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Archiv "Die „Würde des Menschen“ bei Arzt und Patient" (19.08.1976)

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DEUTSCHES Spektrum der Woche

ARZTEBLATT

Aufsätze Notizen

Die „Würde des Menschen"

bei Arzt und Patient

Die Deklarationen des Weltärztebundes von Tokio

gehen ebenso wie unser Grundgesetz auf Kants Philosophie zurück

Diether Lauenstein

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom Jahre 1949 beginnt mit dem Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar."

Auf die Würde beziehen sich auch die Deklarationen der „29. Ge- neralversammlung des Weltärztebundes" vom Oktober 1975 in To- kio (DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 46/1975, Seite 3161). So weisen die „Richtlinien für Ärzte bei Folterungen usw." unter Punkt 3 warnend auf Aktionen. die unmenschlich sind oder die Menschen- würde verletzen. Die Väter des Grundgesetzes ließen sich. was Würde sei, von Kant sagen. Der Autor war mit einer Reihe von ih- nen bekannt, im „Bonner Kommentar des Grundgesetzes" (Rn. 4 u.

12) bezeugt auch Zeppelin, daß Kant die philosophische Quelle war.

Die in Tokio tagenden Ärzte bezogen sich, bewußt oder weniger be- wußt, ebenfalls auf Kant. Wenn solche Beschlüsse wie die der De- klaration selbstverständlich auch einer so genauen Gedankenbildung entbehren müssen, wie der Philosoph sie pflegt, so ist es ihnen dennoch angemessen, sie unter Kants Licht zu stellen. — Der Autor stellt zuerst dar, was Kant unter Würde versteht, dann, wie die De- klaration von Tokio sie auf den Arzt, und schließlich, wie sie diese auf den Patienten bezieht.

I. Kants Begriff von der Würde Kant spricht von der Würde des Menschen im zweiten Abschnitt seiner „Grundlegung zur Metaphy- sik der Sitten" von 1785, wo er den Begriff der autonomen Sittlichkeit unter dem kategorischen Imperativ entwickelt. Die Vorrede dieser Schrift beginnt mit der von den Griechen stammenden Dreiteilung der Philosophie in Physik, Ethik und Logik, und sie bestimmt Physik und Ethik als Erfahrungswissen- schaften. Die Logik aber sei die Kraft, durch welche jene beiden aus Gewohnheiten und Erfahrun- gen zu Wissenschaften werden. Sie beruhe auf den unbewußt von je- dermann vorausgesetzten Grund-

FORUM:

Die Würde des Menschen bei Arzt und Patient

BRIEFE AN DIE REDAKTION

TAGUNGSBERICHTE:

Erfolgreiches Filmseminar der Bundesärztekammer Welt-Pharmaverband:

Am produktivsten ist der Markt

BEKANNTMACHUNGEN:

Kassenarztsitze

Lehrgang zur Einführung in die kassenärztliche Versorgung

Arbeitsmedizinische Einführungslehrgänge

PERSONALIA

GESCHICHTE DER MEDIZIN:

„Alles Krankhafte ist entgleiste Norm"

begriffen, welche schon Aristoteles Kategorien nannte. Kant ordnete die Kategorien neu und zählte ihrer zwölf. Die darauf aufgebaute kate- goriale Logik nannte er „reine

Phi- losophie"

oder „reines Denken".

Kant sagt dann, unterwerfe ein Mensch die Beweggründe seines Handelns dem reinen Denken, so entstehe „reiner Wille". Reiner Wil- le entspringe also der kategorialen Vernunft und schließe persönliche Wünsche aus. Die Bestimmung die- ses Willens nennt er kategorischen Imperativ. Trifft dieser den Men- schen in einer bestimmten Lage, so heißt er Pflicht.

Was der Pflicht in der Natur des Menschen widerstreitet, nennt Kant

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 34 vom 19. August 1976 2173

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Die Würde des Menschen

„Neigung"; das sind Triebe, Ge- wohnheiten, Verlockungen und Be- fürchtungen. Wenn wir unseren Neigungen folgen und dennoch lo- gisch denken, wenn wir „alles aus einem und demselben Gesichts- punkte, nämlich aus dem der Ver- nunft erwägen (und doch der Nei- gung folgten), so würden wir einen Widerspruch in unserem eigenen Willen antreffen." So ist denn allein

„der Wille schlechterdings gut, dessen Maxime (subjektiv gedach- ter Grund) sich selbst niemals wi- derstreiten kann."

Wille und Imperativ

Kant beginnt seine „Grundlegung"

im ersten Abschnitt wie einen Hym- nus: „Es ist überall nichts in der Welt, ja auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Ein- schränkung für gut könnte gehal- ten werden, als allein ein guter Wil- le. — Verstand, Witz, Urteilskraft, und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatz als Eigenschaften des Temperaments sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wün- schenswert; aber sie können auch äußerst böse und schädlich wer- den, wenn der Wille, der von die- sen Naturgaben Gebrauch machen soll und dessen eigentümliche Be- schaffenheit darum Charakter heißt, nicht gut ist."

Im zweiten Abschnitt entwickelt Kant den kategorischen Imperativ in meisterhaften, immer neuen Wendungen, deren eine lautet:

„Handle in Beziehung auf jedes vernünftige Wesen so, daß es in seiner Maxime (inneren Begrün- dung) zugleich als Zweck an sich selbst gelte. Weder Furcht noch Neigung, sondern lediglich Ach- tung für (dieses) Gesetz (ist) dieje- nige Triebfeder, die der Handlung einen moralischen Wert geben kann.

Wille und Zwecke

Alles Handeln richtet sich auf Zwecke. Kant unterscheidet unter ihnen zwei Arten: Die vielen Zwek-

ke im täglichen Tun, welche Be- dürfnisse und Neigungen befriedi- gen, und den einen Zweck unseres Lebens, nämlich den, einen zwei- ten moralischen Menschen in uns zu verwirklichen. Dieser morali- sche Mensch ist die ideale Menschheit, die sich aus der Sitt- lichkeit aufbaut, welcher wir zu- streben. Aus diesem Streben leitet sich die moralische Autonomie des urteilsfähigen und gutwilligen Men- schen ab. Während der Gutmütige es einem Bittenden überläßt, den Inhalt der Bitte zu bedenken, so denkt und urteilt der Gutwillige in jeder Sache selbst. Ein Arzt soll in seinem Amte niemals gutmütig, aber immer gutwillig sein. Diese Autonomie ist die bewußte Seite des Gewissens. Darum gelten im westdeutschen Grundgesetz die Würde und die Gewissensfreiheit als Güter, die einander tragen und stärken. Ob Kant Sittlichkeit sagt oder ideale Menschheit oder Auto- nomie oder Gewissen, immer spricht er von dem geistigen Men- schen, welcher sich im natürlichen Menschen durch die freiwillige Un- terwerfung unter die Pflicht selbst erzeugt.

Wo Kant nicht vom Willen, sondern nur von der Erkenntnis redet, wie in seiner „Kritik der reinen Vernunft"

von 1781, stellt er über die Katego- rien als deren zusammenfassende Kraft die „transzendentale Apper- zeption" oder das „Ich". Das gei- stige Ich und die Sittlichkeit bilden zusammen und zugleich den Ur- grund und den Zweck des Men- schen; sie sind der Zweck an sich.

Auf Zwecke richtet sich unser ge- samtes Tun: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde." Der Preis ermöglicht, etwas mit einem anderen gleich- wertig auszutauschen. Sachen und Dienstleistungen haben einen Preis, aber nicht der autonome, sittliche Mensch. Er ist Selbstzweck alles ist um seinetwillen da. Der technisch an sich richtige Satz

„Jeder Mensch ist ersetzbar" ist darum trotzdem unmoralisch; er darf nicht gelten, weil es sich bei Menschen um sittliche Iche mit Würde handelt.

Autonomie — Urgrund der Würde

Kant fährt fort: „Was sich auf Nei- gungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, un- ter der allen (denkenden Men- schen) etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen re- lativen Wert, das ist einen Preis, sondern einen inneren Wert, das ist Würde." — Nur der mit Verstand und mit Mut zum Urteil ausgerüste- te Mensch kann Würde erlangen.

Während Würde so für den einzel- nen Menschen das Ziel seines Strebens ist, tritt sie in der Sphäre des Rechtes für ihn als ein voraus- gesetztes Gut auf. Moralisch streben wir nach Würde, recht- lich wird sie uns von vorn- herein zugesprochen. Was sitt- lich ein Ziel ist, ist recht- lich das vorhandene höchste Gut.

Kant schließt seine Ausführungen über die Würde mit den Sätzen:

„Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Wür- de hat." Und: „Autonomie ist der Grund der Würde der menschli- chen und jeder vernünftigen Na- tur."

II. Der Arzt

als Bewahrer der Würde

Wir sind nun ausgerüstet, auf die Grundgedanken der Deklarationen von Tokio zu blicken: Patient und Arzt sind in gleicher Weise Mensch und bedürfen moralisch in gleicher Weise der Würde und besitzen die- se beide im rechtlichen Sinne.

Dem einzelnen Arzt wächst die Würde zu, sofern er nach objekti- ver Erkenntnis strebt und die

Frucht dieses Strebens in seinem Berufe keinem bedürftigen Men- schen, der darum bittet, vorenthält.

Nur der Einzelne kann Würde er- werben; Familie, Kammer, Stand, Partei, Amt, Staat, Gesellschaft und alle Kollektive haben Macht und können rechtlich auch Hoheit be- sitzen, sie haben als solche aber niemals Würde. Darum sprechen wir auch „ein hohes Gericht" an, aber niemals ein würdiges Gericht.

2174 Heft 34 vom 19. August 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Aufsätze ·Notizen

Die Würde des Menschen

Würde im Sinne Kants gibt es nur für den einzelnen erkennenden Menschen.

Autonome Entscheidungen

Daraus folgt: Ein Arzt, der eine Be- handlung vornimmt, nur um sich vor einem Vorwurf zu schützen, welchen seine Kollegen oder eine Einrichtung wie etwa seine Stan- deskammer aus einer herrschen- den Meinung erheben könnten, ob- wohl er selbst diese Handlung nicht für sinnvoll und geraten im Interesse des Patienten ansieht, handelt unsittlich. Der Gesetzgeber der Bundesrepublik wäre bei der ihm auferlegten Konkretisierung des Grundgesetzes schon laAge verpflichtet, die Ärzte vor solchen bestehenden Zwängen zu unsittli- chem Handeln zu schützen.

Dem entspricht in den Deklaratio- nen von Tokio der vierte Punkt der

"Richtlinien der Ärzte bei Folterun- gen usw. ", indem er "die völlige klinische Unabhängigkeit des Arz-

tes" fordert. Was bei Folterungen

gilt, gilt selbstverständlich bei je- der Behandlung. Die Deklaration sagt an dieser Stelle: "Der Arzt muß bei der Festlegung der Behandlung einer Person, für die er die medizi- nische Verantwortung trägt, die vol- le klinische Unabhängigkeit besit- zen. Die wesentliche Aufgabe des Arztes ist es, die Notlage seiner Mitmenschen zu erleichtern. Die- sem hohen Ziel darf kein anderer Beweggrund - sei er persönlicoer, gesellschaftlicher oder politischer Natur- übergeordnet werden."

Dasselbe sagt der fünfte Punkt der .. Allgemeinen Grundsätze" der in Tokio revidierten Deklaration von Helsinki für den Patienten: "Die Sorge um die Belange der Ver- suchsperson muß stets ausschlag- gebend sein im Vergleich zu den Interessen der Wissenschaft und der Gesellschaft." Was sogar für wissenschaftliche Versuche als Ein- schränkung gilt, das muß auch bei einer gewöhnlichen Behandlung gelten. Die Deklaration hält beide Male das fest, was hier ethisch im Sinne Kants zu sagen ist.

Sittlichkeit kommt vor dem Recht Die Sittlichkeit ist der Rechtlichkeit stets überzuordnen. Das Recht sollte zwar sittlich sein, ist dies manchmal aber so wenig, wie ein militärischer Befehl immer sittlich wäre. Der Arzt beachtet das Recht nach Kräften, aber im Konfliktfalle folgt er der Sittlichkeit vor dem Recht; er folgt dann allein seinem Gewissen unter der Absicht, zu heilen und zu lindern.

..,.. Der erste Satz des Grundgeset- zes der Bundesrepublik Deutsch- land, welcher von der unantastba- ren Würde des Menschen spricht, und die spätere Sicherstellung der Gewissensfreiheit stellen die Sitt- lichkeit über das Recht, indem sie diese als Richtpunkt in das Grund- gesetz einführen und dieses Ge- setz über das Bürgerliche Gesetz- buch stellen. Das Verfahren des Grundgesetzes ist in der Rechts- weit unserer Erde einzigartig und stellt ein seltenes Glück dar, wel- ches der hartnäckigsten Verteidi- gung würdig ist. Die revidierte De- klaration von Helsinki sagt im drit- ten Punkt ihrer "Allgemeinen Grundsätze" zu Versuchen an Menschen fernerhin: "Die Verant- wortung für die Versuchsperson trägt stets ein Arzt und nie die Ver- suchsperson selbst, auch dann nicht, wenn sie ihr Einverständnis gegeben hat." Der Satz schließt den Vorrang der Sittlichkeit vor dem Recht darum in sich, weil die Einwilligung des Patienten den Arzt rechtlich zwar zu entlasten scheint, der Vorgang selbst aber dem zuwiderlaufen kann, was dem Patienten zuträglich und zurnutbar ist, indem er durch den Versuch etwa einen dauernden oder erheb- lichen Schaden erlitte. Das ermißt und verantwortet nicht etwa der Patient oder die Versuchsperson, sondern nur der Arzt nach seinem wissenden Gewissen. Sowohl nach dem westdeutschen Grundgesetz wie nach der Deklaration von To- kio wird der Arzt dafür auch zur Rechenschaft gezogen.

Diese Einsicht ist für viele unge- wöhnlich, neu und erheblich! Kein

2176 Heft 34 vom 19. August 1976

DEUTSCHES ARZTEBLATT

Arzt wird durch die Zustimmung ei- nes Menschen oder eines Amtes berechtigt, einen anderen Men- schen als Mittel für wissenschaftli- che Zwecke zu verwenden, wenn die Folgen für diesen Menschen nachteilig sind. Selbst die Zustim- mung der Versuchsperson befreit den Arzt nicht von seiner persönli- chen Verantwortung. Jedes Gericht kann ihn im Schadensfalle verurtei- len. Keine Prüfungsrichtlinie einer staatlichen Behörde kann ihn schützen, sie kann es auch dann nicht tun, wenn ihr Erlaß gesetzlich vorgeschrieben war. Immer geht das Grundgesetz vor Einzelgeset- zen und erst recht vor Ausfüh- rungsbestimmungen, zu denen Richtlinien gehören. Und das Grundgesetz verpflichtet auf die Würde des Menschen und das Ge- wissen des handelnden Arztes.

Trotzdem:

Suche nach Rechtssicherheit Es wäre dringend zu wünschen, daß der Gesetzgeber diese allge- meine Rechtslage für Ärzte und Patienten endlich genauer um- schriebe und ihre Verletzung unter festumrissene Strafen stellte. Erst ein fester Gesetzestext gewährt die nötige überschaubare Rechtssicher- heit Mit diesem Wunsch rufen wir nicht etwa nach dem Staat, daß er für uns tätig werden möge, son- dern wir bitten das Parlament um seinen Schutz vor dem Staat, vor zu viel Verwaltung, um den Schutz vor unserer Entmündigung durch den Staat, durch Körperschaften und die herrschende Meinung.

"Ge-Wissen"

Pflicht und Gewissen verlangen nach Kant "die Aufbietung aller Mittel, soweit sie in unserer Gewalt

sind", wobei der Denker selbstver-

ständlich auch und vorzüglich an unsere intellektuellen Mittel dach- te. Berufen wir uns bei unseren in- dividuellen Entscheidungen nun auf das Gewissen, so dürfen wir dabei nicht vergessen, daß dessen Vorsilbe "Ge" eine Zusammenfas- sung ausdrückt, und daß der Rest des Wortes "Wissen" heißt. Aus

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Die Würde des Menschen

Gewissen handeln heißt für den Arzt nicht etwa, nach der herr- schenden wissenschaftlichen Mei- nung handeln oder aus überkom- menen, aber von ihm selbst in ihren Gründen undurchschauten Glaubenssätzen handeln, sondern aus sorgfältiger Beobachtung und Erfahrung einschließlich den in diesen liegenden Imponderabilien, das sind begriffslose Wahrnehmun- gen, ferner aus reinem, klaren Den- ken und schließlich aus einem mu- tigen Urteil mit nachfolgender ge- schickter und geübter Ausführung.

Dieses alles zusammen rechtfertigt erst die Berufung des Gewissens.

Es ist wahrscheinlich, daß auch hohe metaphysische Kräfte das Gewissen ermöglichen; wir aber können wenigstens auf seinen ra- tionalen Teil achten. Beachten wir dies alles, dann gibt es keine In- stanz sittlicher und rechtlicher Art gegen unser erkennendes Gewis- sen. Jeder entfaltet es nach sei- nem Vermögen; als die treiben- de Kraft genügt der gute Wille im exakten. Sinne Kants. Allwissenheit wird nicht gefordert.

Die Neigung, die der Pflicht entge- genwirkt, kann viele äußere Anläs- se haben; immer erfolgt sie aus Verlockung oder aus Furcht. Im einzelnen sind ihre Quellen die na- türlichen Triebe des Leibes, das rechtlich-gesellschaftliche Gel- tungsbedürfnis der Person und de- ren mangelnde Selbständigkeit im Urteil. Die zuerst genannten Feh- lerquellen sind jedermann bewußt und brauchen hier nicht näher be- sprochen zu werden. Aber das mangelnde Eigenurteil wird nicht immer als Fehler erkannt. Darum sprechen wir nur über dieses wei- ter im Sinne Kants. Häufig ist ein Scheinurteil in der Gefolgschaft ei- ner Schule.

Die Schulen und die Autonomie Bei der Ausbildung junger Medizi- ner ist eine wissenschaftliche Schu- le nötig und unentbehrlich. Be- ruft aber ein praktizierender Arzt sich für seine Handlung auf eine Schule als Letztinstanz, so wird diese Unselbständigkeit im Urteil

für ihn leicht zu einer Quelle der Unmoral. Bei einer Anklage vor Gericht wegen eines angeblichen Kunstfehlers verlangen Richter oft den Nachweis, daß die beanstan- dete ärztliche Handlung schulge- recht gewesen sei. Dies Verlangen liegt für einen Richter nahe, weil es im einfachen Falle eine schnelle Lösung des Streites verspricht.

Von der ärztlichen und von der kantischen Ethik her gesehen aber ist die Berufung eines Arztes auf seine Schule dennoch unbefriedi- gend; sie entbehrt der Würde, ent- behrt der Autonomie. Denn, so sagt Kant: „Autonomie ist der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur." Die Be- mühung um die eigene Einsicht und das Eintreten für deren Ergeb- nis schaffen Würde, diese beiden Akte allein. Hier ist nicht davon die Rede, was vor Gericht leicht prakti- kabel sei, sondern was moralisch ist und im schweren Falle vor ei- nem Gericht der Bundesrepublik unter Berufung auf das Grundge- setz mit seinem Schutz für Würde und Gewissen vertreten werden muß.

III. Der Patient als Träger der Würde des Menschen

Die Würde des Patienten wahrt die- ser wie jeder Mensch erstlich selbst, so wie jedermann auch sei- ne Ehre selbst verteidigt. Würde wird durch Mut zum eigenen Urteil und durch dessen unter Umstän- den langwieriges, mühevolles Be- folgen gewahrt. Da aber ein kran- ker Mensch dadurch zum Patienten wird, daß er den Arzt um dessen Fürsorge bittet und sich ihr folg- sam unterstellt — Leidende wer- den wir von Natur, Patienten durch eine rechtsverbindliche Bitte —, so ist der Arzt gehalten, wo es nötig ist, die Würde des Patienten stell- vertretend zu schützen. Manchmal ist er sogar gehalten, und das gilt besonders für Psychiater, die kör- perlichen Bedingungen der Würde, die Bedingungen der Urteilskraft und damit der Freiheit des Patien- ten wiederherzustellen. Jeder Mensch muß seine Würde selbst er- greifen. Sie kann darum letztlich

auch nur durch ihn selbst ver- säumt oder verletzt werden. Das Versäumnis beginnt für den Patien- ten bereits dann, wenn er nicht nach Kraft und Gelegenheit seine Gesundheit pflegt. Ein mangelnder Wille zur Gesundheit ist nicht nur darum unmoralisch, weil Krankheit der Hilfe anderer Menschen bedarf, sondern noch mehr darum, weil Krankheit die Verwirklichung der moralischen Freiheit oder Würde behindert. Wo das Bewußtsein ge- trübt und die Urteilskraft vermin- dert wurde, treten Ärzte stellvertre- tend für die Patienten ein. Wir er- halten einen Leib wenigstens unter den Bedingungen möglicher Wür- de, um den Weg zu ihr offenzu- halten und möglichst zu bahnen.

Psychopharmaka vermindern die Urteilskraft. Darum sind sie nach kantischer Ethik nur dann zulässig, wenn sie mit dem erreichbaren Ziel gegeben werden, die verlorene Ur- teilskraft des Patienten wiederher- zustellen. Die dritte Deklaration von Tokio über den Gebrauch psy- chotroper Drogen rät dem Arzt zur sachlich-aufklärenden öffentlichen Warnung*. Die Deklaration rät auch, den Alkohol in die öffentliche War- nung vor psychotropen Drogen ein- zuschließen.

Gründlich beobachten und noch gründlicher denken, mutig urteilen und die Folgen des Urteils persön- lich tragen, das sind die Bedingun- gen innerer Freiheit, die der Arzt aufbringen muß. Der Wille zu Ge- sundheit und Leben ist die Vorbe- dingung der inneren Freiheit, die der Patient aufzubringen hat. Auf diese Vorbedingung muß dann be- sonders geachtet werden, wenn die sonst wirksame allgemeine Le- bensverlockung aus natürlichen Trieben und aus sozialer Geltung zu schwach geworden ist. Bei man- gelnder Lebensverlockung droht für viele Menschen der Selbstmord.

So verwerflich dieser nach Kant auch ist, so wenig hat ein Arzt das Recht, ihn äußerlich zu verhindern.

Das Gesetz schreibt vor, anzuneh- men, daß ein Mensch, welcher sich zum Beispiel erhängt hat, ohne

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 34 vom 19. August 1976 2177

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Aufsätze • Notizen

BRIEFE AN DIE REDAKTION

BERICHT ZUR LAGE

Eine Situationsanalyse wird mit der folgenden Zuschrift versucht:

Meinungsmafia

Kennzeichnend für den Tiefstand des geistigen Klimas und die schwindende Moralität in unserem Land ist das einer Kulturnation nicht würdige verleumderische Kesseltreiben auf die freipraktizie- rende Ärzteschaft. Eine machtbe- sessene, meinungsbeherrschende Minderheit von sachunkundigen Ideologen, Opportunisten, unreifen Dilettanten, aber auch von verstie- genen Sozialromantikern und von Bewußtseinsverengerung befalle- nen notorischen Weltverbesserern will unser angeblich so mieses Ge- sundheitswesen „reformieren", das heißt im Klartext: die Existenz der freien Kassenärzteschaft soll zer- schlagen werden, die Ärzteschaft steht auf der gesellschaftspoliti- schen Abschußliste. Zu diesem Zweck wird in gehässiger und ge- radezu zynischer Meinungsmanipu- lation vorsätzlich Sozialneid und

„Krisenbewußtsein" geschürt, die geistige Atmosphäre systematisch vergiftet und versucht, die Öffent- lichkeit auf einen Kurs gegen „die Ärzte" zu trimmen ... Als Gipfel- punkt dieser schäbigen Hetzkam- pagne und psychosozialen Vergif- tung unseres Volkes fehlte jetzt nur noch, den Ärzten vermittels Staats- dekret eine Plakette an den für sie

„doch ausreichenden Einheits- rock" zu heften, um sie damit als

„Ausbeuter der Nation" öffentlich zu brandmarken ... Die Meinungs- mafia linkssozialistischer Prägung züchtet mit geistlosen Schlagwor- ten und dummdreisten Verallge- meinerungen, oft in verquollenem Soziologendeutsch eine aggressive Haltung gegenüber den Ärzten, die sich auch heute noch durch indivi- duelle Leistung, Risikobereitschaft und Arbeitsfreude von der Masse der Arbeitnehmer abheben müs- sen.

Bei ihrem Trommelfeuer auf die freie Ärzteschaft geht es aber nun

den Aposteln einer sozialistischen Zwangsreligion gar nicht so sehr um die Verbesserung der me- dizinischen Betreuung, sie scheren sich im Grunde einen Dreck um die Kranken und Hilfesuchenden, es geht ihnen auch nicht so unbedingt um die Eindämmung der Kostenflut im Gesundheitswesen. Vielmehr bleibt ihr Endziel die Verwirkli- chung ihrer revolutionären Ideolo- gien und oft abstrusen „Denkmo- delle" zur Änderung unseres frei- heitlich-liberalen und pluralisti- schen Gesellschaftssystems. Die Verstaatlichung des Gesundheits- wesens ist aber der entscheidende

In einem Satz

Exorzismus ist billiger als Mitscherlich!

Dr. med. Oswald Baumeister Clemens-Bolz-Weg 11 8000 München 70

Hebel dazu. Nach Lenin hat jede Sozialisierung der Gesellschaft mit der Medizin zu beginnen. Der Stand der freiberuflich tätigen Ärz- te paßt aber nicht in das Vermas- sungsbild der sozialistischen Plani- fikateure. Die freie Arztpraxis ist ein Fremdsystem in jedem dirigisti- schen Planungsprinzip. Als letzte Säule eines einstigen Systems gei- stiger Autoritäten stellt der Arzt in seiner humanitären Eigenständig- keit ein entschiedenes Ärgernis dar, verfügt auch nicht über „Ar- beitnehmerqualitäten" und steht dem sozialistischen Egalitarismus im Wege. In einer totalen sozialisti- schen Meinungsverwaltung hat der freie Arzt als natürlicher Sachwal- ter seiner Patienten keinen Platz mehr. Aus diesem Grund muß er verplant, d. h. abgeschafft werden.

Eine lohnabhängige „Ärzteschaft"

von Gesundheitsingenieuren und Medizinalfunktionären ist das Ziel der „Gesundheitsreformer". Die freie Arztwahl, oft das letzte, was

Die Würde des Menschen

Worte den Auftrag zu seiner Ret- tung gebe. Immer muß helfend ein- gegriffen werden, wo das Bewußt- sein bereits geschwunden ist. Wo die Urteilsfähigkeit aber noch be- steht, hat nur der betreffende Mensch über sich Gewalt, auf kei- nen Fall der Arzt.

Kant verwirft den Selbstmord in seiner „Metaphysik der Sitten" un- ter dem sechsten Paragraphen der Tugendlehre: „Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Per- son zernichten ist ebenso viel, als die Sittlichkeit selbst aus der Welt vertilgen". Aber die lebenser- haltende Moralität oder, was das- selbe ist, das Ich, kann durch keine äußere Maßnahme gestützt wer- den, wenn volle Urteilsfähigkeit ge- geben ist, wie wir diese bei Er- wachsenen zunächst immer anzu- nehmen haben. Eine äußere Zwangsmaßnahme zur angeblichen Stützung des moralischen Lebens- willens ist selbst unmoralisch. Das sagt nicht nur Kant, sondern auch die Deklaration von Tokio. Sie führt im fünften Punkt ihrer „Richtlinien der Ärzte bei Folterungen usw."

aus: „Wenn ein Gefangener die Nahrungsaufnahme verweigert, der Arzt ihn aber für fähig hält, sich ein unbeeinflußtes und vernünftiges Urteil über die Folgen einer freiwil- ligen Nahrungsverweigerung zu bil- den, so soll er nicht künstlich er- nährt werden."

Um die Frage der Zwangsernäh- rung wurde in jüngster Zeit scharf gestritten. Die Deklaration könnte auf diese Frage keine so erstaun- lich eindeutige Antwort geben, hät- te sie diese nicht auf Kants Gedan- ken stützen können. — Unsere phi- losophische Betrachtung möchte zeigen, daß die Deklaration von Tokio keine zufälligen und leicht veränderlichen Beschlüsse enthält, sondern daß sie auf festen Grund- lagen der Erkenntnis steht und darum jeden Arzt bei seinem Tun

rechtlich und moralisch stützt.

Anschrift des Verfassers:

Dr. phil. habil. Diether Lauenstein Am Berge 3

5804 Herdecke

2178 Heft 34 vom 19. August 1976 - DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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