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Archiv "Arzt und Patient: Archäologie einer Beziehung" (19.10.2012)

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A

rzt als Droge, Patriarch, Part- ner oder Biotechniker – viele Konzeptionen sind vorgeschlagen worden, um das Verhältnis zum Pa- tienten zu verstehen. Dabei ergeben sich markante Widersprüche zwi- schen den Auffassungen. Die hier vorgeschlagene „Archäologie“ ver- sucht, diese Widersprüche im Um- gang von Arzt und Patient in einen zeitlichen und – metaphorisch – räumlichen Zusammenhang zu brin- gen. Dabei werden vier grundlegen- de ärztliche Funktionen postuliert, die jeweils typisch für bestimmte Epochen der Medizingeschichte ge- wesen sind. Sie haben dabei die vorangegangenen Funktionen „ver- deckt“, ohne diese jedoch zu elimi- nieren (Grafik).

Heiler

Die ursprüngliche Aufgabe eines je- den Heilers – unabhängig von Qua- lifikation und Gesundheitssystem – ist das Eingehen auf das Kranksein.

Ernsteres Kranksein beinhaltet (nach Uexküll und Wesiack) (1):

Beeinträchtigung von Wohlbe- finden und Leistungsfähigkeit

dadurch hervorgerufene sozia- le Isolierung und Bedrohung des sozialen Status

existenzielle Not und Bedro- hung.

Jeder Heiler muss die Funktion eines Experten und eines Partners in sich vereinigen. Aufgabe des Ex - perten ist es, Beschwerden zu lin- dern und die Leistungsfähigkeit wie- derherzustellen; der Partner hilft, so- ziale Isolierung zu überwinden und existenzielle Ängste zu ertragen.

So unterschiedlich die Heilkunde in der Geschichte praktiziert worden ist: Die Kombination von Experte und Partner in der Person des Hei-

lers lässt sich in allen Epochen und Kulturen ausmachen.

Das wesentliche Arbeits- instrument des Heilers ist das Ritual. Heute oft nega- tiv besetzt („leeres Ritu- al“), ist rituelles Verhal- ten die mächtigste Form menschlicher Kommuni - kation. Es besteht in der

„Aufführung“ symbolischer, durch Überlieferung gepräg- ter Verhaltensweisen für erns- te Lebenssituationen (2). Dass sich Konsultationen häufig nicht ohne die Verschreibung ei- nes Medikaments zum glück - lichen Ende bringen lassen, unterstreicht die Aktualität dieser Überlegungen. In der Verschreibung eines (klinisch wirkungslosen und ökolo- gisch gefährlichen) Antibio- tikums steckt für den Patien- ten die Anerkennung seines Leids, die Legitimierung der Inanspruchnahme, die Hoffnung auf rasche Besse- rung durch eine hochwirksa- me Therapie und die Über- windung von Bedrohung und Isolierung. Ähnlich die Chef- arztvisite im Krankenhaus:

Diese wird gerade dann als Erfolg empfunden, wenn der Oberarzt zuvor die Station von realen Probleme berei- nigt hat. Ihr Sinn liegt offen- bar jenseits der medizini- schen Problemlösung (3).

Detektiv

Der Schluss von „Daten“, die der Patient liefert, auf allgemeine Kategorien (Dia - gnosen) erfolgte in allen medizinischen Systemen. Ab ARZT UND PATIENT

Archäologie einer Beziehung

Die Rolle des Arztes in der Begegnung mit dem Patienten ist vielfältig und oft widersprüchlich. Ein „archäologisches“ Schichtenmodell stellt die verschiedenen Funktionen in einen zeitlichen und – metaphorisch – räumlichen Zusammenhang.

Norbert Donner-Banzhoff

Foto: iStockphoto

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Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die Beobachtung am Kranken jedoch systematisiert und mit pathologisch-anatomischen Befun- den begründet (4). Damit wurden gerade auch solche Zeichen wich- tig, die für das Erleben des Patien- ten am Rande lagen oder über- haupt nicht bemerkt worden wa- ren. Die Kommunikation zwischen Patient und Arzt musste sich da- durch ändern (5).

Der Detektiv Sherlock Holmes war eine Schöpfung des Schrift- stellers und Arztes Sir Arthur Conan Doyle. Zur selben Zeit schlug der Kunsthistoriker Gio- vanni Morelli vor, Gemälde an- hand von peripheren und wenig

beachteten Partien (Ohren, Hände, Füße dargestellter Per- sonen) Künstlern zuzuordnen;

Morelli hatte ebenfalls Medi- zin studiert. Auch die Psycho- analyse des Arztes Sigmund Freud schloss von scheinbar

nebensächlichen Träumen, Fehl- leistungen oder Scherzen auf verborgene Prozesse. Die diagnos - tizierende Medizin des 19. Jahr - hunderts hat das gemeinsame Paradigma geliefert (6). Damit konnte sich nun aber eine Dis - krepanz zwischen Patient und Arzt ergeben: Was den Patienten am meisten bedrängte, war für den dia gnostizierenden Arzt oft nur von geringem Wert (7). Damit

stieg die Gefahr, dass Ärzte die Subjektivität ihrer Patienten ver- nachlässigten und diese sich als Objekt zu empfinden begannen.

Gatekeeper

Die ärztliche Gatekeeper-Funktion bezieht sich auf die Indikationsstel- lung für medizinisch wirksame The- rapien und die Berechtigung, Leis- tungen eines solidarischen Sozial- systems in Anspruch zu nehmen.

Für eine individuelle Heilung vieler Erkrankungen standen Ärz- ten erst im 20. Jahrhundert wirklich wirksame Maßnahmen zur Verfü- gung (8). Seitdem müssen sie präzi- se die Patienten identifizieren, die von einer Therapie bei vertretba- rem Risiko für Nebenwirkungen profitieren. Bei anderen Maßnah- men geht es weniger um die indi - viduelle Sorge gegenüber dem Kranken, sondern um eine breitere Verantwortung (zum Beispiel ratio- nale Antibiotikatherapie).

Das System der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutsch- land und vieler ähnlicher Gesund- heitssysteme beruht auf dem Soli- darprinzip unter ihren Mitgliedern.

Daraus ergibt sich die Notwendig- keit, berechtigte von unberechtigten Ansprüchen zu unterscheiden; die- se Feststellung erfolgt überwiegend durch Ärzte. Nur mit einem wirksa- men Gatekeeping kann das System

überleben. ►

Die Abbildung zeigt die Aspekte ärztlicher Tätigkeit in vier Schichten. Die Breite der Schichten stellt jeweils ihre Be- deutung in verschie- denen historischen Epochen dar. Da je- der Aspekt immer zu einem gewissen Maß präsent gewe- sen ist, ziehen sich alle Schichten durch die gesamte Zeit.

GRAFIK

Schichtenmodell in historischer Dimension

Heiler

Gatekeeper

Detektiv

Partner

1750 1850 1950

Quelle: Donner-Banzhoff

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Partner

Zunehmend wollen Patienten ernst genommen werden und sehen Ärzte als Partner in einer gleichberechtig- ten Beziehung. Patientenzentriertes Vorgehen verlangt deshalb von Ärz- ten, Vorstellungen und Erwartungen ihrer Patienten zu erfragen und ein gemeinsames Vorgehen zu erarbei- ten (9, 10). Mit elektronischen Ent- scheidungshilfen können Patienten sich informieren und Vor- und Nach- teile abwägen (11, 12). Während die Heiler-Funktion grundsätzlich hier - archisch ist, besteht hier eine Gleich- berechtigung. Während der Heiler per definitionem über geheimes Wissen verfügt, ist auf der Partner- ebene Transparenz funktional.

Die Schichtenmetapher kann helfen, Widersprüche und Tabus zu verstehen. Aus der Sicht einer „neu- en“ Schicht erscheinen die vorher- gehenden als veraltet und nicht mehr angemessen. Die entsprechen- de Praxis erregt (Fremd-)Schämen und provoziert erzieherische Maß- nahmen oder Sanktionen. Die Be- geisterung für die „moderne“ Schicht kann andererseits den Blick für die fortdauernden Auswirkungen der „alten“ Schichten trüben. Im Folgenden gehe ich davon aus, dass jede der vier Schichten auch heute noch spezifische Aufgaben an Ärzte im Umgang mit ihren Patien- ten stellt.

Zwangsläufig werden auf jeder Schicht von den Beteiligten Signale ausgesandt, und sei dies die impli-

zite Äußerung, kein Interesse am Austausch zu haben. So mag ein biomedizinisch orientierter Arzt sich vornehmen, seinen Patienten dadurch zu helfen, dass er Erkran- kungen präzise diagnostiziert und optimal behandelt; die Ebenen des archaischen Heilers und des Part- ners interessieren ihn nicht. Seine Patienten werden ihn jedoch nicht als neutral empfinden, sondern als kalt und autoritär. Für das System der vier Schichten gilt also nach Watzlawick: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ (13)

Evidenz gegen Erfahrung Eine niederländische Studie unter- suchte an Patienten mit Atem- wegsinfekten die Bestimmung des C-reaktiven Proteins (CRP) und ein Kommunikationstraining. So- wohl mit dem Test als auch mit der verbesserten Kommunikation lie- ßen sich die Antibiotikaverschrei- bungen reduzieren (16). Eine be- gleitende Interviewstudie zeigte, dass das CRP nicht nur der rationa- len Entscheidungsfindung diente.

Von den Allgemeinärzten wurde betont, dass sie durch den Test an Glaubwürdigkeit gewonnen hät- ten, vor allem bei der Nichtver- schreibung eines Antibiotikums.

Sie hatten den Eindruck, dass sich Patienten mit dem Test eher ernst genommen fühlten (17). „Der Zau- ber der Messung ist stärker als der Zauber meiner Worte“, bemerkte einer der Ärzte (18).

Hier war offenbar ein Ritual (= kommunikative Handlung) durch ein anderes ersetzt worden: die (schädliche) Antibiotikaverschrei- bung durch die (angenommen un- schädliche) CRP-Testung. Letztere war auch bei den Ärzten mit Kom- munikationstraining eine willkom- mene Ergänzung ihres Repertoires.

Mit dem Schichtenmodell wer- den die Reaktionen von Praktikern auf „klinische Dekonstruktionen“

plausibel. Darunter verstehe ich die Entzauberung etablierter Behand- lungen durch klinische Studien; be- kannte Beispiele sind die Hormon- gabe in der Menopause (19) und arthroskopische Knorpelglättungen (20). Diese Studien treffen oft auf wütendes Unverständnis der anwen- denden Ärzte, die von der Wirksam- keit überzeugt sind. Sicher spielen hier materielle Interessen eine Rol- le; vor allem jedoch haben die An- wender mit diesen Behandlungen auf der Ebene der rituellen Heilung große Erfolge erlebt. Eine biomedi- zinische Wirkung ist dazu offenbar nicht nötig gewesen.

Aktuelle Leitlinien zum Rücken- schmerz legen eine Zurückhaltung bei bildgebenden Verfahren nahe, die früher häufigen Spritzen sollten ganz unterbleiben (21). Das Schich- tenmodell macht verständlich, war - um die Umsetzung Zeit benötigt:

Röntgen und Spritzen sind mäch - tige Rituale auf der archaischen Ebene gewesen.

Warum verwenden Ärzte latei - nische Fachausdrücke, obwohl Pa- tienten diese nicht verstehen? Da- mit demonstrieren sie ihr Experten- tum, das zur archaischen Heiler- Funktion gehört; der Heiler muss, um Wirkung zu erzielen, etwas ha- ben, das Familie, Freunden, Nach- barn fehlt: exklusives Wissen. Für die Mobilisierung der Heilkräfte auf dieser Ebene genügt die ent- sprechende subjektive Überzeu- gung des Patienten; heute wie in der Vergangenheit dürften die meisten Patienten bei ihren Heilern mehr Heilkompetenz vermutet haben, als diese biomedizinisch hatten.

So wird die Heilkunst zur Grat- wanderung zwischen Entmutigung und Wichtigtuerei. Ärzte, die ge- genüber ihren Patienten die der Eine 47-jährige Frau, Busfahrerin, kommt am

späten Vormittag in die Praxis. Wegen ihrer Hals- schmerzen wünscht sie ein Antibiotikum; damit würde sie so fit, dass sie gleich zur Spätschicht könne. Eine Krankschreibung lehnt sie ab. Bei einem Centor-Score von lediglich einem Punkt ist die Wahrscheinlichkeit für eine bakterielle Tonsillitis gering (14).

Wenn ich dieser tapferen Frau das Antibioti- kum verweigere, versage ich ihr eine in ihren Au- gen wirksame Hilfe, in einer prekären Arbeitssi- tuation zu bestehen. Ich entwerte auch ihre Erfah- rung von früheren Krankheitsepisoden, nämlich dass (nicht gerechtfertigte) Antibiotika bei (selbst- heilenden) Atemwegsinfekten helfen.

Das Dilemma lässt sich mit dem Schichten - modell verstehen. Als Gatekeeper muss ich das Antibiotikum verweigern. Als Heiler verweigere ich damit jedoch die erwartete rituelle Handlung, pro- duziere bei der Patientin Enttäuschung und das Gefühl, alleingelassen zu werden. Auf der Partner- ebene entwerte ich ihren Vorschlag zur Therapie.

Ich versuche das Dilemma dadurch zu lösen, dass ich ihr Penicillin verschreibe, aber gleichzeitig versichere, dass das Antibiotikum für die Heilung nicht entscheidend ist. Ich rate ihr, noch zwei Tage zu warten und das Rezept nur einzulösen, wenn bis dahin keine Besserung eingetreten ist. Außerdem nehme ich mir vor, das Thema beim nächsten Kon- takt in Ruhe anzusprechen (15).

FALLBEISPIEL

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Medizin inhärenten Unsicherheiten zu stark betonen, untergraben das Vertrauen und gefährden ihre Ak- zeptanz als Heiler (22). Dass auf der anderen Seite die subjektiv überzeugende Darstellung von Kompetenz ausreicht, die Selbst- heilung des Patienten und seine Dankbarkeit zu stimulieren, stellt eine große Versuchung zu Wichtig- tuerei und Ausbeutung von Abhän- gigkeit dar. Medizinische Kompe- tenz, Begeisterung für die eigenen Methoden, die auf empfängliche

Patienten überspringt, zynische Wich - tigtuerei und Geschäftemacherei lassen sich häufig nicht trennen.

Die evidenzbasierte Medizin ist in dieser Situation ein heilsames Korrektiv. Die randomisierte pla - cebokontrollierte Doppelblindstudie hält uns schonungslos den Spiegel vor. Selbst wenn der statistische Test zum Schluss „signifikant“ ist, ist der Beitrag des mit viel Hoff- nung entwickelten Pharmakons meist minimal. Damit wird die Vermu- tung bestärkt, dass Ärzte heute wie früher vor allem durch ihre Person wirken.

Normative Konsequenzen Der Patient bestimmt die Ebene, auf welcher der Dialog beginnt. Bei einer schweren Erkrankung besteht vielleicht das Bedürfnis, sich an einen starken Heiler anzulehnen, beim Wunsch nach einer Beratung über eine Berentung ist der Gate- keeper gefragt und so weiter.

Auf den weiteren Gang können Ärzte jedoch Einfluss nehmen. Aus der Zwangsläufigkeit einer Äuße- rung auf allen vier Schichten ergibt sich die Forderung, dass Ärzte in je- der Begegnung alle vier Schichten reflektieren müssen. Die Beispiele oben zeigen, dass die ärztliche

Kommunikation durch einander widersprechende Botschaften durch - aus ernste „Nebenwirkungen“ ha- ben kann. Balint-Gruppen sind eine Gelegenheit, dies kollegial und pra- xisorientiert zu reflektieren (23, 24).

Ärzte haben ein sehr festes Bild von dem, was für einen Patienten angemessen sei und wie er sich zu verhalten habe. Selbst wenn den Ärzten dies kaum bewusst ist, ver- mitteln sie ihren Patienten diese Erwartung sehr wirksam („apostoli- sche Funktion“ nach Balint).

Bei schwerer Erkrankung und aku- tem Verlauf besteht vielfach eine Regressionstendenz: Diese Patien- ten sind verunsichert und fühlen sich bedroht, oft muss unter Zeit- druck entschieden werden. Jetzt suchen sie eher den existenziellen Beistand auf der archaischen Ebene des Heilers (25).

Auch in dieser Situation gilt es, die Beziehung in Richtung von Autonomie und Partnerschaft zu gestalten. Dies muss einfühlsam ge- schehen und ohne den Patienten zu überfordern; häufig sind Krankheits- verlauf und ein erstes Behandlungs - ergebnis abzuwarten. Ärzte sollten die oberste Schicht als Ziel jedoch nicht aus dem Auge verlieren.

Anders eine Gefälligkeits-„Me- dizin“, das heißt das opportunisti- sche Verbleiben auf der Eingangs- ebene. Dies widerfährt beispiels- weise Menschen mit einer Neigung zur Somatisierung; sie finden in unserem technologiefixierten Medi- zinsystem leicht Ärzte, die sich auf die nächste Runde organischer Dia - gnostik einlassen, ohne ihre De - tektivrolle kritisch zu hinterfragen.

In ähnlicher Weise setzen viele komplementärmedizinische Ange- bote auf Rituale, ohne die anderen Schichten zu berücksichtigen.

IGeL-Angebote, wie auch Prä- ventions-, Wellness- und Kosme - tikmärkte mit ihren fließenden Übergängen zur Medizin, schaffen zusätzlich Widersprüche. Die un- vollständige Information des Ver- brauchers (Patienten) ist jedoch nicht das entscheidende Argument gegen den direkten Verkauf von Leistungen durch den Arzt. Problem ist vielmehr die existenzielle Verwundbarkeit des Patienten. Wenn auch leichte Ge- sundheitsstörungen vitale Ängste hervorrufen können, erwächst Ärz- ten (Heilern) eine besondere Macht und damit eine besondere Verant- wortung. Zwar ist das System der gesetzlichen Krankenversicherung nicht frei von wirtschaftlichen An- reizen, das Sachleistungsprinzip hat jedoch dafür gesorgt, dass in der ärztlichen Praxis die Ökonomie re - lativiert werden konnte. Das sich ausweitende IGeL-Angebot stellt deshalb einen ethisch höchst be- denklichen Anreiz zum Missbrauch eines vulnerablen Schutzbefohlenen dar (26). Ähnlich kritisch sind An - reize zur Leistungsausweitung im stationären Bereich zu werten.

Alle Schichten wirken fort Alle vier Schichten und ihre Grund - anforderungen bleiben; keine wird durch die soziale, wissenschaftliche oder technische Entwicklung gegen- standslos. Selbst der patriar chalische Heiler kann für eine Krisensituation auch im aufgeklärten, patientenzen- trierten Zeitalter funktional sein.

Schon oft ist auf die multiplen ärztlichen Rollen hingewiesen wor- den (27). Das Schichtenmodell geht jedoch über eine Aufzählung hin - aus: Es stellt zeitliche und inhaltli- che Zusammenhänge dar, weist auf Widersprüche hin und kann damit eine Hilfe zur Reflexion und Eva- luation im ärztlichen Alltag wie auch in der Lehre sein.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2012; 109(42): A 2078–82

Anschrift für den Verfasser

Prof. Dr. med. Norbert Donner-Banzhoff M.H.Sc., Abteilung für Allgemeinmedizin, Philipps-Universität Marburg, Karl-von-Frisch-Straße 4, 35043 Marburg, norbert@staff.uni-marburg.de

@

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit4212

So unterschiedlich die Heilkunde in der Geschichte praktiziert

worden ist: Die Kombination von Experte und Partner in der Person

des Heilers lässt sich in allen Epochen und Kulturen ausmachen.

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LITERATURVERZEICHNIS HEFT 42/2012 ZU:

ARZT UND PATIENT

Arzt und Patient

Archäologie einer Beziehung

Die Rolle des Arztes in der Begegnung mit dem Patienten ist vielfältig und oft widersprüchlich. Ein „archäologisches“ Schichtenmodell stellt die verschiedenen Funktionen in einen zeitlichen und – metaphorisch – räumlichen Zusammenhang.

Norbert Donner-Banzhoff

LITERATUR

1. Von Uexküll T, Wesiack W: Theorie der Hu- manmedizin. Grundlagen ärztlichen Den- kens und Handelns. München: Urban &

Schwarzenberg 1998; 426 f.

2. Rothenbuhler EW: Ritual Communication.

From Everyday Conversation to Mediated Ceremony. Thousand Oaks (CA): Sage 1998.

3. Bosk CL: Occupational Rituals in Patient Management. NEJM 1980; 303: 71–6.

4. Probst C: Der Weg des Ärztlichen Erken- nens am Krankenbett. Herman Boerhaave und die ältere Wiener medizinische Schule (Band I). Wiesbaden: Franz Steiner 1972.

5. Entralgo PL: Arzt und Patient: Zwischen- menschliche Beziehungen in der Ge- schichte der Medizin (Dt. Ausgabe). Mün- chen: Kindler Verlag 1969.

6. Ginzburg CC: Morelli, Freud and Sherlock Holms. In: Eco U, Sebeok TA: The Sign of Three: Dupin, Homs, Peirce. Indianapolis:

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9. Levenstein JH, McCracken EC, McWhin- ney IR, Stewart MA, Brown JB: The pa- tient-centred clinical method. 1. A model for the doctor-patient interaction in family medicine. Fam Pract 1986; 3: 24–30.

10. Brown J, Stewart M, McCracken E, McWhinney IR, Levenstein J: The patient- centred clinical method. 2. Definition and application. Fam Pract 1986; 3: 75–9.

11. Siehe http://patient-als-partner.de (letzter Zugang 8. Februar 2012).

12. Für eine Übersicht evaluierter Entschei- dungshilfen weltweit siehe http://decisio naid.ohri.ca (letzter Zugang 8. Februar 2012).

13. Watzlawick P, Beavin JH, Jackson DD:

Menschliche Kommunikation 10. Auflage.

Bern: Hans Huber 2000.

14. Meyer F, Beck C, Baum E, Donner-Banz- hoff N: Die Diagnose der Streptokokken- tonsillitis. Kritische Prüfung diagnostischer Entscheidungsregeln. Z Allg med 2002;

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15. Altiner A, Brockmann S, Sielk M, Wilm S, Wegscheider K, Abholz HH: Reducing anti- biotic prescriptions for acute cough by motivating GPs to change their attitudes to communication and empowering pa- tients: a cluster-randomized intervention study. J Antimicrob Chemother 2007; 60:

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16. Cals JW, Butler CC, Hopstaken RM, Hood K, Dinant GJ: Effect of point of care testing for C reactive protein and training in com- munication skills on antibiotic use in lower respiratory tract infections: cluster rando- mized trial. BMJ 2009; 338: b1374.

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20. Moseley JB, O’Malley K, Petersen NJ, et al.: A Controlled Trial of Arthroscopic Sur- gery for Osteoarthritis of the Knee. NEJM 2002; 347: 81–8.

21. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztli- che Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsge- meinschaft der Wissenschaftlichen Medi- zinischen Fachgesellschaften (AWMF). Na- tionale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz – Langfassung. Version 1.X. 2010

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22. Donner-Banzhoff N: Eine kleine ärztliche Typenlehre oder: Das Paradoxon des Dok- tor Asher. Z Allg med 2003; 79: 10–3.

23. Balint M: The Doctor, his Patient and the Illness. Edinburgh: Churchill Livingstone 2000 (Reprint der Originalausgabe).

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Referenzen

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