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Archiv "Arzt-Patient-Beziehung: Der fragmentierte Patient" (06.01.2003)

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T H E M E N D E R Z E I T

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A24 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 1–26. Januar 2003

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eit jeher steht das ärztliche Handeln im Spannungsfeld dreier konstitu- ierender Strebungen (Bewegungs- modi), die sich in wechselnden Mi- schungsverhältnissen auf das Wohl des Kranken zentrieren:

1. Aus einer Bewegung des Hinzutre- tens, der genauen Beobachtung und Anamneseerhebung, der körperlichen Untersuchung, diverser Leistungsprü- fungen und Labortests wird in methodi- schen Schritten der Sonderung, Auf- splitterung und Analyse Daten- material gewonnen.

2. In einer Bewegung des Zurücktretens muss dieses Ma- terial zu sinnvollen, das heißt handlungsrelevanten Mustern verknüpft, auf Ursachenhypo- thesen überprüft, zu einer Dia- gnose synthetisiert und in den Bezugsrahmen des individuel- len Patienten integriert wer- den.

3. Der initialen Hinwendung (Datengewinnung, Analyse) und darauf folgenden Distan- zierung (Datensynthese, Dia- gnose) hat sich als dritte Bewe- gung eine neue Zuwendung zum Kranken anzuschließen, die der Erläuterung von Be- fund und Beurteilung sowie der Darle- gung des weiteren Vorgehens (Behand- lung) dienen soll. Sie wird vom Kranken unbedingt erwartet. Mit Bangen und Hoffen hat er die vorausgegangenen Handlungsschritte des Arztes beobach- tet und will nun ins Bild gesetzt werden.

In diesem Bild sollen Störungswahr- nehmungen, Ursachenvermutungen und etwaige Selbsthilfeversuche des Pa- tienten mit den vom Arzt festgestellten Normabweichungen, seinem diagnosti- schen Urteil und seinem Behandlungs-

vorschlag zu einem fasslichen Ganzen zusammengefügt werden. Wenn die als Krankheit oder Behinderung auf den Begriff gebrachte Störung des alten ge- sunden somatopsychischen Gleichge- wichtes so klar wie möglich identifiziert und damit gleichsam „dingfest“ ge- macht wurde, kann sie jetzt zum Gegen- stand eines Behandlungsvertrages zwi- schen Arzt und Patient werden.

Derart erwächst aus dem Wechsel- spiel der drei Bewegungen eine Arzt-

Patient-Beziehung, die den Kranken in den resultierenden Heilplan nicht nur als duldendes Objekt, sondern als kooperierendes Subjekt einbezieht.

Schauplatz dieses Wechselspiels ist die Sprechstunde respektive die Visite am Krankenbett (die Notfallversorgung von Unfallopfern sei hier ausgeblen- det); wesentliches Medium ist das Ge- spräch. Dabei sollte das Expertenwis- sen des Arztes auf einfühlbare Weise in die „individuelle Wirklichkeit des Pati- enten“ (Thure von Uexküll) eingeführt

werden. Zweck und Art weiterer Un- tersuchungen, notwendiger körperli- cher Eingriffe oder Medikationen sind dem Patienten verständlich zu machen.

Gelingt diese Vermittlung, wächst das Vertrauen des Kranken; seine Mitar- beit, seine Compliance werden gestärkt.

Er fühlt sich als Person wahrgenom- men, respektiert und in der Obhut des Arztes aufgehoben.

Die moderne Medizin ringt zuneh- mend mit dem Problem, dass die Daten- gewinnung durch den Einsatz immer detaillierter sich entfal- tender Analysemethoden ein Übergewicht über die Integra- tion und namentlich die Ver- mittlung erlangt hat. Die gestei- gerten Möglichkeiten und im- mer anspruchsvolleren Techni- ken der Befunderhebung bean- spruchen nicht nur einen wach- senden Anteil am Zeitbudget des Arztes, sondern können auch sein Interesse von der Pflege der Arzt-Patient-Bezie- hung ablenken. Die der Tech- nik geschuldete Aufmerksam- keit geht allzu leicht auf Kosten der menschlichen Zuwendung zum Patienten. Der sich in neuerer Zeit verschärfende ökonomische Druck auf eine kosten- günstige Patientenversorgung addiert sich zu dieser Problematik.

Das Ganze einer umgreifenden Heil- praxis geht in der verwirrenden Vielfalt der Spezialfächer und Spezialmethoden verloren, die Grundmelodie menschli- chen Leidens wird mehr und mehr übertönt vom „Rauschen der Daten“.

Nun fehlt es nicht an Bemühungen, das auseinander strebende Teilwissen und Teilhandeln in der Medizin neu zu verknüpfen. Theorieanstrengungen der

Arzt-Patient-Beziehung

Der fragmentierte Patient

Die Befundvermittlung wird vielfach zugunsten einer immer detaillierteren Datensammlung vernachlässigt. Dann sieht sich der Patient weniger als leidendes Subjekt gewürdigt denn als „Werkstück“ verobjektiviert.

Wolfgang Böker

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Psychosomatik, die Einführung des Facharztes für Allgemeinmedizin oder auch Versuche, die Ausbildung der Me- dizinstudierenden nach fachübergrei- fenden Problemfeldern neu zu ordnen, sollen der Aufsplitterung entgegenwir- ken. Auf die tägliche ärztliche Praxis haben diese Reformanstrengungen bis- her nicht nennenswert eingewirkt. Der Patient erlebt heute als Hilfesuchen- der, dass der Arzt den Blick allzu schnell nur auf ein Organ, eine verän- derte Leistungsfähigkeit, ein (hoffent- lich) charakteristisches Symptommu- ster und einen labortechnisch erhobe- nen Datenspiegel richtet. Zur Festi- gung der Diagnose werden häufig auf- wendige, teure und wiederholt durch- geführte Untersuchungen eingesetzt.

Deren Ergebnis wird oft nicht mehr genügend in ein Gesamtbild integriert und vor allem viel zu wenig mit dem Kranken besprochen. Als Konsequenz spürt sich der Betroffene nur noch in Teilaspekten, bruchstückhaft, eben als „fragmentierter Patient“ wahrge- nommen.

Wechselspiel der drei Bewegungen

Es geht hier nicht darum, bei jedem Arztkontakt den ganzen Leib und sämtliche Nöte, Erwartungen, Eigen- schaften und Weltbezüge des Patienten in die Arzt-Patient-Beziehung einzu- bringen. Eine augenärztliche Visusprü- fung oder die orthopädische Untersu- chung einer Sehnenzerrung richtet sich vernünftigerweise auf ein eng um- schriebenes Wahrnehmungsfeld. Aber auch hier gilt das Wechselspiel der drei Bewegungen, auch hier erwartet der Patient eine abschließende, erläuternde und bewertende Stellungnahme des Arztes, um den Anlass, der ihn zur Un- tersuchung führte, als bereinigt ansehen zu können. Auch hier muss in der leib- seelischen Verarbeitung ein neues – vielleicht funktional eingeschränktes – Ganzes erzielt werden, das sich in die biografische Identität des Betroffenen einfügen lässt. Wo diese Einfügung nicht gelingt, bleibt die Empfindung der Fragmentierung bestehen.

Die Sachzwänge der apparativen Medizin, die Verbürokratisierung der

Betriebsabläufe, die Hektik der großen Kliniken, die Zersplitterung der Ver- antwortungen in den multiprofessio- nellen Teams, das vordringende Ko- sten-Nutzen-Denken bei schärfer ge- wordenen Sparmaßnahmen der Kran- kenkassen behindern den Arzt immer stärker in der Erfüllung seines eigentli- chen Auftrags: sich dem individuellen Patienten mit voller Aufmerksamkeit zu widmen in jener „situationsange- messenen Wachheit, in der sich Dia- gnose und Behandlung und Gespräch und das ,Mitmachen‘ des Patienten zusammenschließen“ (Hans-Georg Ga- damer 1993).

Eben an diesem „Zusammen- schluss“ – Aufgabe einer integrativen Medizin – mangelt es so oft. Schon bei der Befunderhebung wird eine vermit- telnde Vorbereitung häufig versäumt.

Patienten werden zu Untersuchungen in Labore geschickt, ohne ihnen den Ablauf und Zweck der dort bevorste- henden Maßnahmen zu erläutern. Da kann es zum Beispiel vorkommen, dass ein unaufgeklärter Kranker die Ablei- tung der Hirnströme (EEG) mit der Zuführung von Strom (Elektroschock) verwechselt und in Panik gerät.

Besonders im unübersichtlichen Be- reich des modernen Großkrankenhau- ses wird der Patient häufig zu einem medizintechnischen „Werkstück“, des- sen Personhaftigkeit keine Würdigung mehr erfährt. Dazu ein Fallbeispiel:

Wegen einer Fehlgeburt zur Abrasio uteri in die Frauenklinik eingewiesen, wird eine junge Patientin zur Narkose in den Vorraum des Operationssaals ge- fahren. Nach längerem Warten tritt ein vermummter Arzt von hinten an die entblößt Liegende heran und fragt kurz, ohne sich ihr mit Namen und Funktion vorzustellen, ob sie falsche, herausnehmbare Zähne trage. Es han- delt sich um den Anästhesisten. Seine Frage war berechtigt, wurde aber ab- rupt, ohne Gesichtskontakt und Kon- texterklärung in unhöflicher Anony- mität geäußert mit der Mentalität eines Facharbeiters, der ein Werkstück zur Bearbeitung prüft. Diesen Arzt interes- sierte nur ein Fragment der Patientin:

die Verhältnisse in ihrem Mund-Ra- chen-Raum; würde sich der vorgesehe- nen Intubation ein mechanisches Hin- dernis in den Weg stellen, ja oder nein?

Für die nach dem Abort emotional labi- le, von dem bevorstehenden operativen Eingriff geängstigte Frau keine ermuti- gende Begegnung.

Auch bei hoher Qualität der Daten- erfassung und Diagnosestellung wie bei fachkundigen Bemühungen um eine qualifizierte Therapie wird immer wie- der der notwendige Einbezug des Kran- ken in den Heilplan verfehlt.

Dass eine ausbleibende adäquate Vermittlung von Befund und Behand- lungsprozedere zu dramatischen psy- chopathologischen Reaktionen führen kann, illustriert das folgende Beispiel:

Fehlende Zuwendung und bruchstückhafte Information

Eine circa 40-jährige Bauersfrau wird wegen tagelang bestehender vaginaler Blutungen in die gynäkologische Ab- teilung eines Großkrankenhauses ein- gewiesen. Von untergründiger Krebs- furcht geängstigt und beim Gedanken daran, ihre Kinder und das Haus in der Obhut der schwer herzleidenden Mut- ter zurückgelassen zu haben, auch von Sorgen und Schuldgefühlen gequält, erfährt sie vom erstuntersuchenden Stationsarzt, man könne ihr wohl hel- fen, die stationäre Behandlungsdauer sei allerdings noch unbekannt, morgen werde sie bestrahlt. Eine klare, für die unterdurchschnittlich intelligente Frau verständliche Information über ihren Zustand und die Art der bevor- stehenden Ereignisse erhält sie nicht.

Von Mitpatientinnen, denen sie ihre Lage schildert, hört sie in verzerrter Darstellung Beunruhigendes: Zu jener ominösen Bestrahlung werde sie in ei- nen meterdicken, fensterlosen Beton- bunker gefahren, festgeschnallt und mit „Atomen“ beschossen; anschlie- ßend werde die Regel aufhören, und sie sei unfruchtbar. Die Sache könne wochenlang dauern. Nach schlafloser Nacht gerät die Patientin morgens in einen erregten Angstzustand, entwin- det sich dem Pflegepersonal und will ohne Kleider aus dem Krankenhaus fliehen. Der psychiatrische Konsultati- onsdienst wird wegen „Verdachts auf akute Schizophrenie“ gerufen, kann diese Verdachtsdiagnose aber entkräf- ten. Es handelt sich um eine Panikre- T H E M E N D E R Z E I T

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aktion auf die als bedrohlich erlebte Umgebung.

Hier hat der Arzt jegliche Empathie vermissen lassen und sich als unfähig erwiesen, die Not dieser Patientin wahr- zunehmen und aufzufangen. Zur unzu- reichenden Zuwendung addiert sich ei- ne oberflächliche, bruchstückhafte In- formation über den Therapieplan.

Blick auf „anthropologisches Gesamtfeld“ geht verloren

Nicht nur Bestrahlungs- und Röntgen- apparaturen, Monitore, Narkosegeräte und Herz-Lungen-Maschinen, in Hand- habung und Funktion oft auch dem Pflegepersonal schwer verständlich, erwecken Überwältigungsängste. Auch die gesamte immer anonymer werdende Untersuchungs- und Heiltechnik einer hochkomplexen Kran-

kenhauswelt mit ihrer verwickelten Rollen- struktur, den kassen- rechtlichen und admi- nistrativen Unüber- sichtlichkeiten ist ge- eignet, selbst im prä- morbid stabilen, durch- schnittlich informier- ten Patienten Gefühle der Ohnmacht und Verwirrung zu erwek- ken. Diese Gefühle können in psychopa- thologische Dimensio- nen anwachsen, wenn unerwartete, als beson- ders belastend vorge- stellte Maßnahmen, et- wa die Verlegung von einer Station auf eine andere, dem Kranken nicht plausibel erklärt

werden oder er sich wie ein unmündiges Kind ungefragt und zum Objekt degra- diert fühlt. Ein Krankenhauswesen, das unter Kostendruck und Rationalisie- rungszwang, gedrängt vom raschen Fortschritt des naturwissenschaftlichen Machbaren, hauptsächlich über Auto- matisation von Handlungsabläufen, Verkürzungen von Verkehrswegen, Be- schleunigung der Datenerfassung bei gleichzeitiger Einsparung an Angebo- ten, die nicht zum „Kerngeschäft“

gehören, nachdenkt, verliert offensicht- lich immer rascher den Blick für ein „an- thropologisches Gesamtfeld“ (Heinrich Schipperges), in dem Patienten und Krankenhauspersonal miteinander um- gehen.

Das Phänomen der Fragmentierung des Patienten ist keineswegs nur im heutigen Krankenhausbetrieb anzu- treffen. Man findet es auch in den Arzt- praxen, die inzwischen ebenfalls unter dem Diktat betriebswirtschaftlicher Zwänge und der Kosten-Nutzen-Nö- tigung leiden. Zeit ist Geld: Noch während der Anamneseerhebung wer- den frühere Befunde per Computer abgerufen. Die Sprechstundenhilfe reicht Berichte über andere Patienten herein, die draußen warten; Telefonge- spräche schieben sich dazwischen, Re- zepte werden ausgedruckt et cetera.

Da bleibt wenig Zeit für ruhiges Nach-

denken und integrative Überlegungen.

Die verständnisgerechte Vermittlung, eigentliche Krönung der Arzt-Patient- Beziehung, gerät zum betriebswirt- schaftlichen Luxus, der womöglich bald nicht mehr zum doch unverzicht- baren Element einer lege artis durch- geführten Patientenbetreuung gehö- ren dürfte.

Diese negative Entwicklung unseres Medizinwesens entspringt nicht grund- sätzlicher Gleichgültigkeit oder rück-

sichtslosem Gewinnstreben der Ärzte.

Sie hat sich aus vielen Quellen gespeist, schleichend ausgebreitet, und ein Ende ist leider nicht abzusehen. Die Sprach- verarmung der Praxis wird von vielen Ärzten selbst beklagt. Nur: Was nicht mehr täglich geübt werden kann, ver- kümmert.Was nicht mehr zur Heilkunst vervollkommnet wird, kann auch an jüngere Ärzte nicht mehr lehrend wei- tergegeben werden.

Flucht in die

alternative Heilkunde

Seit langem fühlt sich eine noch wach- sende Zahl von Menschen der westli- chen Industrieländer von der so ge- nannten Schulmedizin unbefriedigt und sucht Hilfe bei Vertretern der al- ternativen Medizin. Hierbei handelt es sich um eine bunte Palette so genann- ter sanfter Untersuchungs- und Be- handlungsformen, die sich großen- teils aus volksmedizinischen, vorwis- senschaftlichen Traditionen ableiten.

Dazu gehören Heilweisen wie die Homöopathie, Chiropraktik, anthro- posophische Medizin, Phytotherapie, die traditionelle chinesische Medizin und andere. Man wird nicht behaupten können, dass die alternative Heilkun- de ihre Erfolge vornehmlich dem in- tensiver als in der wissenschaftlichen Medizin gepflegten Gespräch mit dem Kranken verdankt. Häufig werden stark suggestive Praktiken ins Spiel ge- bracht, die auf magische, nicht diskur- sive Weise wirken. Was die Patienten beeindruckt, ist offensichtlich das Er- lebnis, auf andersartige, einfühlsame Weise ernst genommen zu werden und nicht Objekt einer Beklemmungen er- zeugenden Technomedizin zu sein.

(Dies schließt keineswegs aus, sich im Notfall bei gefährlichen Eingriffen auf Leben und Tod doch der als wirksam respektierten naturwissenschaftlichen Medizin anzuvertrauen.) Der Wunsch nach Entspannung und Beruhigung spielt heute bei vielen Menschen eine wesentliche Rolle. Patienten mit Kopf- schmerzen, Muskelverspannungen, Schlafstörungen, Rückenleiden füllen die Wartezimmer. Nicht ohne Grund erfreuen sich die immer aufwendiger eingerichteten „Wellness“-Abteilun- T H E M E N D E R Z E I T

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Die Untersuchungs- und Heiltechnik einer hochkomplexen Kran- kenhauswelt ist geeignet, beim Patienten Gefühle der Ohnmacht und Verwirrung zu erwecken. Foto: Peter Wirtz

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gen von Hotels und Sanatorien so großer Beliebtheit. Manche Alterna- tivverfahren, wie zum Beispiel die indi- sche Ayurvedabehandlung, befriedi- gen unter anderem diese Sehnsucht stressgeplagter Bürger.

Daneben wächst das Verlangen nach Angehörtwerden, nach ich-stärkenden Aussprachen, Konflikte und Identitäts- zweifel klärenden Gesprächen, Bera- tung in vielerlei Erziehungs-, Partner- schafts- und Berufsfra-

gen, was den „Psycho- Boom“ der letzten Jahr- zehnte erklärt.

Je fragmentierter und knapper sich der Patient von den Vertre- tern der herrschenden Medizin abgefertigt er- lebt, je mehr sich ärztli- ches Handeln in ein ver- ziffertes ökonomisches Produkt verwandelt, um- so deutlicher wird die Hinwendung der Hilfe- suchenden zu den alter- nativen Angeboten aus- fallen.

Aber auch die Ärzte sind betroffen. Das Phä-

nomen der Fragmentierung wirkt sich negativ auf die Wirksamkeit ihres Han- delns und ihre berufliche Befriedigung aus. Dies sei nachfolgend begründet.

Die Aufspaltung der Arzt-Patient- Begegnung in die eingangs vorgestell- ten drei „Bewegungen“ ist didaktisch sinnvoll, aber künstlich. In der Realität sind die Schritte Datengewinnung, Be- fundinterpretation und Ergebnisver- mittlung fast immer eng verknüpft, auch erste therapeutische Wirkungen gehen schon mit der Anhörung und körperlichen Erstuntersuchung des Kranken einher (der „diagnostisch- therapeutische Zirkel“ nach Thure von Uexküll). Beispiel Blutdruckmes- sung: Die sorgfältige, unter Umständen wiederholte Messung liefert die Dia- gnose Normotonie oder Hypertonie und wird dem Patienten gewöhnlich sogleich mitgeteilt. Ob und wie dies ge- schieht – gleichgültig, beruhigend oder alarmierend –, beeinflusst nicht nur die Regelung des aktuellen Kreislaufs, sondern bahnt oder verzögert die Vertrauensbildung des Untersuchten.

Komplexe Befunderhebungen (aus- führliche Anamnese, Erhebung des Körperstatus und andere) stellen sich regulär als Wechselprozess der drei Bewegungen dar: Datengewinnung, Datenbewertung und Erläuterungen interagieren; Arzt und Patient tau- schen mehrfach kurze Kommentare und Erläuterungen aus. Daraus er- wächst im Problemfeld „Gesundheit – Krankheit“ auf beiden Seiten ein neu-

es Erlebnisganzes – ein Behandlungs- bündnis kann geschlossen werden. Ge- lingt dieser Wechselprozess auch während der Therapiephase, führen Arzt und Patient einen unverzichtba- ren Austausch fort, der beide Seiten motiviert, auch wenn die Natur der Heilung Grenzen setzt.

Arzt-Patient-Verhältnis bleibt asymmetrisch

Bleibt die Wahrnehmung des Kranken durch den Arzt unvollständig, frag- mentiert, oberflächlich oder auf ein hervortretendes Störungssymptom be- schränkt, wird die Diagnose unzurei- chend ausfallen. Kommt es zur ungenü- genden Erläuterung der erhobenen Be- funde und der Diagnose, wird die Arzt- Patient-Beziehung unzureichend ent- wickelt und kann gänzlich missglücken.

Der Arzt wird mangelhafte Rückmel- dung auf sein Tun erfahren, die Mitar- beit des Patienten in der Behandlungs- phase springt nur unvollkommen an,

gegenseitige Enttäuschungen können bis zum Abbruch der Beziehung führen.

Der Arzt hat sich um den tieferen Lohn für seine Mühe gebracht, die Erarbei- tung eines „neuen Ganzen“ wurde ver- fehlt.

Das Arzt-Patient-Verhältnis ist und bleibt asymmetrisch: Dem Laien tritt der Experte gegenüber, auf dessen Wis- sen, Können, Engagement und Verläss- lichkeit er angewiesen ist. Wurde die Rolle des Arztes früher als distanziert paternali- stisch definiert, wird heute ein partnerschaft- liches Bemühen ange- strebt. Die weiter exi- stierende Asymmetrie fordert den Arzt dann aber zu besonderer An- strengung heraus, sich aus seiner Expertenwelt in die individuelle Wirk- lichkeit des Kranken hineinzuvermitteln. Part- nerschaft, ein hohes Ziel, gedeiht nur im vertrau- ensvollen gegenseitigen Austausch, in der offe- nen Kommunikation.

Wo dies gelingt, wächst Vertrauen, festigt sich die Compliance und wird die Selbstheilungskraft des Kranken angeregt, verwirklicht sich Heilkunst zum Wohl des Kranken und zur Genugtuung des Arztes.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2003; 100: A 24–27 [Heft 1–2]

Literatur

1. Böker W: Sprache, Ursachenkonzepte und Hilfesuch- verhalten des Kranken in unserer Zeit. In Mayer-Scheu J, Kautzky R: Vom Behandeln zum Heilen. Freiburg:

Herder Verlag, 1980.

2. Böker W: Aspekte des Arztberufes heute – bleiben wir beim Kranken. Schweiz. Ärztezeitung 1998; 79, 23:

1077–1079.

3. Gadamer HG: Über die Verborgenheit der Gesundheit.

Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1993; Band 1: 135.

4. Uexküll Th v, Wesiack W: Wissenschaftstheorie und Psychosomatische Medizin – ein bio-psycho-soziales Modell. In: Uexküll Th v: Psychosomatische Medizin.

München: Urban und Schwarzenberg, 1986; 3. Auf- lage.

5. Schipperges H: Homo patiens – Zur Geschichte des kranken Menschen. München, Zürich: Piper, 1985.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Wolfgang Böker Zähringerstraße 30 a

69115 Heidelberg T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 1–26. Januar 2003 AA27

Edelsteintherapie: Immer mehr Menschen fühlen sich von der so genannten Schulmedizin unbefriedigt und flüchten in die alternative Heilkunde. Foto: dpa

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