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Archiv "Gesundheits- und Sozialpolitik" (31.05.1979)

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Gesundheits- und Sozialpolitik

Referat zu Tagesordnungspunkt 1:

Weiterentwicklung der gesundheits- und

sozialpolitischen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft Dr. med. Karsten Vilmar, Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages

Die Gesundheits- und Sozialpolitik ist eingebettet in den Rahmen der allgemeinen Politik. Bei aller not- wendigen Eigenständigkeit von Gesundheits- und Sozialpolitik be- stehen vielfältige Beziehungen zu anderen Bereichen der Politik, so insbesondere zur Wirtschaftspoli- tik, zur Bildungspolitik, zur Infor- mationspolitik und zur Gesell- schaftspolitik im allgemeinen. Be- wegungen und Veränderungen in einem Sektor können sehr kurzfri- stig die verschiedenen anderen Bereiche spürbar beeinflussen, weit häufiger machen sie sich je- doch erst langfristig mit zunächst nicht für jeden erkennbaren ge- wollten oder unbeabsichtigten er- heblichen Auswirkungen bemerk- bar, die dann geradezu den Cha- rakter revolutionärer Umwälzun- gen annehmen können. Schwer- wiegend sind derartige Verände- rungen besonders dann, wenn sich bei langfristigen Konzeptio- nen in einem Bereich die für ein Gelingen unabdingbaren Voraus- setzungen in einem anderen Be- reich grundlegend verändern, oh- ne daß nunmehr die Möglichkeit — oder der Wille — besteht, die ur- sprüngliche Konzeption zu verän- dern.

Für die Gesundheits- und Sozial- politik und damit für die Arbeit der ärztlichen Selbstverwaltung sind die Veränderungen in der Wirt- schaftspolitik deshalb so gravie- rend, weil die Rezession, die nach der Ölkrise im Jahre 1973 einsetz- te, das auf der Grundlage stets ex- pandierender Märkte und eines beständigen Wachstums beruhen- de System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutsch- land in Schwierigkeiten brachte.

Sie verschärften sich noch durch

eine gleichzeitig verlaufende Ver- änderung in der Bevölkerungs- struktur mit einem starken Gebur- tenrückgang und einer überpro- portionalen Zunahme des Anteils alter Menschen an der Gesamtbe- völkerung. Ein für 1982 errechne- tes Defizit in Höhe von rund 30 Milliarden DM in der Rentenversi- cherung war die Folge, zu der die in guten Zeiten in der Erwartung weiteren stürmischen Wachstums beschlossenen Verbesserungen der Sozialleistungen mit Renten- dynamisierung und Abkehr vom Kapitaldeckungsverfahren zum Abschnittsdeckungsverfahren und schließlich zum Umlageverfahren entscheidend beitrugen. Eine Überwälzung von Lasten durch Kürzung der Zahlungen der Ren- tenversicherung an die Kranken- versicherung in Milliardenhöhe verbesserte zwar zunächst die Si- tuation der Rentenversicherung, verschärfte aber andererseits die Folgen der Rezession in der Kran- kenversicherung.

Ein weiterer Schub in Richtung auf tiefgreifende Veränderungen des Systems unserer sozialen Si- cherung ist für 1984 zu befürch- ten. Zu diesem Zeitpunkt muß auf- grund eines Beschlusses des Bun- desverfassungsgerichtes die An- gleichung der Renten von Mann und Frau erfolgen. Es ist hier nicht der Ort, die verschiedenen Vor- schläge für eine Lösung dieses Problems zu erörtern, doch soviel ist wohl auch ohne Vertiefungen in alle Details auf den ersten Blick zu erkennen: Eine derartige Umver- teilung wird ohne Senkung der

Leistungen in den oberen Berei-

*) Der Text wurde um einige Passagen, die Hinweise auf den Ablauf des Arztetages enthielten, gekürzt.

weiter intensiviert werden muß.

Die SPD-Bundestagsfraktion ist hierzu bereit.

Ich wünsche Ihrer Veranstal- tung einen erfolgreichen Ver- lauf.

Es grüßt in vorzüglicher Hoch- achtung

Ihr

gez. Herbert Wehner

Vorsitzender der SPD-Bundes- tagsfraktion"

„Sehr geehrter Herr Dr. Vilmar Die wichtigsten Fragen dieses Ärztetages sind für mich die Gesundheits- und Sozialpolitik der deutschen Ärzteschaft und die der notleidenden ärztlichen Ausbildung. Diese beiden The- men — ein programmatisches und ein aktuell praktisches — scheinen mir der deutschen Ärzteschaft eine vorzügliche Gelegenheit zu bieten, eine aktuelle Standortbestimmung vorzunehmen. Ich bin davon überzeugt, daß die wichtigen li- beralen Ansätze Ihres „Blauen Papiers", das auch in der Pro- grammatik der FDP mit Ein- gang gefunden hat, bei der Fortschreibung Ihres Program- mes bestimmend sein werden.

Die FDP tritt für ein fortschrittli- ches Gesundheitswesen ein und lehnt dirigistische Lösun- gen ab. Mit jedem liberalen Re- formvorschlag von seiten der Ärzteschaft — insbesondere zum aktuellen Problem der Ärz- teausbildung — werden Sie in der FDP einen aufgeschlosse- nen Partner finden. In diesem Sinne wünsche ich dem 82.

Deutschen Ärztetag erfolgrei- che Beratungen.

Ihr

gez. Hans-Dietrich Genscher Vorsitzender der FDP

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chen nicht möglich sein, denn aus irgendeiner Quelle müßten die neuen Leistungen ja finanziert werden. Und durch den Druck neuen Geldes ist das Problem mit Sicherheit nicht zu lösen, weil dies zwangsläufig zu einer in allen Fol- gen kaum abzuschätzenden Ge- fährdung unseres Wirtschaftsge- füges führen müßte.

Es wird in den nächsten Jahren eine der wichtigsten Aufgaben der ärztlichen Selbstverwaltung sein, gemeinsam mit Partnern aus an- deren Berufen die für die Freibe- ruflichkeit und die berufliche Un- abhängigkeit wichtigen, in eigener Initiative und Verantwortung auf- gebauten gut funktionierenden berufsständischen Versorgungs- werke weiter auszubauen und zu vermeiden, daß sie in den bei der- artigen Umverteilungen mögli- cherweise entstehenden Strudel gerissen werden.

Vom „Bildungsnotstand" zum Überangebot an Akademikern In dieser durch die lang anhaltende Rezession grundlegend veränder- ten Szenerie erscheinen die Fol- gen der Bildungspolitik der 60er Jahre mit der seinerzeit als unum- gänglich erachteten Mobilisierung der Bildungsreserven in einer ganz neuen Dimension. Wenn damals zur Vermeidung eines angeblich in Kürze eintretenden Bildungsnot- standes zur Sicherung der Kon- kurrenzfähigkeit der Wirtschaft und aus Gründen der Chancen- gleichheit die Zahl der Schüler weiterführender Schulen — und damit in der Folge die Zahl der Abiturienten und Hochschulabsol- venten — drastisch erhöht wurde, so fragt man sich angesichts des heute bestehenden Überangebo- tes an Akademikern wie Lehrern, Politologen, Soziologen, Juristen und Psychologen, ob die Maßnah- men zur Vermeidung des angebli- chen Notstandes nicht geradezu eine Katastrophe herbeiführen werden oder in manchen Berei- chen schon herbeigeführt haben.

In der Medizin sind gleichlaufende Entwicklungen im Gang. Zwar gibt

es bis heute sicher keine „Ärzte- schwemme", es mögen sogar in manchen Bereichen noch Mängel bestehen, wie in einigen Zeitun- gen gesagt wurde, man müßte je- doch mit Blindheit geschlagen sein, um angesichts der seit Jah- ren steigenden und 1978 bereits bei rund 11 000 Studienanfängern in der Medizin pro Jahr liegenden Studentenzahlen nicht zu erken- nen, daß ein Überangebot an Ärz- ten die Folge sein wird, wenn die- se Studenten ihr Studienziel er- reicht haben werden. Nach Hoch- rechnungen ist wegen der gebur- tenstarken Jahrgänge im Jahre 1984 sogar mit rd. 15 000 Studien- anfängern in der Medizin zu rechnen.

Demgegenüber stellte eine im Auf- trage der Bundesregierung von der Firma Mc Kinsey erarbeitete Studie im Jahre 1974 — also noch zu Zeiten der allgemeinen Wachs- tumsgläubigkeit — fest, daß etwa 6000 Studienanfänger pro Jahr in der Medizin nötig seien, um die ärztliche Versorgung im Jahr 2000 zu sichern und eine Arztdichte von 1:340 gegenüber heute von 1:474 zu erreichen. Da Mc Kinsey damals davon ausging, daß nicht alle Stu- dienanfänger der Zahl nach auch das Examen machen, was sich durch „Seitwärtseinsteiger" und

„Gerichtsmediziner" inzwischen geändert hat, wurde noch eine Ab- brecherquote von 15 Prozent da- zugerechnet sowie eine Auslän- derquote von 8 Prozent, so daß man auf eine Anfängerzahl von et- wa 7500 kam. Nach diesen Be- rechnungen bilden wir also heute nahezu doppelt soviel Medizinstu- denten aus, wie später voraus- sichtlich Ärzte benötigt werden.

Bei Fortdauer dieses Trends wird sich die Zahl der berufstätigen Ärzte von 118 000 im Jahre 1975 auf rd. 257 000 im Jahre 2000 er- höhen, wie in neueren Untersu- chungen des Wissenschaftlichen Institutes der Ortskrankenkassen, des Zentralinstitutes für die Kas- senärztliche Versorgung und des Institutes für Gesundheitssystem- forschung in Kiel nahezu überein- stimmend festgestellt wird.

In der EG gibt es schon 378 000 Medizinstudenten!

Die Berechnungen aufgrund des Zahlenmaterials in der Bundesre- publik Deutschland sind bedrük- kend, auch wenn man Hochrech- nungen gegenüber skeptisch ein- gestellt ist und sie generell vor- sichtig beurteilen sollte. Langer Hochrechnungen bedarf es aber überhaupt nicht, wenn man einzig und allein von der Zahl derjenigen Medizinstudenten in Europa aus- geht, die heute schon studieren und die somit in fünf bis sechs Jahren spätestens ihre Approba- tion als Arzt haben werden, ohne daß es zu dieser Voraussage pro- phetischer Begabung bedarf.

Nach den neuesten Aufstellungen studieren in der Europäischen Ge- meinschaft heute schon rund 378 000 Studenten Medizin. Allein in Italien 179 000, in Frankreich 102 000 und in der Bundesrepu- blik Deutschland rund 41 000. Bei etwa 260 Millionen Einwohnern in der Europäischen Gemeinschaft bedeutet dies, daß ein Medizinstu- dent auf 684 Einwohner entfällt bei einer Arztdichte von 1:559. In den Vereinigten Staaten von Nordame- rika kommen zum Vergleich auf 216 Millionen Einwohner lediglich 60 039 Medizinstudenten, was ei- nem Verhältnis von einem Medi- zinstudenten auf 3597 Einwohnern entspricht bei einer Arztdichte von 1:507.

Da ab 1. Juli 1980 aufgrund der für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Arztes, der Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungs- rechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr sowie der Richtlinie zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvor- schriften des Arztes jeder Arzt in einem beliebigen Land der Europäischen Gemeinschaft ohne die bisher übliche Vorbereitungs- zeit sich in eigener Praxis nieder- lassen oder sich anderweitig als Arzt betätigen kann, müssen die Zahlen der Medizinstudenten in

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den anderen Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft bei allen Betrachtungen über die Zu- kunft mit in die Überlegungen ein- bezogen werden. Es ist fraglich, ob die Sprachbarrieren die regio- nale Fluktuation auf die Dauer wirklich behindern. In modernen Sprachlabors lassen sich deut- sche Sprachkenntnisse für italie- nische Mediziner sicher, gemessen an der Dauer des Studiums, relativ schnell vermitteln.

Es liegt auf der Hand, daß derart riesige Zahlen von Studierenden in der Medizin in hohem Maße pro- blematisch sind, weil die vorhan- denen Ausbildungskapazitäten diesen Massen in keiner Weise ge- wachsen sind und es aus nahelie- genden Gründen in der Medizin unmöglich ist, durch eine Vermeh- rung der Ausbildungsplätze den Ansturm zu bewältigen, weil dazu sowohl die Lehrenden mit der nö- tigen Erfahrung als vor allem auch die Patienten fehlen. Die enorme Quantität wird also die Qualität der Ausbildung drücken und nahezu unlösbare Probleme für die ärztli- che Versorgung in der Zukunft heraufbeschwören, wenn man den Dingen weiterhin ihren Lauf läßt.

Ausbildungsmängel lassen sich nicht durch eine

Pflichtweiterbildung beheben Mängel in der Ausbildung sind nun aber nicht einfach durch eine auf- gepfropfte Pflichtweiterbildung oder eine Zwangsweiterbildung zu beheben. Abgesehen davon, daß auch hier die enorm hohen Zahlen nicht zu bewältigende Schwierig- keiten auslösen würden, müßte durch eine derartige „Pflicht-Wei- ter-Ausbildung" die Weiterbildung zur Ausbildung werden. Sie fiele damit in die Kompetenz des Bun- des und nicht mehr in die Kompe- tenz der ärztlichen Selbstverwal- tung. Das hätte weiter zur Folge, daß am Ende einer so veränderten Ausbildung nicht mehr das ge- meinsame Berufsziel Arzt stünde, die heutige Approbation als Arzt ihren Charakter als Akt staatlicher

Berufszulassung verlöre und nur noch die Bedeutung eines „Wei-

ter-Ausbi ldu ngs-Berechtigu ngs- scheines" in der Wertigkeit eines Hochschulabiturs hätte. Denn erst der Spezialist hätte nach Abschluß der „Weiterausbildung" das Be- rufsziel erreicht.

Derartige Vorstellungen werden vom Bundesverfassungsgericht in seinen Beschlüssen vom 23. März 1960 in der Frage der Zulassungs- beschränkung aufgrund einer Ver- hältniszahl und vom 9. Mai 1972 in der Facharztfrage ausdrücklich abgelehnt. Und das mit gutem Grund. Folgte man nämlich den Überlegungen zur Einführung ei- ner Pflichtweiterbildung, so müßte konsequenterweise der gemeinsa- me Arztberuf, der erst 1869 durch die Gewerbeordnung im Nord- deutschen Bund, die später in ein Reichsgesetz überging, geschaf- fen wurde, aufgegeben werden und sich in rund 30 Spezialberufe auflösen. Natürlich kann man sa- gen: 110 Jahre sind genug, wir wollen es jetzt anders machen.

Dem Patienten wird damit aber si- cher nicht gedient, da für ihn eine derartige Atomisierung der Medi- zin unverständlich und undurch- schaubar wäre. Die durch die Dif- ferenzierung und Spezialisierung infolge der Entwicklung der Medi- zin heute auf dem Boden eines gemeinsamen Berufes schon manchmal auftretenden Probleme der Kooperation und Koordination zum Zweck einer möglichst ganz- heitlichen Versorgung der Patien- ten würden sich damit keineswegs auflösen, sondern vervielfachen.

Es ist zu begrüßen, daß diese Pro- blematik offenbar von der Bundes- regierung klar erkannt ist. Heute vor einer Woche erklärte mir Frau Antje Huber, Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit, bei einem Besuch, daß für die Bundesregierung eine weitere Steigerung der Zulassungen zum Medizinstudium nicht in Betracht kommen könnte, da die zur Verfü- gung stehenden Ausbildungska- pazitäten erschöpfend genutzt sei- en. Es bestand Übereinstimmung

darüber, daß die Sicherung der Qualität der ärztlichen Ausbildung Vorrang haben muß. Auch nach Auffassung des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesund- heit soll am einheitlichen Arztbe- ruf und einer zum Abschluß der Ausbildung zu erteilenden und zur vollen Berufsausübung als Arzt berechtigenden Approbation fest- gehalten werden. Staatssekretär Prof. Dr. Wolters wies darauf hin, daß diese Auffassung auch die so beschlossene Grundlage der Ar- beit der „Kleinen Kommission zu Fragen der ärztlichen Ausbildung und der künftigen Entwicklung im Bereich des ärztlichen Berufsstan- des" sei.

Aufsplitterung des Berufes gefährdet die Ärzteschaft Neben der Gefahr für eine mög- lichst effiziente Patientenversor- gung hätte eine Aufsplitterung in eine Vielzahl ärztlicher Berufe nachhaltige Auswirkungen auf die ärztliche Selbstverwaltung und damit auch auf den Bestand des Deutschen Ärztetages und aller in seinem Präsidium vertretenen ärztlichen Organisationen und Verbände. Denn erst nach der Schaffung eines einheitlichen ärztlichen Berufes durch die Ge- werbeordnung von 1869, die in

§ 29 für „diejenigen Personen, welche sich als Ärzte (Wundärzte, Augenärzte, Geburtshelfer, Zahn- ärzte und Thierärzte) oder mit gleichbedeutenden Titeln be- zeichnen oder seitens des Staates oder einer Gemeinde als solche anerkannt oder mit amtlichen Funktionen betraut werden sol- len" eine Approbation aufgrund eines Befähigungsnachweises verlangte, konnte am 17. Septem- ber 1873 ein Deutscher Ärztever- einstag zusammentreten, es war der erste Deutsche Ärztetag. Nach über 100 Jahren wird der 82. Deut- sche Ärztetag entscheiden müs- sen, ob eine erfolgreiche Weiterar- beit der ärztlichen Selbstverwal- tung in Frage gestellt werden und eine Umwandlung in Kammern der Heilberufe, der Gesundheitsberufe

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oder sogar in Gesundheitsregio- nalverwaltungen mit Drittelparitä- ten von Gebietskörperschaften von Krankenkassen und den im Gesundheitswesen Beschäftigten nach den Vorstellungen mancher sich als fortschrittlich bezeichnen- der Gesundheitspolitiker eingelei- tet werden soll.

Angesichts dieser denkbaren Fol- gen dürfte es jedermann einleuch- ten, daß die Gestaltung der Ausbil- dung des Arztes und die mögli- chen Konsequenzen für die Wei- terbildung und die Zulassung zu selbständiger eigenverantwortli- cher Tätigkeit in vielfältiger Hin- sicht von erheblicher Bedeutung sind.

Grundlage

des „Blauen Papiers"

Für die künftige Entwicklung wer- den die Veränderungen in der Wirtschaftspolitik und der Bil- dungspolitik entscheidende Ein- flüsse oder sogar prägende Wir- kung haben und die Einstellung der Menschen zu manchen bisher als unverzichtbar betrachteten Vorstellungen und Gewohnheiten und als gegeben angesehenen Er- scheinungen nachhaltig verän- dern können oder in manchen Be- reichen sogar müssen, während andere möglicherweise schon seit langem bekannte Erkenntnisse erst in ihrer wirklichen Bedeutung erkannt oder erneut wieder zu ih- rem Recht kommen werden. Ein derartiger Prozeß wird natürlich auch Auswirkungen auf die Ge- sundheits- und Sozialpolitik ha- ben. Während umgekehrt Einflüs- se aus der Gesundheits- und So- zialpolitik in anderen Bereichen wirksam werden müssen, wenn es uns in gemeinsamer Anstrengung gelingen soll, den Menschen auch künftig die Voraussetzung für ein lebenswertes Leben zu sichern, ja vielleicht sogar die Voraussetzung für das Leben überhaupt zu er- halten.

Bilder aus dem Plenum: Präsidiumsmitglieder und Mitarbeiter (oben), Delegierte in Für unsere Überlegungen im ZU-

Reihen und Blöcken (Mitte und unten) sammenhang mit der Weiterent-

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wicklung der gesundheits- und so- zialpolitischen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft scheint mir wichtig zu sein, daß die noch zu Zeiten der Beratung der ersten Fassung des „Blauen Papiers" in den Jahren 1972 bis 1974 fast überall anzutreffende Erwartung eines permanenten Wachstums und die daraus resultierende Überzeugung, daß eigentlich alles machbar sei, wenn man es nur an- ders organisiere, die richtige Technik einsetze und größere Geldmittel bereitstelle, daß man aus einem schnell postulierten Recht auf Gesundheit geradezu ableiten könne, Gesundheit sei käuflich, allmählich der für viele sicher ernüchternden Erkenntnis weicht, daß weder in der Wirt- schaft noch in anderen Bereichen unseres Lebens und schon gar nicht im Gesundheitswesen die Bäume in den Himmel wachsen.

Das ist im Grunde eine Binsen- weisheit. Dennoch wurde gerade aufgrund der schon früher von Ärzten öffentlich vertretenen Er- kenntnis, daß auch der Mensch Naturgesetzen unterliegt, daß es keinen DIN-Einheitsm'enschen mit Uniformen, durch zentrale Vertei- lung zu befriedigenden Bedürfnis- sen gibt und daß schließlich der Mensch trotz aller statistisch nachweisbaren erheblichen Ver- längerung der Lebenserwartung im Einzelfall der Endlichkeit des Lebens nicht entfliehen kann, häu- fig der Vorwurf gemacht, sie seien lediglich tradierten Normen ver- haftet, wollten sich dem wahren Fortschritt in den Weg stellen, und unterstellt, daß dies alles auch noch aus durchsichtigen eigen- nützigen Motiven geschehe.

Es scheint, als zeichne sich in letz- ter Zeit doch in manchen Berei- chen ein Wandel zu einer realisti- scheren Beurteilung der Gegeben- heiten ab, als sei man bereit, auch die Grenzen der Medizin und der Möglichkeiten des Arztes zu er- kennen und vielleicht zu akzeptie- ren, daß auch Krankheiten und ih- re Verläufe schicksalhaft sein können.

Bei der Überarbeitung und Weiter- entwicklung des „Blauen Papiers"

haben die veränderten Umweltbe- dingungen natürlich erheblichen Einfluß. Dennoch bleibt unverän- dert die schon vor Jahren in den Leitsätzen formulierte Standortbe- stimmung, daß die Gesundheits- politik im freiheitlichen sozialen Rechtsstaat bestimmt wird durch den Wert der Gesundheit als eines wesentlichen Elementes der per- sönlichen Existenz des Menschen und begrenzt wird durch den Vor- rang des Grundrechtes des Men- schen auf Schutz der freien Entfal- tung seiner Persönlichkeit. Die So- zialpolitik dagegen muß die für die Entfaltung der individuellen Frei- heit notwendige soziale Sicherheit schaffen und den Ausgleich der unterschiedlichen individuellen Chancen und Risiken der Gesell- schaft ermöglichen.

Eigeninitiative

und Eigenverantwortung vor kollektiven Lösungen

Es wurde unverändert davon aus- gegangen, daß Eigeninitiative und Eigenverantwortung des einzel- nen für seine Gesundheit und die Gestaltung seines Lebens gestärkt werden müssen und dem Recht des einzelnen auf individuelle Ent- faltung seiner Persönlichkeit Rechnung zu tragen ist. Alle Aus- sagen müssen daher daraufhin überprüft werden, was für den ein- zelnen Menschen besser ist. Nach unserer Ansicht hat das Individua- litätsprinzip Vorrang vor dem Kol- lektivitätsprinzip, das Leistungs- prinzip Vorrang vor dem Vertei- lungsprinzip.

Bei der Formulierung gesund- heits- und sozialpolitischer Aussa- gen der Ärzteschaft kann es nicht nur darum gehen, Organisations- formen und Möglichkeiten für eine wirkungsvolle Krankheitsbekämp- fung zu beschreiben, so wichtig dies auch ist. Es muß vielmehr ge- rade in Anbetracht der durch vie- lerlei Faktoren veränderten und beeinflußten Umwelt, an die sich der Mensch aus biologischen

Gründen nicht mit der gleichen Geschwindigkeit anpassen kann, wie die Veränderung erfolgt, auch darum gehen, Gefährdungsmög- lichkeiten zu erkennen und zu ver- meiden. Diese bestehen sicher nicht nur in der Wasserverunreini- gung und Luftverschmutzung und den sich aus Lärm und Abfall erge- benden Problemen, sondern es müssen auch berücksichtigt wer- den die Folgen der zunehmenden Hektik unserer Lebensabläufe bei Arbeit und Freizeit, die Auswirkun- gen der oft ohne Rücksicht auf biologische Erfordernisse und Ge- gebenheiten in feste Zeitschemata gepreßten Arbeitsabläufe, insbe- sondere im Schichtbetrieb, die sich aus der immer weiteren Auf- teilung einzelner Arbeiten erge- benden Probleme, die darauf be- ruhen, daß viele Menschen ihren Arbeitstag mit der Verrichtung sinnentleerter Teilfunktionen ver- bringen müssen. Diese Monoto- nie, oftmals unter gleichzeitigem Zeitdruck, führt durch physische Erschöpfung und psychische Ab- stumpfung dazu, daß auch die Freizeit nicht mehr sinnvoll zur Er- holung, zur Erhaltung oder Wie- derherstellung der Gesundheit ge- nutzt werden kann, nicht zuletzt deshalb, weil auch dort keinerlei befriedigende Lebensinhalte mehr gefunden werden können.

Trotz aller damit verbundenen und keineswegs zu unterschätzenden Schwierigkeiten müssen wir alle uns um menschengerechte Ar- beitsbedingungen bemühen. Ar- beit kann nicht nur Fron sein, da- zu nimmt sie im Leben vieler Men- schen einen zu großen Raum ein.

Arbeit oder weiter gefaßt alters- und leistungsgerechte Betäti- gungsmöglichkeiten können und müssen vielmehr auch Lebensin- halt bieten und dem einzelnen Menschen das Gefühl vermitteln, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein und von anderen benötigt zu werden.

Unter diesen Aspekten müssen Umverteilungspraktiken im Sozial- staat, wie zum Beispiel die Einfüh-

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rung eines voll bezahlten arbeits- freien Jahres in der Lebensmitte und manche Überlegung zur Ver- kürzung der Lebensarbeitszeit, daraufhin überprüft werden, ob sie nicht den Menschen zu einem be- liebig austauschbaren Produk- tionsfaktor, gleichsam einer Ma- schine in Menschengestalt, ma- chen, ihn nicht nur seiner Arbeits- möglichkeiten enteignen, sondern ihn durch die Erkenntnis, daß es auch ohne ihn geht — und das viel- leicht sogar viel besser —, seines Lebensinhaltes berauben. Es ist auch Aufgabe der Gesundheitspo- litik, solchen Entwicklungen vor- zubeugen und nicht erst dann mit den Bemühungen einzusetzen, wenn es darum geht, diese wegen der Erkenntnis der Sinnlosigkeit ihres Lebens verzweifelten Men- schen auf die Couch der Psycho- therapeuten zu bringen.

Zur Gesundheit gehört auch psy- chisches Wohlbefinden. Gesund- heit ist mehr als die bloße Abwe- senheit von Krankheit, und die Be- handlung von Krankheit oder Lei- den ist umgekehrt mehr als eine unter rein mechanistischen Vor- stellungen erfolgte Entstör- und Reparaturarbeit.

Präventive und kurative

Medizin sind keine Gegensätze Bei aller Notwendigkeit der Prä- vention im weitesten Sinne darf je- doch auch künftig die Erkennung und Behandlung von Krankheiten nicht vergessen werden. Präventi- ve und kurative Medizin waren nie- mals Gegensätze, sondern haben sich stets ergänzt. Die Bekämp- fung zum Beispiel der Infektions- krankheiten und deren weitgehen- de Überwindung gelangen nur durch enge Verflechtung thera- peutischer und prophylaktischer Anstrengung. Erst die großen Er- folge kurativer Medizin machten die verstärkte Zuwendung zur Prävention möglich und nötig.

Die kurative Medizin mit ihren ge- radezu unvorstellbar erweiterten Möglichkeiten hat auch künftig außerordentlich große Bedeutung.

Es wäre im tiefsten Sinn inhuman, wenn der Arzt sich nicht mehr dem Kranken, Leidenden und auch dem Sterbenden zuwenden und ihn mit allen Erkenntnissen der Wissenschaft und allem menschli- chen Engagement helfen und bei- stehen würde. Auch bei der Be- handlung und Betreuung von Kranken muß der für das seelische Wohlbefinden unbedingt erforder- liche Gestaltungsfreiraum erhal- ten bleiben.

Es ist nicht einzusehen, daß Men- schen auf Wahlmöglichkeiten, die sie in gesunden Tagen bei weit weniger wichtigen Dingen haben, ausgerechnet im Krankheitsfall verzichten und ausschließlich auf die ihnen durch eine ferne büro- kratische Administration zuge- dachten Möglichkeiten angewie- sen sein sollen.

Wahlfreiheit

auch im Krankenhaus

Im Bereich der ambulanten ärztli- chen Versorgung hat der Patient in der Regel diese Wahlmöglich- keiten, zu denen unabdingbar die freie Arztwahl zählt. Die gemeinsa- me Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen hat bei allen Anpassungen der Möglichkeiten an die Fortschritte in der Medizin an dieser Grundvoraussetzung für eine effiziente ärztliche Versor- gung stets festgehalten. Es ist un- verständlich, daß der Patient zu- meist dieses Recht verliert, wenn er nicht mehr herumlaufen kann, sondern sich in ein Krankenhaus- bett legen muß. Die deutsche Ärz- teschaft bekräftigt daher erneut ihre seit vielen Jahren erhobene Forderung nach einer Anpassung der Strukturen der Krankenhäuser und ihres ärztlichen Dienstes an die Entwicklung der Medizin, aber auch an die gesamtgesellschaftli- che Entwicklung. Die Möglichkeit der freien Arztwahl — die das Recht auf Ablehnung eines Arztes ein- schließt — muß endlich auch in der Mehrzahl der Krankenhäuser und auch für den großen Kreis der so- zialversicherten Patienten ge- schaffen werden und darf nicht al-

lein auf die Krankenhäuser be- schränkt bleiben, in denen heute Belegärzte tätig sind. Es sei noch- mals auf die von Deutschen Ärzte- tagen beschlossenen Vorstellun- gen für ein kooperatives Beleg- arztsystem hingewiesen. Es ist zu wünschen, daß die mit der Deut- schen Krankenhausgesellschaft zu diesem Thema geführten Ver- handlungen sich bald in der tägli- chen Praxis bemerkbar machen.

Hausarztsystem, Kooperation ...

Für die ambulante ärztliche Ver- sorgung und insbesondere für die notwendige Kooperation der we- gen der Entwicklung der Medizin, aber auch aus mancherlei anderen Gründen angestiegenen Zahl der Spezialisten untereinander und mit den im ursprünglichen Sinn hausärztlich tätigen Ärzten wur- den neue Vorstellungen entwik- kelt, die ein Hausarztsystem unter Zugrundelegung eines „Leibarzt- systems" vorsehen. Diese Gedan- ken werden zusammen mit einer Reihe von anderen Themen, wie der Wahlmöglichkeit zur Nieder- lassung in Gruppenpraxen oder in Partnerschaften, der kombinierten Tätigkeit in Praxis und Klinik, dem Direktzugang zu Ärzten verschie- dener Gebiete, Delegationsmög- lichkeiten und Probleme der nöti- gen Kooperation mit anderen im Gesundheitswesen tätigen Berufs- gruppen, so zum Beispiel beson- ders bei der Rehabilitation und vielem anderen mehr, zur Zeit von einer Arbeitsgruppe bei der Kas- senärztlichen Bundesvereinigung bearbeitet. Die Beratungen sind dort noch nicht abgeschlossen, aber immerhin schon so weit ge- diehen, daß dem 82. Deutschen Ärztetag eine als Arbeits- und Dis- kussionsgrundlage dienende Glie- derung vorgelegt werden kann.

Wider die

„Diktatur des Computers"

Größte Aufmerksamkeit erfordert der rasch zunehmende Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung

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auch in der Medizin. Hier zeichnen sich Entwicklungen ab, die auf ei- ne Totalerfassung des Bürgers durch Computer hinauslaufen können. Sicher benötigen wir aus epidemiologischen Gründen, zur Verbesserung der Prävention durch Erkennung von Schädi- gungsmöglichkeiten und zur Be- urteilung der Effizienz der Be- handlung zum Beispiel bösartiger Neubildungen oder chronischer Krankheiten sowie zur Klärung langfristiger Zusammenhänge mehr Daten als bisher und können auf den Einsatz von Computern auch in der Medizin nicht verzich- ten. Es muß jedoch sichergestellt sein, daß eine klare Trennung von medizinischen und Verwaltungs- daten erfolgt, daß eine personen- bezogene Datenspeicherung und ein personenbezogener Datenaus- tausch nur mit Zustimmung des Betroffenen erfolgt, daß nicht Ab- rufmöglichkeiten auf der Grundla- ge einer Generalermächtigung eingeführt werden, deren weitrei- chende Auswirkungen niemand übersehen kann, sondern daß dies nur aufgrund aktueller Willenser- klärungen möglich ist. Daten zur wissenschaftlichen Auswertung müssen anonymisiert, die tech- nisch mögliche und mit Mitteln der Technik nicht zu verhindernde Wiederherstellung des Personen- bezuges muß durch Gesetz verbo- ten werden.

Das Streben nach Fortschritt und die ungeheuren durch Computer- einsatz gegebenen Möglichkeiten dürfen uns nicht dazu verleiten, grundlegende Persönlichkeits- rechte, zu denen der Schutz der Intimsphäre gehört, aufzugeben und einer Diktatur der Computer den Weg zu bereiten. Es ist auch geradezu unheimlich, zu hören und zu sehen, wie Leute, die sich gegen die Einführung einer Perso- nenkennziffer mit Vehemenz und mit guten Gründen zur Wehr ge- setzt haben, angesichts der Mög- lichkeiten einer totalen Datener- fassung im Gesundheitswesen in geradezu schwärmerische Begei- sterung verfallen, große Verbund- systeme und die Austauschbarkeit

der Daten zur Vermeidung von Doppeluntersuchungen und Beur- teilungen fordern und offensicht- lich überhaupt nicht merken, daß mit diesem Datenmaterial eine viel umfangreichere Erfassung eines jeden einzelnen Menschen von der Wiege bis zur Bahre erfolgen wird, als das je mit einer Personenkenn- ziffer möglich gewesen wäre. Es muß zu den vornehmsten Aufga- ben der Ärzteschaft gehören, auch in diesem Bereich mit Nachdruck für den Schutz des Individuums und die Persönlichkeitsrechte des einzelnen einzutreten.

Rechte des einzelnen können aber auch tangiert werden, wenn bei Überlegungen zur Sicherung der Qualität ärztlicher Leistungen, zur Arzneimittelsicherheit, zur Wirt- schaftlichkeit und zu anderen un- bestreitbaren und unbestrittenen des Nachdenkens werten Dingen die psychischen Voraussetzungen und unterschiedlichen Reaktions- weisen, zu denen auch die Wir- kungen aus der Wechselbezie- hung zwischen Arzt und Patient gehören, vergessen werden und der Mensch nur noch als mehr oder weniger reparaturfreundliche biologische Maschine, als Werk- stück eine Rolle spielt, bei der der Arzt im Falle einer Panne keinerlei eigene, dem Einzelfallangemesse- ne Überlegungen anstellen und Entscheidungen treffen kann oder muß, sondern Art und Weise sei- nes Handelns ohne Entschei- dungsspielraum in Richtlinien und Listen festgelegt sind, in die völlig fachfremde, im Zweifelsfall fiskali- sche Gesichtspunkte nicht nur mit eingeflossen sind, sondern mög- licherweise sogar für Aufbau und Aussage den entscheidenden Aus- schlag gegeben haben.

Eine „Richtlinienmedizin"

verhindert den Fortschritt Ebensowenig wie die Richtigkeit einer Therapie im Einzelfall durch Abstimmung am Krankenbett er- mittelt werden kann, ist es mög- lich, die Wahrheit in der Wissen- schaft durch Plebiszit festzustel-

len und die Handlungsweise des Arztes für jeden denkbaren Fall in

Listen festzulegen. Das muß zu ei- ner durch Kommissionen festge- schriebenen „Richtlinienmedizin"

führen, in der es keinen Fortschritt mehr geben kann.

Bei dem Ihnen zur Beratung vor- liegenden fragmentarischen Ent- wurf der gesundheits- und sozial- politischen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft sind Aus- schuß und die im Rahmen eines Hearings beteiligten, im Präsidium vertretenen Verbände von der Überlegung ausgegangen, daß der 82. Deutsche Ärztetag in der Art einer ersten Lesung Grundsätze und Positionen diskutieren, aber noch keine redaktionellen Ände- rungen erörtern oder sogar be- schließen sollte. In die Überlegun- gen des Plenums sollte mit einbe- zogen werden die neue Gliede- rung des Papiers, in der die Grundlagen der Gesundheits- und Sozialpolitik mit Leitsätzen zur Standortbestimmung unverändert am Anfang stehen. Dann aber fol- gen alle Gebiete, auf die sich ärzt- liche Bemühungen erstrecken sol- len und müssen, und erst zum Schluß soll auf die Probleme des eigenen Berufes eingegangen werden, auch die, die sich aus der möglicherweise veränderten Auf- gabenstellung ergeben.

Es muß Ziel unserer Beratungen sein, zu prüfen, ob die Schwer- punkte richtig gesetzt und alle wichtigen Gebiete berücksichtigt sind und ob die Gliederung einer Ergänzung bedarf oder Überflüssi- ges gestrichen werden muß. Bei unseren Überlegungen sollten wir beachten, daß unsere Aussagen längerfristige Entwicklungen hin- reichend berücksichtigen und auch nach Jahren noch stimmen sollten. Dazu wird es nötig sein, sich über die Grenzen der Weiter- entwicklungsmöglichkeiten in der Gesundheits- und Sozialpolitik un- ter Einbeziehung allgemeinpoliti- scher Überlegungen, aber auch über die Grenzen der Möglichkei- ten in der Medizin klar zu werden und nicht Utopisches zu fordern.>

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Aus jedem Blickwinkel: Bilder von geduldiger Aufmerksamkeit während heißer Debatten (bei hohen „Innen-" und „Außen"-Temperaturen)

Eine Weiterentwicklung sozialer Sicherheit darf auch nicht durch das Bestreben, die scheinbare so- ziale Lücke zwischen BAföG und Pension zu schließen, zur totalen Entmündigung des Bürgers füh- ren und die Gefahr eines „Klas- senkampfes" zwischen alt und jung oder zwischen Arbeitenden und Nutznießern des sozialen Si- cherungssystems heraufbeschwö- ren. Es gilt vielmehr, individuelle Gestaltungsmöglichkeiten zu er- halten oder neu zu schaffen, Lei- stungsgarantie zu setzen sowie Ei- geninitiative und Eigenverantwor- tung und eine mindestens gedank- liche Selbstbeteiligung zu fördern.

Aktuelle Gesetzesvorhaben ...

Bei den zur Zeit in Bonn zur Bera- tung anstehenden Gesetzesvorha- ben kann ich mich weitgehend auf meine Ausführungen von der Fort- setzung des 81. Deutschen Ärzte- tages Anfang November 1978 in Köln und den Tätigkeitsbericht 1979 der Bundesärztekammer be- ziehen, weil sich in der Zwischen- zeit nur wenige Änderungen erge- ben haben.

... Psychotherapeuten- Gesetz ..

Für den Psychotherapeutenge- setz-Entwurf werden derzeit Über- legungen angestellt, um die nötige Kooperation zwischen Ärzten und Psychotherapeuten genauer zu re- geln und durch konkretere Fas- sung des Krankheitsbegriffes im- mense Kostenbelastungen für un- ser Gesundheitswesen zu vermei- den. Die Vorstellung allerdings, durch eine ärztliche Unbedenk- lichkeitsbescheinigung vor Beginn psychotherapeutischer Maßnah- men durch nichtärztliche Psycho- therapeuten die Sicherheit für den Patienten zu vergrößeren und gleichzeitig kostensenkend zu wir- ken, kann kaum auf dem Boden der Realität entstanden sein. Denn es dürfte mindestens jedem Arzt klar sein, daß auch nach Vornah- me einer Vielzahl von kostenverur-

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sachenden Untersuchungen nicht mit letzter Sicherheit festzustellen ist, ob organische Krankheiten vorliegen oder nicht. Eine Fest- stellung, die jedoch bei vielen auf Unverständnis stoßen wird, weil der weitverbreitete Irrtum besteht, es sei für einen Arzt doch wohl das Leichteste der Welt, festzustellen, daß ein Mensch nicht organisch krank ist.

Wie aus Gesprächen mit Abgeord- neten des Deutschen Bundestages aller Fraktionen und dem Bundes- minister für Arbeit und Sozialord- nung, Dr. Herbert Ehrenberg, En- de April dieses Jahres zu entneh- men war, wird dieser Gesetzent- wurf ebenso wie die Gesetzent- würfe zur Neuordnung des Kran- kenpflegerechtes und anderer Be- rufe im Gesundheitswesen in die- ser Legislaturperiode wohl noch weiter beraten, aber wahrschein- lich nicht mehr vom Parlament verabschiedet werden und in Kraft treten können. Vergleichbares gilt wohl auch für den Transplanta- tionsgesetz-Entwurf. Hier zeichnet sich in den Beratungen ab, daß es bei der endgültigen Fassung wohl zu einer Einverständnis-Lösung kommen wird.

In einer umfangreichen Stellung- nahme hat die Bundesregierung am 7. Februar 1979 eine Stellung- nahme zur Psychiatrie-Enquete verabschiedet. Darin heißt es, daß man sich den Zielvorstellungen der Sachverständigen-Kommis- sion nur in Stufen in einem größe- ren Zeitraum wird nähern können, daß sich andererseits aber auch die Voraussetzungen verändert hätten, seit 1975 die in vierjähriger Arbeit zusammengestellte Psych- iatrie-Enquete vorgelegt worden sei. Die dadurch hervorgerufene Intensivierung der öffentlichen Diskussion über Verbesserungs- notwendigkeiten im Bereich der psychiatrischen Versorgung der Bevölkerung habe sich positiv ausgewirkt, andererseits sei eine rasche Realisierung aller in dem Bericht enthaltenen Forderungen nicht zuletzt aus Kostengründen kaum möglich. Die Bundesregie-

rung hält es für realistisch, daß der mit der Planungsstudie entwickel- te Zeitstufenplan über vier Ab- schnitte bis 1980, bis 1990 und weiter bis zum Jahre 2000 und über das Jahr 2000 hinaus zur Grundlage der weiteren Überle- gungen gemacht wird. Die in dem Bericht vertretene Ansicht, im sta- tionären Versorgungsbereich hät- ten sich die Verhältnisse bereits so gebessert, daß jetzt ein Haupt- augenmerk auf die ambulante Ver- sorgung gelegt werden müsse, darf nicht die Konsequenz haben, daß die im stationären Bereich im- mer noch vorhandenen baulichen, personellen und finanziellen Män- gel nicht endlich beseitigt werden.

Denn nur so können die durch die Enquete angestrebten humanen Bedingungen erreicht werden.

... Krankenhaus- finanzierung ...

Nachdem durch den Ausgang der Wahlen in mehreren Bundeslän- dern die Kräfteverhältnisse im Bundesrat und damit zwischen Bund und Ländern nicht verändert worden sind, ist damit zu rechnen, daß die Beratungen zu der Novel- lierung des Krankenhausfinanzie- rungsgesetzes und der Bundes- pflegesatzordnung nunmehr zügig abgeschlossen werden. Es ist vor- gesehen, die zweite und dritte Lö- sung noch vor der Sommerpause durchzuführen. Da in wesentli- chen Vorschriften derzeit der ärzt- liche Sachverstand immer noch nicht ausreichend in die Entschei- dungsprozesse mit einbezogen worden ist, seien die Forderungen der Ärzteschaft der Aktualität we- gen hier nochmals wiederholt und unterstrichen: Es ist unseres Erachtens unabdingbar, die Mit- wirkung der Ärzteschaft im Geset- zestext selbst vorzusehen, insbe- sondere bei

> der in § 5 geregelten Bedarfs- planung,

> dem Aufstellen der Investi- tionsprogramme gemäß § 7,

> der Abstimmung von Pla- nungsgrundsätzen nach § 8, be- sonders was Methoden und Krite- rien der Bedarfsermittlung anbe- langt,

> der Erarbeitung von Empfeh- lungen und Vereinbarungen über die Maßstäbe und Grundsätze für die Wirtschaftlichkeit und Lei- stungsfähigkeit der Krankenhäu- ser, insbesondere für Personal- und Sachkosten nach § 26, es sei denn, es käme zur Streichung die- ses Paragraphen und zur Übertra- gung dieser Aufgaben an den Bei- rat für Krankenhausfragen nach

§ 36,

> der Mitarbeit im Beirat für Krankenhausfragen nach § 36, dessen Zusammenarbeit mit dem Bund-Länder-Ausschuß nach § 35 darüber hinaus enger gestaltet werden sollte.

Neue Gesetzesbestimmungen müssen weiterhin die Pluralität der Krankenhausträgerschaft auf- rechterhalten und dürfen nicht, wie durch die bisherige Fassung des § 371 RVO, der allgemeinen Kommunalisierung der Kranken- häuser Vorschub leisten.

Die neue Bundespflegesatzverord- nung sollte durch die Gestaltung des Pflegesatzes die Möglichkeit schaffen, deutlich zu erkennen, welche Leistungen für diesen Pfle- gesatz erbracht werden. Dazu ist es unseres Erachtens erforderlich, den bisher pauschalierten Pflege- satz aufzugliedern in Kosten für

> Unterbringung und Verpfle- gung,

> ärztliche Leistungen,

> pflegerische Leistungen,

> Sachleistungen,

> Vorhaltung zum Beispiel für Sonder- oder Katastrophenfälle.

Neu in die gesetzgeberische Arbeit des Deutschen Bundestages ein- geführt wurde von der CDU/CSU-

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Bundestagsfraktion ein Entwurf zur Schaffung eines deutschen Rates für Krebshilfe, der die bisher auf diesem Gebiet bestehenden Aktivitäten koordinieren und im Wege von Staatsverträgen zwi- schen Bund und Ländern die Effi- zienz der Krebsbekämpfung erhö- hen soll — ein sicher noch sehr sorgfältig zu beratendes Vorha- ben! Die CDU/CSU-Bundestags- fraktion startete weiterhin eine In- itiative, die Prüfpflicht für medizi- nisch-technische Geräte gesetz- lich zu regeln. Aufgrund interfrak- tioneller Vereinbarungen soll dies durch einen entsprechenden Pas- sus in dem sogenannten Maschi- nenschutzgesetz geschehen.

Gesundheits- sicherstellu ngs-Gesetz

Zu begrüßen ist, daß sicher nicht zuletzt aufgrund wiederholter In- itiativen des Deutschen Ärztetages ein Referentenentwurf für ein Ge- sundheitssicherstellungsgesetz erarbeitet wurde. Dieser Entwurf erfordert natürlich noch eingehen- de weitere Beratungen, insbeson- dere auch deshalb, weil er sich bisher schwergewichtig auf den Spannungs- und Verteidigungsfall beschränkt. Nach Auffassung der Ärzteschaft sollten Regelungen aber auch für Katastrophenfälle anderer Art einbezogen werden, wie etwa durch Unfälle im Bereich der chemischen Industrie, durch Kernenergie, durch den Transport gefährlicher Stoffe oder durch Na- turkatastrophen wie Überschwem- mungen oder außergewöhnliche Schneefälle. Es gilt, den in der Bundesrepublik Deutschland im Bereich des Katastrophenschut- zes im Vergleich zu anderen Län- dern bestehenden erheblichen Rückstand an Vorbereitungen jeg- licher Art so rasch wie möglich aufzuholen. Gerade die Ereignisse der letzten Monate sollten alle die- jenigen überzeugt haben, die bis- lang die Notwendigkeit für solche Vorkehrungen bezweifeln oder für politisch nicht opportun hielten.

Die Bundesärztekammer jeden- falls hat ihre Fortbildungsbemü-

hungen auf dem Gebiet der Kata- strophenmedizin ebenso wie die Landesärztekammern bereits seit Jahren erheblich intensiviert, um die Effizienz von Hilfsmaßnahmen zu erhöhen. Es muß nunmehr auch die dafür unbedingt nötige Infrastruktur geschaffen werden.

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer bemüht sich hier um dringend notwendige Koordination aller wissenschaftli- chen Voraussetzungen.

Das Beispiel des Gesundheitssi- cherstellungsgesetzes zeigt in überzeugender Weise, daß es nicht genügt, Vorkehrungen und Entschließungen nur unter tages- politischen Aspekten zu treffen. Es müssen vielmehr denkbare und oftmals sogar schon in Umris- sen erkennbare Entwicklungen ebenso wie erst langfristig wirken- de Einflüsse mit in die Überlegun- gen einbezogen werden. Das ist nur möglich, wenn nicht lediglich in Legislaturperioden bis zur nächsten Wiederwahl gedacht wird.

Erleichtert werden können diese Bemühungen ferner durch eine In- formationspolitik, die nicht in er- ster Linie den tagesbezogenen Ef- fekt zum Ziel hat und den Bürger dadurch verleiten kann, sein Urteil anhand von starken Worten und pseudoschlüssigen Argumenten zu bilden, was dann wiederum po- litische Aktivitäten auslösen und Gesetze hervorbringen kann, die sich schon nach kurzer Zeit als Mogelpackungen erweisen.

Der ärztliche Sachverstand ist in der Politik gefordert Die außerordentlich komplizierten Zusammenhänge erschweren na- türlich die Urteilsbildung über Re- gelungen, die auch längerfristig Bestand haben. Die deutsche Ärz- teschaft wird sich daher in der Gesundheits- und Sozialpolitik ebenso wie bei allen anderen Pro- blemen, wo ihr Sachverstand ge- fordert ist, im Dialog mit allen in Parlamenten, Parteien und Regie-

rungen Verantwortlichen sowie mit anderen Organisationen und Institutionen in unserem Staat, nicht zuletzt aber auch mit der Öf- fentlichkeit für eine menschlichen Bedürfnissen und Verhaltungs- weisen entsprechende Gestaltung unserer Lebensbedingungen ein- setzen. Sachliche Information ist eine notwendige Voraussetzung für sachliche Entscheidung. Da wir gute Gründe und überzeugen- de Argumente haben, ist Resigna- tion nicht angebracht. Es wird uns gelingen, Partner für unsere Vor- stellungen zu gewinnen, wenn wir uns nicht auf die Rolle des unbe- teiligten Sachverständigen zu- rückziehen, sondern uns in Über- einstimmung mit der Verpflich- tung, daß der Arzt der Gesundheit des einzelnen und des gesamten Volkes dient, politisch engagieren und uns alle zusammen mit Nach- druck um die Gestaltung unseres Gemeinwesens kümmern.

Es gilt, in der Gesundheits- und Sozialpolitik einen Scherbenhau- fen zu vermeiden, wie wir ihn in der Bildungspolitik - leider schon haben. Da eine solche Entwick- lung nicht nur zu Lasten der beruf- lichen Freiheit und der Freiberuf- lichkeit der Ärzte, sondern vor al- lem zu Lasten von kranken Men- schen ginge, die sich nicht wehren können und der Hilfe bedürfen, lohnt sich dafür unser aller Einsatz.

(•

Über die Diskussion und die Entschließungen zum Tagesord- nungspunkt I wird auf den nach- folgenden Seiten berichtet.)

Anschrift:

Dr. med. Karsten Vilmar Bundesärztekammer Haedenkampstraße 1 5000 Köln 41 (Lindenthal)

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