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Archiv "Arzt und Patient in der Leistungsgesellschaft" (11.11.1983)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 45 vom 11. November 1983

Arzt und Patient

in der Leistungsgesellschaft

Gotthard Schettler

Leistung ist zu einem Reizwort unserer Zeit geworden. Es hängt mit der Überbetonung des Lei- stungsprinzips für rein mechani- sche oder physiologische Auf- wendungen zusammen. In physi- kalischer Hinsicht bedeutet Lei- stung Kraft oder Arbeit in der Zeit- einheit. Arbeit und Leistung wer- den unter dem Gesichtspunkt des Erfolges gesehen. Leistungsver- halten setzt den angestrebten Er- folg voraus und schließt die Ver- meidung von Mißerfolgen ein. In unserer Gesellschaft werden un- ter dem Begriff der Effektivität vordergründig körperliche Lei- stungen gesehen, während die geistigen erst in zweiter Linie an- gesprochen werden. Das heißt, geistige Kreativität und Sponta- neität werden gründlich vernach- lässigt.

So verstanden, ist Leistung in un- serer Gesellschaft einfach mit dem Konsumwert gleichzusetzen.

Auch das Leistungsprinzip ist in einen Leistungskatalog einzube- ziehen, der nach bestimmten Lei- stungskriterien erfüllt oder ver- fehlt wird. Leistungsprämien sind somit die Folge eines stillschwei- gend vorausgesetzten Leistungs- solls, und dies ist wieder die Folge eines Leistungsdruckes. Lei- stungsprinzip und Leistungstrieb gehören zusammen. Ein gestei- gerter Leistungswille oder ein Lei- stungszwang sind bereits norma- tiven Beurteilungskriterien unter- geordnet.

Leistungsnoten und Leistungs- prämien werden in unserer Lei- stungsgesellschaft gefordert, um Unsere moderne Gesell-

schaft ist in vielfältiger Wei- se vom Leistungsbegriff durchdrungen; dabei hat Leistung, weit über das Phy- siologische hinaus, auch so- ziologische und politische Aspekte. Für den Arzt ist be- deutsam, daß Störungen der Fähigkeit zur Leistung oft zu Befindlichkeitsstörungen führen, die dann „in Krank- heit umgemünzt" werden können. Deshalb ist es für den Arzt wichtig zu erken- nen, wie sich die Faktoren, die unsere Leistungsgesell- schaft bestimmen, auf den einzelnen auch in seinem sozialen Umfeld auswirken.

den Erfolg zu garantieren und ins- besondere den in jeder Gesell- schaft unverzichtbaren Wachs- tumsquotienten zu sichern. Ob dieser Leistungsimpuls nun dem Wohlbefinden des Menschen dient, ist die vordergründige Fra- ge. Dies impliziert die Definition des Befindens, welches zwischen Gesundheit und Krankheit einge- bettet ist.

Der Leistungsbegriff in soziologischer Sicht

Leistung ist in einen sozialen Rah- men gestellt, sie hängt mit dem sozialen Status zusammen und wird nach gesellschaftlichen Gruppen und standardunter- schiedlich zugeschrieben oder zugebilligt (L. Rosenmayr). Lei- stung ist der Aufwand zur Errei- chung eines letzten Zieles. Dieser Aufwand wird von Handlungen ge- tragen; das Ergebnis dieser Hand- lungen wird in erster Linie nach dem Erfolg beurteilt. Aber es ist für die Leistung nicht immer aus- schlaggebend, ob ein gestecktes Ziel erreicht wird oder nicht.

Hochgradige Leistungen brau- chen also nicht immer einen Selbstzweck zu haben, der zum Enderfolg hinführt. Ich möchte hier von den anonymen Leistun- gen sprechen. Man kann natürlich bei der Bewertung von Leistun- gen nicht auf die Beurteilung des Erfolges gänzlich verzichten, wie das gelegentlich versucht worden ist.

Mit der Erreichung des Zieles ist eine individuelle Befriedigung Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 45 vom 11. November 1983 77

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Arzt und Patient in der Leistungsgesellschaft

verbunden, welche zweifellos den Leistungsaufwand beflügelt. Es ist eine Besonderheit der persön- lichen Struktur, wie dieses Er- folgserlebnis eingeordnet wird und wie es zur Weitermotivierung benutzt wird.

Der Leistungsbegriff ist auf sehr unterschiedliche Bezirke des Le- bens angewandt worden. Er ist durchaus nicht mit dem Begriff der Arbeit erschöpft. Leistungen gibt es in allen Bezirken des Le- bens, beim Sport, in der Kunst, in der Literatur, in der Wissenschaft und Technik. Man hat eine spiel- spezifische Leistung von der ar- beitsspezifischen Leistung unter- schieden. Es ist selbstverständ- lich, daß sich hieraus bestimmte Rückkoppelungen ergeben. Sie beziehen sich auf die sogenannte Leistungsgesellschaft. Die auch heute noch durchgehende Polari- sierung für oder gegen eine Lei- stungsgesellschaft geht fast aus- schließlich darauf zurück, Lei- stung mit Arbeit gleichzusetzen und beide in gegenseitige Bezie- hung zu setzen.

In unserer immer stärker durch Freizeit und Lustgewinn bestimm- ten Gesellschaft kann aber auf die

Leistung als auf einen humanen Bewertungsmaßstab nicht ver- zichtet werden. Die Bewertung ei- ner Leistung ist abhängig von den Leistungskriterien. Hierbei geht es nicht allein um die aufgewand- te Energie, sondern auch um die Zeit, die für die Bewertung einer Leistung mitverwandt wurde. Ge- rade für die Leistungsbewertung in späteren Lebensaltern ist der Zeitbegriff außerordentlich wich- tig.

Es gibt noch eine andere Möglich- keit, die Leistung einzuteilen, wenn man sie unter dem Ge- sichtspunkt verschiedener Hand- lungsbereiche sieht. Das gilt für die verschiedenen Berufsgrup- pen, aber auch für die leider in vielen Bereichen nicht anerkann- ten Berufe der Hausfrau und der überhaupt im Haushalt Arbeiten- den. Daß die Beurteilung geistiger

Leistungen hierbei besondere Probleme bietet, ist selbstver- ständlich. Hängt dies doch einmal vom Blickwinkel ab und zum an- deren auch von der Struktur und dem Beurteilungsvermögen des Betrachtenden. Wir dürfen nicht vergessen, daß es tagtäglich Lei- stungen zu vollbringen gilt, die für die gesunden jüngeren Menschen und für Menschen mittleren Alters selbstverständlich sind, die aber für ältere Menschen schon mehr bedeuten. Sind Treppensteigen, rasches Gehen, Heben von La- sten, Verrrichtungen im Haushalt, aber auch in der Betreuung ande- rer Menschen, zum Beispiel in der Säuglings- und Kinderbetreuung sowie in der Krankenpflege, nicht etwa Leistungen? Sie zu messen, haben wir kaum Möglichkeiten.

Wir dürfen uns auch nicht scheu- en, die Sexualität in den Lei- stungsbegriff einzubeziehen. Es ist eine sehr interessante Frage, Beziehungen zwischen Hormon- haushalt und Leistungsvermögen herzustellen. Jeder von uns weiß, wie sehr die rein körperliche Lei- stung durch hormonelle Manipu- lation zu beeinflussen ist. Man braucht nicht allein an die Anabo- lika zu denken, sondern es gibt zahlreiche negative Beispiele der Leistungsbeeinflussung, zum Bei- spiel durch Schilddrüsenhormone beziehungsweise durch die Vor- gänge, die mit der Hyperthyreose oder anderen endokrinen Störun- gen verbunden sind. Organische Veränderungen können also gera- de auf dem Hormongebiet erheb- liche Leistungsveränderungen bewirken. Jeder von uns kennt das Beispiel der latenten Ne- bennieren- oder Hypophysen- insuffizienz. Wir brauchen aber nicht einmal in solche auffälligen Bereiche zu gehen. Hier müssen wir latente und manifeste, somati- sche, aber auch psychosomati- sche Krankheiten mit heranzie- hen.

Für die Beurteilung des Lei- stungsbegriffes ist es also not- wendig, den jeweiligen körper- lichen und seelischen Status ge-

nau zu kennen und überhaupt zu definieren. Sonst geraten wir bei der Beurteilung von Leistungen zwangsläufig in extreme Schwie-

rigkeiten.

Noch einmal ist festzuhalten, daß man unterscheiden soll, was eine Gesellschaft als Leistung aner- kennt, beziehungsweise welche Leistung die Gesellschaft in den Vordergrund rückt(Rosenmayr), oder was der einzelne zur Haltung seiner Persönlichkeit und zur wei- teren Motivierung selbst als Lei- stung versteht. Mit anderen Wor- ten, der Leistungsbegriff muß ein- mal unter ärztlich-medizinischen, zum anderen aber auch unter so- ziologischen und politischen Aspekten definiert werden. Der Leistungsbegriff muß im jeweili- gen sozialen Kontext gesehen werden, weil er nach Rosenmayr überhaupt erst sozial, das heißt sowohl zwischenmenschlich als auch sozialstrukturell, als Lei- stungsbegriff konstituiert wird.

Die Leistung ist von der Umwelt niemals zu trennen, also von der Familie, von Freunden, von der Nachbarschaft, von den Kollegen, von der Beschaffenheit des Ar- beitsplatzes. Leistung wird in der Zufriedenheit motiviert, Zufrie- denheit mit sich selbst und mit der Anerkennung durch das Umfeld.

Dadurch wird die Befindlichkeit gesteigert oder gemindert. Wie diese wiederum das tägliche Le- ben beeinflußt und mögliche Krankheiten impliziert, das ist ei- ne andere Frage.

Leistung —

Gesundheit und Krankheit Die moderne Definition von Ge- sundheit und Krankheit läßt uns viele Spielräume. Sie werden nicht allein von medizinischen, sondern auch von psychischen und sozialen Grenzen abgesteckt.

Das absolute Wohlbefinden ist das angestrebte Ziel einer optima- len, das heißt gesunden Gesell- schaft. Schipperges hat kürzlich formuliert, daß zwischen den Grenzphänomenen von Gesund- 78 Heft 45 vom 11. November 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen Arzt und Patient in der Leistungsgesellschaft

heit und Krankheit die dritte Kate- gorie vernachlässigt wurde, wo man nicht eigentlich krank, aber auch nicht ganz gesund ist, wo der Arzt als Lebenskünstler, als der Zeuge der großen und kleinen Szenen des Lebens noch seine Chance hatte, ehe man ihn so bru- tal dazu verdonnerte, mit seinem

„Krank-" und „Gesund"schreiben zum „Kesselflicker des Kapitals"

zu werden. Der Mensch der sich aus somatischen, psychischen oder sozialen Gründen nicht wohlfühlt, meldet sich krank und versucht damit seine Patienten- karriere einzuleiten. Er wird vom Arzt gesund oder krank geschrie- ben. Gesundschreiben verweigert ihm die Phase der Krankheit.

Krankschreibung bedeutet die Einweisung in den Krankenstand.

Die derzeitige Alternative im So- zialrecht zwischen gesund und krank vernachlässigt die wichtige Phase der Mißbefindlichkeit. Die- se wird nicht aufgearbeitet, son- dern in Krankheiten umgemünzt.

Es beginnt die Patientenkarriere mit Beschreibung einer organi- schen Diagnose. Sie kann unter- schiedlich lang sein, zu Heilung oder Dauersiechtum führen. Meist wird der Patient von seinem Arzt über kurz oder lang gesund ge- schrieben und damit wieder in den Arbeitsprozeß eingegliedert.

Das setzt voraus, daß ihm ein ent- sprechendes Arbeitsangebot ge- macht wird. Daß dies in der jetzi- gen Zeit nicht selbstverständlich ist, spielt für die Befindlichkeit des einzelnen natürlich eine un- gemein große Rolle. Die Frustra- tion des Arbeitslosen führt zwei- fellos zu einer Beeinträchtigung seines Lebensgefühls. Frustratio- nen machen sich, wie später ge- zeigt wird, aber auch auf dem ge- samten Gebiet der Leistungen be- merkbar. Frustrationen behindern den Leistungswillen und die tat- sächlich erbrachten Leistungen.

Jede zu erbringende Leistung setzt natürlich einen entsprechen- den Leistungswillen voraus. Fehlt er, oder wird er durch Leistungs- unwilligkeit ersetzt, so führt dies zur Auslöschung nahezu aller Lei-

stungen. Es wird daher zu definie- ren sein, wo die Leistung zwi- schen Gesundheit, Wohlbefinden und Krankheit einzuordnen ist und welche Möglichkeiten beste- hen, Leistungen als positives oder negatives Geschehen in der Ge- sunderhaltung einerseits, der Krankheitsentwicklung anderer- seits, einzuordnen.

Krankheit galt nach der alten Krankenversicherung als ein re- gelwidriger Körper- und Geistes- zustand, der Behandlungsbedürf- tigkeit und/oder Arbeitsunfähig- keit zur Folge hat. Aus der Be- handlungsbedürftigkeit ist inzwi- schen die Behandlungsfähigkeit geworden, die dem Anspruch auf Fürsorge Tür und Tor öffnet (H.

Schipperges). Jede Abweichung vom gängigen Leitbild der gesun- den Norm kann heute, so nach dem Bundessozialgericht 1967, als ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand aufgefaßt werden.

Der somit definierte Patient wird anstreben, diese Abweichung zu korrigieren, wenn er sie über- haupt erkennt und geltend macht.

Was bedeutet das für unsere Ge- sellschaft?

Wie hat sich

die Leistungsgesellschaft in unserem Staat entwickelt?

Helge Pross hat dies in bemer- kenswerter Weise einmal zusam- mengestellt. Sie spricht von einer Verlagerung von Wertprioritäten in unserer Gesellschaft und nicht etwa von einer Umwertung aller Werte. In der Aufbauphase der Bundesrepublik etwa bis Mitte der 60er Jahre stimmten fast alle so- zialen und politischen Gruppen überein, daß Wachstum erstre- benswert sei.

Das Leistungsprinzip wurde unan- gefochten bejaht. Leistung ist die dem Wachstum unmittelbar die- nende Tätigkeit. Arbeiten ohne di- rekte Beziehung zum Wachstum wurden geringer geschätzt: Aus- bildung, Bildung, Forschung, Kunst. Härte, ausdauernde und unermüdliche Arbeit galten als

Tugend. Damit war die Gesell- schaft vorwiegend eine Arbeitsge- sellschaft, die fast allgemein be- jaht wurde. Einfluß, Einkommen und Ansehen, die nicht aus Arbeit resultierten, waren nach Helge Pross verpönt. - Sie galten sozusa- gen als illegitim. Ungleichheit als Folge ungleicher Leistungsquali- tät wurde bis dato für gerecht ge- halten, Ungleichheit der materiel- len und immateriellen Entgelte bei gleicher Leistungsqualität gal- ten für ungerecht. Daneben stand die persönliche Freizeit hoch im Kurs.

Die Masse der politischen Strö- mungen mündete, nach all den schrecklichen Erfahrungen der Kriegs- und ersten Nachkriegs- zeit, in eine allgemein erwünschte Friedenspolitik ein, ohne daß au- ßenpolitische Zwänge und Gege- benheiten primär berücksichtigt wurden. In dieser Aufbauphase überwog nach Pross eine Art dy- namische Ordnungsmentalität:

Hochschätzung von Wachstum, Arbeit, Arbeitsdisziplin, Berufsen- gagement, Sicherheit, Privatheit, Hochschätzung des durch eine beinahe asketische Lebensweise erreichten Konsums.

Hier ist nun in den letzten Jahren zweifellos eine Wandlung einge- treten. Nach wie vor sind alle die- se Wertvorstellungen voll in Kraft.

Sie gelten aber nicht mehr so un- bedingt. Sie haben ihre Selbstver- ständlichkeit verloren. Dies zeigt sich vor allem an den Denkweisen und Stimmungslagen größerer Gruppen der Mittelschichten und der Arrivierten, weniger in den Grundschichten. Die Hochschät- zung von Arbeit und Beruf flacht ab und weicht eher einer instru- mentellen Auffassung von Arbeit (H. Pross). Symbolisch für diesen Sinneswandel ist die Einstellung zur Überarbeitung. Sie.. galt als durchaus beachtlich oder sogar als lobenswert. Der für seine Fa- milie, für seine Umgebung in sei- ner Pflicht weit vorpreschende Mensch, der Manager, der im Dauerstreß lebende Arzt, der un- ermüdlich tätige Politiker konnten Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 45 vom 11. November 1983 81

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Arzt und Patient in der Leistungsgesellschaft

auf Teilnahme und Respekt rech- nen, wenn sie Folgen der chroni- schen Überbelastung beklagten oder objektiv aufwiesen. So gilt zum Beispiel der Herzinfarkt bei vielen als Prototyp der leistungs- mäßigen Überforderung. Der In- farkt wird als Folge übermäßiger und rastloser Fürsorge für die Fa- milie hingestellt. Er ist gleichsam die Quittung für übertriebenes Pflichtbewußtsein. Ich bin auf der- artige Zusammenhänge, die unter dem Stichwort „Stress" gegeben sind, in meinem Buch „Der Mensch ist so jung wie seine Ge- fäße" näher eingegangen. Wir kommen darauf nochmals zurück.

Leistung und Freizeitgestaltung

Mit der Erreichung eines hohen Versorgungsniveaus stellten sich in unserer Gesellschaft bald über- triebene Anforderungen und überzogene Ansprüche in der Freizeitgestaltung ein. Die vorwie- gende Leistungsgesellschaft wur- de in steigendem Maße auch zu einer Freizeitgesellschaft. Das Zentrum der persönlichen Exi- stenz verlagerte sich von der Ar- beit zur Freizeit. Arbeit wird nach Helge Pross mehr als eine Aktivi- tät im Dienste der Freizeit gese- hen und nicht umgekehrt die Frei- zeit als ein Mittel, das Arbeitsver- mögen zu verbessern. Dafür gibt es zahlreiche Hinweise. Die Nei- gung zu aufwendigerer Urlaubs- gestaltung hat auch unter den heutigen rezessiven Verhältnis- sen nicht gelitten. Hier muß auch die Tendenz bloßgelegt werden, immer weniger zu arbeiten, die erbrachte Arbeit immer höher zu bewerten und zu entlöhnen und Freiräume immer ausgedehnter werden zu lassen. Ausdruck die- ser Gesinnung ist die Tendenz, die Pensionierungsgrenze immer weiter vorzuverlegen.

Wir als Ärzte müssen uns wehren, wenn als Alibi für diese Forderun- gen die Gesundheit, das Gesund- heitsbewußtsein herangezogen werden. Verkürzung der täglichen

und der Lebensarbeitszeit sind politische Forderungen. Sie sind primär nicht mit biologischen Maßstäben zu messen und nicht mit einer krankmachenden Rolle der Arbeit generell zu begründen.

Ganz allgemein wird bei der wachsenden Freizeitorientierung der Befriedigung persönlicher Be- dürfnisse heute viel mehr Bedeu- tung eingeräumt. Dies hat zweifel- los mit dem erreichten hohen Le- bensstandard zu tun.

Das Interesse an der Erhaltung und der Wiederherstellung der Gesundheit ist natürlich nicht al- lein eine Sache der somatischen, sondern auch der psychologi- schen Größen. Hierauf gründet auch die steigende Nachfrage nach psychologischen und psy- chosomatischen Diskussionen, wie das insbesondere bei den Fortbildungsveranstaltungen der Ärzte und der medizinischen Assi- stenzberufe ganz offenbar wird.

Diese Hinwendung zur Psycholo- gie ist der Ausdruck der wachsen- den Beschäftigung des einzelnen mit sich selbst und ist nur mit der Tendenz zur Befriedigung der ei- genen Bedürfnisse zu verstehen (Helge Pross). Es sind aber nicht die Wünsche selbst, sondern die Mittel und Wege, mit denen sie verwirklicht werden sollen. Ich zi- tiere: „Selbsterfüllung oder Le- benserfüllung wird nicht von der Hingabe an außerhalb des Indivi- duums liegende Ziele erhofft, son- dern von der Realisierung unmit- telbar ichbezogener Bestrebun- gen, nicht vom Dienst an Religion oder Vaterland oder an der Klasse oder an der Partei oder am Beruf oder an der Familie und auch nicht von einer durch disziplinier- te Arbeit und ständige Sparsam- keit erst herzustellenden fernen Zukunft, sondern unmittelbar von der Gegenwart, von der Beschäfti- gung mit sich selbst, von der Lö- sung aus der strengen Ordnung und Disziplin."

Wenn unser modernes Leben aber zwischen Leistung und Frei- zeit pendelt, so ist Freizeit als eine Nicht-Leistungs-Zeit auch heute

noch sehr unterschiedlich verteilt.

Je höher der einzelne qualifiziert ist, zum Beispiel in den freien Be- rufen, in führenden Wirtschafts- positionen, bei Politikern, Wissen- schaftlern, Journalisten und so weiter, um so geringer ist im all- gemeinen die Freizeit bemessen.

Dies gilt aber auch für manche un- terprivilegierte Gruppen, zum Bei- spiel für kinderreiche Frauen, Bäuerinnen, Hausfrauen. Man kann bei diesen Gruppen sogar von einem Freizeitnotstand spre- chen. Es ist oft unmöglich, diese ungute Gewichtung aufzuheben.

Hier sollte.aber auch der Arzt ein- zugreifen versuchen, um Fehlver- halten und Fehlentwicklungen aufzuzeigen und zu korrigieren.

Nicht selten wird die drastisch verkürzte Freizeit durch ein über- steigertes Konsumdenken hervor- gerufen. Leistung und Konsumge- sellschaft schaukeln sich hier so- zusagen gegenseitig hoch. Die Leistungsorientiertheit wird nach Rosenmayr durch die wohlfahrt- liche Versorgungsstaatlichkeit un- terminiert.

Für manche Leute ist die stete Klage, die Leistungsanforderun- gen an ihrem Arbeitsplatz seien viel zu hoch, nichts weiter als eine Tarnung und Ausrede für Be- quemlichkeit oder Faulheit. Wie- der andere stöhnen über den Lei- stungszwang und meinen damit letztlich das Schicksal, überhaupt arbeiten zu müssen (Hans Röper:

Das Gerede vom Leistungsterror).

Nach Mirabeau gibt es nur drei Methoden um leben zu können:

„Betteln, stehlen oder etwas lei- sten." Also bleibt uns als anstän- digen Menschen nur die dritte Al- ternative!

• Wird fortgesetzt Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. Dr. h. c. mult.

Gotthard Schettler

Direktor der Medizinischen Klinik der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Bergheimer Straße 58 6900 Heidelberg 1 82 Heft 45 vom 11. November 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ARZTEBLATT Ausgabe A

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