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Archiv "Im sozialen Wandel: Arzt, Patient und Gesundheitswesen" (31.05.1979)

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82. DEUTSCHER ÄRZTETAG

Etwa eineinhalbtausend Teilneh- mer und Gäste begrüßte Prof.

Hans J. Sewering, Präsident der gastgebenden Bayerischen Lan- desärztekammer, zur Eröffnungs- veranstaltung des 82. Deutschen Ärztetages am 15. Mai 1979 im Großen Saal der Nürnberger Mei- stersingerhalle. Da der nachfol- gende Gastredner, Ministerpräsi- dent Dr. h. c. Franz Josef Strauß, unter Termindruck stand, machte Sewering es kurz und „pauscha- lierte" die Begrüßung der Ehren- gäste. Sewering wies darauf hin, daß dies der vierte Nürnberger Ärztetag sei — allerdings hat es seit dem letzten eine lange Pause ge- geben: die ersten drei Deutschen Ärztetage in Nürnberg fanden 1877, 1883 und 1896 statt — und eines der Themen gerade dieser Nürnberger Ärztetage, nämlich die ärztliche Ausbildung, sei auch heute in Nürnberg wieder aktuell.

Für ein freiheitliches Gesundheitswesen

Ministerpräsident Strauß dankte in seiner temperamentvollen Anspra- che, in der er häufig und gerade mit politisch bedeutsamen Passa- gen über seine vorbereitete Re- deunterlage hinausging, der Ärz- teschaft für ihr entschiedenes Ein- treten für ein freiheitliches Ge- sundheitswesen, das auch im in- ternationalen Vergleich auf einem

beachtlichen Niveau stehe. Das freiheitliche Gesundheitswesen sei ein „fester Baustein in der Ar-

chitektur unseres Staates"; es könne aus diesem Aufbau nicht herausoperiert und mit Sonderbe- lastungen oder Sonderprivilegien versehen werden.

Strauß verwies auf die Krisen- und Katastrophenanfälligkeit des heu- tigen Mitteleuropa und extempo- rierte eine Mahnung an die Mas- senmedien, nicht aus kommerziel- lem Interesse die Bevölkerung von einer Panik in die andere zu het- zen. Er illustrierte dies mit dem Beispiel der Schlagzeilen anläß- lich des Schadenfeuers wenige Tage zuvor in Garching: Beim

„Feuersturm im Atomreaktor"

(Schlagzeile) habe es sich um ein ganz alltägliches Schadenfeuer in einem Stockwerk des Instituts ab- seits vom kleinen Forschungsre- aktor gehandelt — „die Gefahr war gleich Null!". Strauß forderte in diesem Zusammenhang die Bun- desregierung auf, nun endlich das Gesundheitssicherstellungsgesetz vorzulegen — dabei sollte aber jene perfektionistische Bürokratisie- rung vermieden werden, die ge- eignet sei, aus dem „summum jus" die „summa injuria" zu machen.

Eigenverantwortung des Bürgers

Im „ideologischen Trommelfeuer"

der Systemveränderer habe die Ärzteschaft, sagte Strauß, leidvolle Erfahrungen gemacht und bei- spielhafte Zähigkeit bewiesen.

„Das Gesundheitswesen darf we- der ein Jagdrevier zur Treibjagd gegen Ärzte noch ein Naturschutz- park für diejenigen sein, die drin sind, mit einem Stacheldrahtzaun gegen die, die draußen stehen."

„Demokratisierung der Gesell- schaft" im Sinne des Ersatzes von fachlicher Kompetenz und persön-

licher Autorität durch Paritätsfra- gen und sterile Gleichheitsrege- lungen werde zu wachsender Inef- fizienz der gesellschaftlichen Ein- richtungen auch im Gesundheits- wesen führen — hier müsse man entschieden gegensteuern. Im Mittelpunkt des freiheitlichen Ge- sundheitssystems müsse die Ei- genverantwortung des Bürgers stehen; Aufgabe der Gesundheits- politik sei es, diese zu stützen und zu unterstützen.

Die „geballte Sozialpotenz"

Strauß ironisierte die „Reformneu- rose und Programminflation" in der Gesundheitspolitik mit ihrer geradezu flagellantischen Lust an Kontrolle, Kommissionen, Über- prüfung, Verhinderung, Kürzung, Selbstbeschränkung, Investitions- lenkung, Dirigismus, Vereinheitli- chung, Aufsichtsgremien, Über- prüfung: „Es entsteht bei mir oft der Eindruck, daß im Quadrat des Abstandes zum Gesundheitswe- sen die selbstangemaßte Legiti- mation steigt, einen kritischen Beitrag zur Systemveränderung zu liefern". Er sprach von der „Manie gewisser politischer Gruppen", neue Randgruppen zu entdecken, sie zu „Mitleidsgruppen" zu beför- dern und sich dann „mit geballter Sozialpotenz auf sie zu stürzen", wobei die „regierungsamtlichen Täter sich dann selbst zum Sozial- vormund und Retter ihrer Opfer ernennen".

Die Grenzen der Belastbarkeit un- seres „Sozial- und Bildungsstaa- tes" versuchte Strauß zu definie- ren: Solche Grenzen existieren;

sie müßten ermittelt werden unter Anwendung des Maßstabes der Notwendigkeit, um — im ursprüng- lichen philologischen Sinn — Not

Im sozialen Wandel: Arzt,

Patient und Gesundheitswesen

Die Eröffnungsveranstaltung:

Franz Josef Strauß fordert die Ärzte zur Verteidigung des freiheitlichen Gesundheitssystems auf

Hans Wolf Muschallik zeichnet

die Umrisse einer „Philosophie der verantworteten Freiheit"

Verleihung der Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft an verdiente Ärzte und Wissenschaftler

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 22 vom 31. Mai 1979 1495

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Eröffnungsveranstaltung

zu wenden. Vorausberechnungen, die für das Jahr 2030 eine Abga- benbelastung von 35 oder 36 Pro- zent ankündigen, nannte Strauß

Utopie — der Bürger werde dies nicht hinnehmen. Das heiße nicht, den „Sozialstaat zu demontieren", aber das Aufräumen mit der

„wohlfahrtsstaatlichen Lebenslü- ge", die soziale Sicherung führe ein Eigenleben neben dem Auf und Ab von Wirtschaftsentwick- lung und Finanzpolitik.

Krankenhäuser:

Wieder Länderkompetenz?

Seit 1972 sei, sagte Strauß, die Bundesrepublik im Gesundheits- wesen und insbesondere bei der Krankenhausfinanzierung in diri- gistischer Richtung fortgeschrit- ten. Er beklagte aus der Erfahrung des Regierungschefs eines Bun- deslandes die ungeheure Kompli- zierung und Bürokratisierung des Bewilligungswesens für Kranken- hausbauten oder -erweiterungen und forderte, von der jetzt betrie- benen Mischfinanzierung wieder abzugehen. Mischfinanzierung aus den Haushalten von verschie- denen Gebietskörperschaften sei nicht nur übermäßig verwaltungs- intensiv, sie führe vor allem auch zum Aufeinanderstoßen der ver- schiedenen Rechnungsprüfungs- einheiten („Wer heute ein Kran- kenhaus bauen oder umbauen will, soll gleich eine psychiatrische Abteilung mitplanen, in die er sich dann einweisen lassen kann!").

Strauß empfahl, die Kompetenz zur Krankenhausfinanzierung wie- der voll den Ländern zurückzuge- ben und dann statt des exakten Ersatzes und der komplizierten Rechnungslegung für die Investi- tionskosten Pauschalanweisun-

Dienstag, der 15. Mai 1979, 16 Uhr: Die Delegierten des 82. Deutschen Ärzteta- ges, zahlreiche Ehrengäste und Besu- cher - unter ihnen viele Ärzte aus Nürn- berg und Umgebung - versammelten sich im großen Saal der Meistersinger- halle zu Nürnberg zur Eröffnung des Ärztetages Fotos (4): Scarlet

1496 Heft 22 vom 31. Mai 1979 DEUTSCHES ARTIEBLATT

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82. Deutscher Ärztetag: Eröffnungsveranstaltung

gen an die Trägerebene zu geben, die dann dort selbständig verwen- det werden können. Den Ländern müßte dafür ein entsprechend hö- herer Anteil an der Umsatzsteuer gegeben werden.

Fragwürdiger Bettenberg Strauß setzte sich dafür ein, das Krankenhaus auch in Zukunft möglichst bürgernahe bestehen zu lassen — dies insbesondere im Interesse der älteren Patienten, die im zentralisierten Bettensilo selbst bei bester Behandlung und Ver- sorgung vereinsamen, weil im Flä- chenstaat die Besuchsmöglichkei- ten im zentralen Krankenhaus be- einträchtigt sind. Im übrigen sei auch das Krankenhaus ein Teil der sozialen Marktwirtschaft, zu der auch eine gewisse Angebotselasti- zität gehöre. Deshalb bezweifelt Strauß die Existenz eines Betten- berges (und ironisierte auch hier:

Entweder haben wir Lebensmittel- marken oder Überfluß, der abge- baut werden muß — eine normale Situation gibt es anscheinend nicht, „wobei ich manchmal den peinlichen Eindruck habe, daß Überfluß und Mangel sich oft mehr in gewissen Köpfen widerspie- geln wegen mangelnder innerer Gleichgewichtslage . . . "). Strauß empfahl, bei eventuellen zukünfti- gen staatlichen Konjunkturpro- grammen auch den Krankenhaus- bau einzubeziehen; er nannte es eine „Schizophrenie", wenn man einerseits gegen den Bevölke- rungsschwund angehe, anderer- seits aber bei der Krankenhauspla- nung von sinkenden Bevölke- rungszahlen, also vom Scheitern der Familienförderungspolitik aus- gehe.

Selbstregulierung der Ärztezahl Auch zur „Ärzteschwemme" ver- trat der bayerische Regierungs- chef dezidierte Meinungen: Eine allgemeine ärztliche Unterversor- gung gebe es nicht, aber gerade in seinem Land existieren erhebliche Unterschiede, finde man Kranken-

hausärzte, die total überlastet sei- en, und das Durchschnittsalter der Kassenärzte in Bayern (51 Jahre) werde nur noch von einem einzi- gen anderen akademischen Beruf übertroffen: die katholischen Geistlichen sind durchschnittlich mehr als zwei Jahre älter. Auch die Erwerbsquote sei bei den Kassen- ärzten alarmierend: In der Alters- klasse zwischen 70 und 74 Jahren sind noch fast die Hälfte der Kas- senärzte berufstätig. Und wenn der Hausarzt der Familie Strauß sich zurückziehe, nach dreißig Jahren ständiger Betreuung, dann sei ein Nachfolger nicht in Sicht.

Strauß: „Und deshalb geht meine Bitte dahin, auf dem Wege der Selbstverwaltung und Selbstver- antwortung die Mängel abzustel- len, die einem freiheitlichen Ge- sundheitssystem leider als unver- meidlicher Preis für diese Freiheit anhaften können!"

Alle Prognosen und Dichteziffern, alle Zahlenreihen in die Zukunft hinein haben sich nach Strauß' Auffassung „als Astrologie oder günstigenfalls Futurologie erwie- sen — wobei ich offenlasse, was der Unterschied zwischen den bei- den ist". Hauptproblem des Nume- rus clausus sei nicht die Herabset- zung der Zahl, sondern die Sorge, daß die Falschen ausgebildet wer- den. Auch auf diesem Gebiet wer- de die Selbstregulierung durch Angebot und Nachfrage besser funktionieren als jede Methode der Mangelverteilung, und die For- schungsaufträge zum Ärztebedarf solle die Bundesregierung ein- sparen.

Der Weg durch die Mitte Strauß schloß mit einem Verspre- chen: „Die deutsche Ärzteschaft ging in ihrer überwältigenden Mehrheit bis heute unbeirrt einen geraden Weg durch die Mitte, in Standhaftigkeit gegenüber stan- despolitischer Versuchung und im Widerstand gegenüber ideologi- scher Systemveränderung. Ich wünsche Ihnen dazu und für die Durchsetzung Ihrer legitimen Ziele

auch weiterhin Kraft und Mut, und ich verspreche Ihnen, daß die bayerische Staatsregierung Sie auf diesem Weg der Freiheit mit aller Leidenschaft unterstützen wird."

Zweifellos, Strauß hatte weit mehr als das übliche Grußwort gehalten

— sowohl was die Ausagen als auch den Umfang anging. Den ei- gentlichen festlichen Vortrag die- ser Eröffnungsveranstaltung hielt jedoch Dr. Hans Wolf Muschallik, der Erste Vorsitzende der Kassen- ärztlichen Bundesvereinigung.

Sein Thema: „Patient und Arzt im sozialen Wandel". Zuvor jedoch zeichnete der Präsident der Bun- desärztekammer und des Deut- schen Ärztetages, Dr. Karsten Vil- mar, drei Ärzte mit der Paracelsus- Medaille, der höchsten Auszeich- nung der deutschen Ärzte, aus:

Prof. Dr. Julius Berendes (72) — der sich später im Namen der Ausge- zeichneten bedankte — Dr. Erich Hein (65) und Prof. Dr. Wilhelm Schneider (68).

Muschallik: Patient und Arzt zwischen Freiheit

und Verantwortung

In seinem Festvortrag zeichnete Muschallik den Spannungsbogen zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwor- tung, der auch das Gesundheits- wesen, auch das Verhältnis Pa- tient, Arzt und Versichertenge- meinschaft kennzeichnet. Er be- zog Stellung mit einer vor den über tausend Teilnehmern in Um- rissen dargestellten „Philosophie der verantworteten Freiheit", wie er seine Darstellung an einer Stelle einmal kurz kennzeichnete. Den Delegierten und Gästen zeigte sich in diesem Vortrag in man- chem ein „anderer Muschallik" als jener, der ihnen in seiner Eigen- schaft als oberster Repräsentant der Kassenärzte bekannt war.

Schon Muschalliks Lageberichte vor der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereini- gung zeichnen sich zwar durch sorgsame Analysen der gesell-

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Zwischen der Begrüßungsrede des Ministerpräsidenten Strauß und der Festrede des KBV-Vorsitzenden Muschallik fand die Verleihung der Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft statt. Rechtes Bild: Mit den Medaillen und Urkunden des Jahres 1979 (von links) Prof. Julius Berendes, Dr. Erich Hein, Prof. Dr. Wilhelm Schneider. Linkes Bild: Träger dieser Medaille verfolgten in der ersten Reihe die Zeremonie. (V. 1.): Dr. Hermann Zwecker, Dr. Bernhard Degenhard, Dr. Günther Haenisch

schaftspolitischen Situation aus.

Hier vor dem Ärztetag brachte er jedoch ein gedankenreiches Refe- rat über die Grundwerte, die das Zusammenleben in unserem Staa- te sichern, über die "vielschichti- gen Einflüsse, die auf die Bezie- hung zwischen Arzt und Patient einwirken" (Vilmar in seinem Schlußwort). Muschalliks Posi-

tion: "ln unserer weltanschaulich,

gesellschaftlich und politisch plu- ralistischen modernen Lebensweit muß bei allem Wandel ein Grund- konsens über leitende Grundwerte und ein Mindestmaß an Gemein- samkeit der Überzeugungen und Verhaltensweisen herrschen und im Bewußtsein der Menschen ständig neu verankert werden. Nur so kann ein gedeihliches Zusam- menleben der Bürger in einer frei- heitlichen, rechtsstaatliehen und sozialen Demokratie gesichert er- scheinen." Gesundheit und Krank- heit erfordern nach Muschalliks Auffassung nicht nur die Mitwir- kung des Menschen, sondern auch die primäre Erkenntnis und die Bejahung seiner personalen Verantwortung. Ein modernes Ge- sundheitswesen in ein angemes- senes Verhältnis zur Bewahrung von Humanität und Freiheit zu set- zen sei daher eine der wichtigsten Aufgaben in der heutigen Zeit.

Stabilität und Leistungsfähigkeit unseres Systems der sozialen Si- cherung hingen entscheidend von dem Maß ab, in dem die grund- sätzliche Verantwortung des Indi- viduums und besonders auch in

Gesundheit und Krankheit vor die des Staates gestellt werde. "Die Erhaltung und Förderung der Ge- sundheit sowie der Krankenver- sorgung zählen zwar zu öffentli- chen Aufgaben von eminenter Be- deutung. Gesundheit als öffentli- ches und privates Gut ist aber vor allem und in erster Linie private Aufgabe von unbestreitbarem Rang." Das aber bedeute: Der Bürger müsse wieder den Mut zur Mitverantwortung finden. "Das Bewußtsein für das richtige Ver- hältnis zwischen persönlicher In- itiative und Verantwortung einer- seits und berechtigter Inanspruch- nahme der Solidargemeinschaft andererseits muß wieder geweckt werden." Wenn dies gelinge, führ~

te Dr. Muschallik aus, und der Bür- ger bereit sei, sowohl seine eigene Gesundheitserhaltung als auch Konsequenzen für die soziale Gemeinschaft mitzuverantworten, dann erweise sich der gewandelte Bürger als mündiger Patient, das heißt als ein durch personale Ent- scheidungsfreiheit sowie durch Solidarität und Rücksichtnahme auf das Gemeinwohl bestimmter Mensch.

Dies sei um so notwendiger ange- sichts der neuen sozialen Fragen unserer Zeit. Sie seien, setzte Mu- schallik fort, nur zu lösen mit einer Selbst- und Neubestimmung bei Patient und Arzt. Der Bürger be- trachte zwar Gesundheit als einen der höchsten Werte und sei gut informiert, sein Verhalten aber sei seinem Gesundheitsbewußtsein

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und seiner Aufgeklärtheit oft gera- dezu diametral entgegengesetzt.

Hier falle dem Arzt die wichtige Aufgabe der Information, Bera- tung und Erziehung zu: "Gesund- heit kann und muß man lernen - von der Jugend bis ins Alter, ein solches Wirken gehört als Aufgabe des Arztes für die Zukunft an vor- derste Stelle!"

Andererseits müsse, so betonte Muschallik, der Arzt seinen Patien- ten als ein vielschichtiges Wesen begreifen, das sich nicht im Au- genblick der Begegnung mit dem Arzt auf ein isoliertes Krankheits- bild reduzieren lasse. "Gesundheit und Krankheit betreffen den gan- zen Menschen, in seiner Gesamt- heit von Körper, Seele und Geist sowie als soziales Wesen. Gesund- heit, Krankheit und Medizin sind genauso ein "fait social" wie der von ihnen betroffene Mensch und vollziehen sich in der konkreten personalen Begegnung zwischen Patient und Arzt, eingebunden in das konkrete Sozialgefüge der je- weiligen Zeit." Es müsse ferner ei- ner Entwicklung entgegengesteu- ert werden, die den Menschen in einer technologisch ausgerichte- ten Medizin zur durchleuchtbaren Materie, zur untersuchbaren Sub- stanz werden läßt. Hierzu müsse der Arzt

...,.. in einer psychosomatischen Medizin die Zusammenarbeit mit dem Patienten anstreben;

.... die Sprache in der Med1zin und den menschlichen Kontakt als Be-

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standteil des therapeutischen Auf- trages begreifen;

~ erkennen, daß sein Verhalten und dessen Glaubwürdigkeit Vor- bedingung für den Erfolg aller ärztlichen Bemühung sind.

Besonderes Gewicht legte Mu- schallik in diesem Zusammenhang auch auf die Notwendigkeit, die jungen Mediziner zu einer stärke- ren Hinwendung zur Allgemein- medizin zu bewegen. Dies erfor- dert nach seiner Meinung ein Um- denken, damit der hohe Wert der Allgemeinmedizin für eine sachge- rechte, ausgewogene ambulante ärztliche Behandlung, aber auch für die ökonomische Balance im Gesundheitswesen erkannt wird.

Damit eine immer höher entwik- kelte Medizin für die Menschen sowohl annehmbar wie auch fi- nanzierbar bleibt, bedarf es nach den Worten Dr. Muschalliks einer- seits des ökonomisch und ·ge- sundheitlich richtigen Verhaltens aller Bürger, andererseits des qua- litativ hochstehenden Allgemein- arztes. Wörtlich führte er aus: "Bei einer solchen Positionsbestim- mung gehe ich davon aus, daß die Medizin der Zukunft, mehr und mehr unter dem Zwang zur Koor- dination und Kooperation ste- hend, nicht durch eine fortschrei- tende Subspezialisierung und ein damit produziertes Kostenüberge- wicht zu einer noch teureren Staatsmedizin führen wird." Nur so werde ein stabiles Gesund- heitswesen

.~ die physischen und psychi- schen medizinischen Bedürfnisse der Menschen befriedigen;

~ in humaner Weise medizini- sche Erkenntnis für diejenigen einsetzen, die schicksalbedingt der Hilfe der Solidargemeinschaft bedürfen;

~ die zu erwartende Weiterent- wicklung der Medizin mit der Frei- heit des Menschen harmonisieren können.

Schließlich nahm Muschallik zu einigen speziell kassenärztlichen Fragen, die sich ihm mit dem The- ma stellten, Stellung. Wörtlich:

82. Deutscher Ärztetag: Eröffnungsveranstaltung

"Ich halte es für einen schon im Denkansatz fatalen Irrtum, wenn man glaubt, Gesundheit von Staats wegen verordnen zu kön- nen. Chancengleichheit, Gerech- tigkeit, aktive Beteiligung und Partnerschaft erreicht man nicht durch Zentralisierung und Büro- kratisierung und weder durch Planwirtschaft noch durch Global- oder Feinsteuerung." Gleichheit sichern, indem man Freiheiten be- schneidet, das wäre nach Mu- schallik der Anfang der Entmündi- gung unserer Bürger. Würde der Patient im Arzt einen von irgendei- ner Instanz ferngesteuerten, unter einem imperativen Mandat stehen- den Funktionsträger sehen, so ging die vertrauensvolle Zuwen- dung, die das Patient-Arzt-Ver- hältnis kennzeichnet, verloren, und der Dienst am Sozialversi- cherten würde zu bloßer Sozial- technik abgleiten. Aufwendungen für Gesundheit und Krankheit sei- en Sozialinvestitionen in Human- vermögen. Unter dem dominieren- den Maßstab jeweils gesicherter Erkenntnisse medizinischer Wis- senschaft und humaner Zielset- zungen werde es deshalb primär die Aufgabe der Selbstverwaltung von Krankenkassen und Ärzten sein, daraus jeweils unter Abwä- gung mittelfristiger gesamtwi rt- schaftlicher Entwicklungen die Ziele und den Umfang für Aufga- ben und Ausgaben für die ärztli- che Versorgung in Gesundheit und Krankheit abzustecken.

Zum Selbstverwaltungsgedanken führte Muschallik aus, Selbstver- waltung sei nicht einfach eine me- chanistische Entscheidung im Sinne der Beteiligung bestimmter Kreise an der Gestaltung ihrer ei- genen Verhältnisse. Würde dieses

Muschallik abschließend: es sei si- cherlich nicht leicht, auf der Grundlage der von ihm umrisse- nen "Philosophie der verantworte- ten Freiheit" die Aufgaben der Zu- kunft zu erfüllen. Dennoch, der Versuch muß gewagt werden, und

"ich bin davon überzeugt, daß dies zu schaffen ist, wenn wir das Phä- nomen des sozialen Wandels von Patient und Arzt heute erkennen und danach handeln. Hierzu ge- hört allerdings auch die Einsicht, daß mehr Lebensqualität sich we- der in mehr technischem Fort- schritt noch in Wohlstand bis zum Platzen erschöpfen kann, sondern durch bewußte menschliche Zu- wendung entsteht." bt/gb/NJ

Ein Zusammentreffen vor der Eröff- nungsveranstaltung: KBV-Vorsitzender Dr. Hans Wolf Muschallik mit dem frü- heren Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Walter Arendt (rechts)

Empfang des Vorstandes System umgebaut, so würde damit Im Anschluß an die Eröffnungsver- eine gesellschaftspolitische Wei- anstaltung gab der Vorstand der ehe gestellt, die nicht nur das frei- Bundesärztekammer im Foyer der heitliche Gesundheitswesen zer- Meistersingerhalle für die Dele- stört, sondern die Bundesrepublik gierten und die Gäste des Ärzteta- in eine Legitimationskrise gegen- ges einen Empfang, auf dem die über denjenigen stürzen würde, Teilnehmer bei Salzbrezeln und die auf dieses System der Mitwir- Frankenwein Gelegenheit zu kung bei der Gesaltung ihrer eige- zwanglosen Gesprächen, zum nen Aufgaben mit Recht ver- Vertiefen alter und zum Herstellen

trauen. 1 neuer Kontakte hatten. •

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