkeit und Verantwor- tungsbereitschaft für die eigene Le- bensführung nicht schwächen, ab- bauen oder zerstören. Gesundheits- politik und Sozialpolitik müssen die persönliche Verantwortlichkeit viel- mehr fördern und

ihr zur Entfaltung

verhelfen. Die gesundheitspoliti- sche Aktivität des Staates muß sich darauf richten, hierfür die Möglich- keiten zu schaffen, indem sie den Menschen vor nachteiliger Beein- flussung von außen bewahrt und ihm die Chance zu individueller Ent- faltung gibt.

Aus dem Vorrang der gesundheitli- chen Verantwortung des einzelnen vor der Verantwortlichkeit der Ge- sellschaft und des Staates ergibt sich eine abgestufte Verantwortung nach dem Subsidiaritätsprinzip.

Nicht jede Aufgabe, die das Vermö- gen des einzelnen übersteigt, ist sogleich eine Aufgabe des Staates.

Zahlreiche Gemeinschaften und ge- sellschaftliche Gruppen - von der Familie bis zu kirchlichen Organisa- tionen und Versichertengemein- schatten - müssen hier je nach ih- ren verschiedenen Aufgaben und Möglichkeiten wesentliche gesund- heitspolitische Verantwortungsbe- reiche

übernehmen.

Die abgestuf- ten Verantwortungsbereiche be- treffen

~

die persönliche Verantwortung

~

die soziale, d.h. mitmenschli- che oder Gruppenverantwortung

~

die staatspolitische Verantwor- tung.

Ziel der auf die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit ge- richteten Gesundheitspolitik und Sozialpolitik muß es sein, den best- möglichen Effekt durch rationellen Einsatz der Mittel zu erreichen.

Zwangsmaßnahmen sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie zum Schutz der Allgemeinheit unerläßlich sind.

Wirksame Mittel der Gesundheits- politik und Sozialpolitik sind:

~

Einflußnahme auf Handeln und Verhalten der Bürger durch Bildung und Aufklärung sowie durch die Ge- setzgebung

~

Verwaltung (Organisation) der territorial organisierten Rechtsge- meinschaften und partieller Sozial- gebilde

~

öffentliche Investitionen und Subventionen.

ln einer freiheitlichen Gesellschafts- ordnung läßt sich Gesundheitspoli-

1456 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ARZTEBLATT

tik nur in verantwortlicher Zusam- menarbeit zwischen dem Staat und seinen Bürgern und der sachver- ständigen Ärzteschaft verwirkli- chen.

Die in der Präambel zur Satzung der Weltgesundheitsorganisation gege- bene Definition des Begriffes

"Ge-

sundheit" als "der Zustand des vollständigen körperlichen, geisti- gen und sozialen Wohlbefindens"

kann in dieser universalen und tota- len Form nicht Grundlage einer Ortsbestimmung der Gesundheits- politik sein. Dieser Gesundheitsbe- griff ist irreal. Gesundheit ist die aus der personalen Einheit von sub- jektivem Wohlbefinden und objekti- ver Belastbarkeit erwachsende kör- perliche und seelische, individuelle und soziale Leistungsfähigkeit der Menschen ... Es gibt ein weites Feld fließender Ubergänge zwischen Ge- sundheit und Krankheit. Sozialpoli- tik und Gesundheitspolitik müssen dem gerecht werden.

Gesundheitspolitik und Sozialpolitik sind gleichrangige Elemente der all- gemeinen Politik. Nur die eigen- ständige Handhabung von Gesund- heitspolitik und Sozialpolitik sichert die sachgerechte Beachtung ihrer unterschiedlichen Kriterien.

Die Eigenständigkeit der Gesund- heitspolitik ergibt sich aus ihrer Aufgabe

~

die bestmöglichen Vorausset- zungen für Schutz, Förderung, Er- haltung und Wiederherstellung der Gesundheit jedes einzelnen Men- schen zu schaffen

~ in

Abstimmung mit der Bil- dungs-, Wirtschafts-, Finanz- und Rechtspolitik sowie mit der eigen- ständigen Sozialpolitik eine optima- le Berücksichtigung des Gesund- heitswesens innerhalb der Einheit der gesamtpolitischen Zusammen- hänge zu ermöglichen.

Die Eigenständigkeit der Sozialpo- litik

~

bildet die Grundlage für soziale Gerechtigkeit und sozialen Aus- gleich

~

anerkennt den gesellschaftli-

chen Pluralismus.

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