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22. April 2011SC HIZOPHRENIE
Die AOK Nieder- sachsen kooperiert im Rahmen eines Integrationsver trags mit einer Tochter von Janssen-Cilag (DÄ 4/2011: „IV- Vertrag Schizophrenie: Pharmatoch- ter ist Vertragspartner“ von Sabine Rieser).
Verlierer sind die Kranken
Einmal angenommen, ein einzel- ner Arzt käme auf die Idee, mit ei- ner Beratungsgesellschaft, die vielleicht auch noch einer be- stimmten Pharmafirma nahesteht, einen Vertrag zu schließen, der an- geblich die bessere Versorgung ei- ner Patientengruppe ermöglicht, so würde er sich doch damit dem Ver- dacht der Korruption aussetzen und hätte wahrscheinlich sehr bald die entsprechende „Task force“
der AOK am Hals. Aber wie jetzt Ihrem Artikel zu entnehmen ist, wird genau dieses Vorgehen vom Gesetzgeber den Krankenkassen, in diesem Fall der AOK Nieder- sachsen, sogar ausdrücklich er- laubt.
Wem wird der Vertrag nutzen? Ge- winner ist sicherlich die Manage- ment- und Investmentgesellschaft, dann auch Janssen-Cilag. Verlierer sind auf jeden Fall die Kranken, ausgerechnet auch noch eine Gruppe, die sich kaum wehren kann. Ihnen wird . . . ein Pro- gramm aufoktroyiert. Auch die AOK-Versicherten müssen hinneh- men, dass ihre Zwangsbeiträge für intransparente Kooperationen ver- wendet werden. Und letztendlich besteht natürlich die Gefahr, dass der freie Wettbewerb ausgehebelt wird.
Dr. med. Bernhard Raster, 49584 Fürstenau
Ein Schelm, wer Böses dabei denkt
Der sogenannte „IV-Vertrag Schi- zophrenie“ ist in diversen Medien vorgestellt und kommentiert wor- den. Ein wie mir scheint nicht un- wesentlicher Aspekt fand bisher keine Erwähnung:
Die speziell zur Rezidiv-Prophyla- xe quasi standardmäßig verwende- ten Präparate Flupendura und Flu- pentixol Neuraxpharm 20 mg/ml in einer OP mit fünf Ampullen kosten jeweils 42,59 Euro.
Bei entsprechender Wirkungsstärke und Packungsgröße (fünf Ampullen zu je 25 mg Trockensubstanz) kos- tet eine OP Risperdal Consta der Muttergesellschaft Janssen-Cilag 828,99 Euro.
Honi soit qui mal y pense?
Dr. med. Wolf Palmer, 26723 Emden
SC O
D s i I m v ( Vertrag Schizophren
A RZT-P ATIENT
Über die Gemein- samkeiten von Last- wagen und Klinik- betten (DÄ 5/2011:
„Arzt-Patienten-Ver- hältnis: Die Melan- cholie des Psychia- ters“ von Jürgen Wettig).
Kein Grund zur Melancholie
. . . Erstens: Ja, es stimmt, die gerne behauptete Kunde vom permanen- ten Fortschritt ist eine Fiktion, es ist nicht alles besser geworden in den letzten 20 Jahren, manches sogar schlechter. Es kann kaum jemandem verborgen geblieben sein, dass nach 20 Jahren Neuro-Hype mit angeb- lich unglaublichen Erkenntnisfort- schritten in der Realität der Patien- tenversorgung noch immer kein Pa- tient einen Gentest oder ein funktio- nelles Kernspintomogramm braucht. Unsere Erinnerung müsste sich aber doch sehr verklären, um alles besser zu finden, was man kli- nisch vor der Ära der angestrebten Qualitätsverbesserung in der klini- schen Versorgung gemacht hat. Was sich geändert hat, ist in der Tat, dass wir unsere Dokumentation enorm ausgeweitet und verbessert haben.
Gut empirisch fundiert nachzulesen ist das in einer vor wenigen Mona- ten im „Nervenarzt“ erschienenen Arbeit aus unserem Klinikverbund (übrigens mit dem ökonomischen Geschäftsführer als Koautor), deren wesentliches Ergebnis so zusam- mengefasst werden kann: Gegen- über den Vorgaben der Personalver-
ordnung Psychiatrie von 1990 ha- ben sowohl Ärzte als auch Pflege auf einer Akutstation die Zeit für Dokumentation vervielfacht. Die Zeit wurde an anderer Stelle wieder eingespart: Beide Berufsgruppen haben dafür Gruppentherapien mit Patienten erheblich reduziert bis eingestellt . . .
Zweitens: Wenn die Arzt-Patient- Beziehung und die Kenntnis der Psychopathologie gegenüber Ver- fahrensanweisungen in den Hinter- grund getreten sein sollten, kann man das freilich nicht der Adminis- tration anlasten. Noch nie gab es so viel Psychotherapie in der Weiter- bildung zum Psychiater wie heute – allein 240 Stunden Fallbehandlung unter Supervision, nebst Selbster- fahrung und Balint-Gruppe. Wenn daraus keine kritische Reflexion und Wertschätzung der Arzt-Patient- Beziehung resultiert, müssen wir uns als Weiterbilder und Superviso- ren selbst kritisch infrage stellen.
Drittens: Die Ökonomisierung von Gesundheitsleistungen ist kein be- sonderes Merkmal der heutigen Zeit.
Wir haben es nur früher weniger ge- merkt, weil wir insgesamt weniger Leistungen angeboten haben. Wie viele Gesundheitsleistungen es gibt, hängt mittelfristig unter anderem ziemlich stark davon ab, wie viele Autos wir exportieren, das heißt von unserer Wirtschaftsleistung – mehr als von den Prinzipien des Hippokra- tes. Deshalb gibt es in Deutschland mehr Gesundheit als in Bulgarien und dort mehr als in Nigeria, in der Schweiz aber mehr als bei uns, be- ziehungsweise die Leistungserbrin- ger können dort höher bezahlt wer- den. Das war im Wesentlichen schon immer so, hochwertige Gesundheits- versorgung für alle ohne entspre- chende Industrialisierung ist nicht möglich. Tatsache ist jedenfalls, dass die Aufwendungen für die psychi- atrische Versorgung in den letzten 20 Jahren überproportional gestiegen sind, innerhalb der Medizin benach- teiligt wurden wir also nicht . . . Viertens: Der Patient ist selbstver- ständlich nicht nur Kunde, sondern – manchmal mehr, manchmal weni- ger – auch Leidender. Aber eben nicht nur, bei manchen Gelegenhei- ten ist ein Patient auch ein Kunde, Ü
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„ h c ters“von Jürgen We
B R I E F E
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22. April 2011 A 907 der um bestimmte Dienstleistungennachsucht und sorgfältig prüft, wo er das beste Angebot bekommt. Das ist eines der Rechte des mündigen Bürgers, den wir gerne als Patienten wollen.
Grund genug also, sich über Ver- besserungen des Systems den Kopf zu zerbrechen, kein Grund freilich zur Melancholie, welche Psychiater schließlich für eine pathologische Reaktionsweise zu halten pflegen.
Prof. Dr. med. Tilman Steinert, ZfP Südwürttemberg, 88214 Ravensburg- Weissenau
Zustimmung
Ich kann dem Autor nur aus tiefs- tem Herzen zustimmen.
Derzeit werden die Patienten von Politik und privaten Klinikbetrei-
bern, MVZs mit pseudobedeuten- den, qualitätabbildenen Strategien vernebelt.
Es wird eine optimale Versorgung vorgegaukelt und basale Bedürfnis- se kranker Menschen werden in keinerlei Weise berücksichtigt.
Es ist vonseiten der Ärzte und Pfle- gekräfte keine Zeit mehr für Ge- spräche, gründliche Anamnese und kontinuierliche Begleitung im Hei- lungsverlauf.
Ebenso mangelt es zunehmend an Sauberkeit, da die Putzkräfte eben- so rigiden Zeitplänen unterworfen sind.
Weisen mutige Kollegen auf solche Missstände hin, werden sie von den juristischen Abteilungen dieser Kli- nikketten niedergemacht . . . Ich bin seit 2000 als Augenärztin in eigener Praxis tätig und „lebe“ im-
mer noch, obwohl der konservati- ven Einzelpraxis regelmäßig das baldige Sterben prophezeit wird.
Die Fragen der Patienten an mich gehen inzwischen weit über die Au- genheilkunde hinaus. Viele werden
„durchdiagnostiziert“, und es ändert sich nichts an ihrer Leidenssitua - tion.
Ich hoffe wie sie, dass trotz allem politischen und kapitalistischen Sperrfeuers unter den jungen Kol- legen einige Mutige sind, die die ganzheitliche Betrachtung des Pa- tienten und ihre eigene therapeuti- sche Unabhängigkeit vor alles an- dere setzen. Dann gelingt nach meiner Erfahrung auch die Verein- barkeit von Familie und Be- ruf(ung).
Dr. med. Bettina Mrowietz-Ruckstuhl, 38226 Salzgitter
HEB AMMEN
„Warum sollten Hebammen für wag- halsige Hausgebur- ten geringere Haft- pflichtprämien zah- len?“, fragt Leser Dr.
med. Pompilio Torre- mante (DÄ 6/2011: Leserbrief „Erhebli- che Überschätzung“).
Hervorragendes Qualitätsmanagement
Herr Kollege Torremante vergleicht die Arbeit einer OP-Schwester, von der man sich nicht gerne operieren ließe, mit der verantwortungsvollen und selbstständigen Tätigkeit einer Hebamme. Doch dieser Vergleich ist nicht sinnvoll.
Eine OP-Schwester ist dazu ausge- bildet, dem Operateur zu assistieren,
während die Hebamme dazu befä- higt ist, normale Geburten aus Schädellage selbstständig (ohne Arzt) zu begleiten. Dies ist aus- drücklich in der Berufsordnung der Hebammen und Entbindungspfleger und nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Hebam- mengesetz (HebG/D) festgelegt.
Nach diesem Gesetz besteht die Hinzuziehungspflicht einer Hebam- me . . .
Im Medizinstudium lernt man, kli- nische Entscheidungen und Aussa- gen mit wissenschaftlichen Belegen zu untermauern und nicht einfach in den Raum zu stellen. Die Behaup- tung, dass Hausgeburten ein wag- halsiges Unterfangen seien, wird leider durch keine medizinische Studie von hoher Qualität gestützt.
Im Übrigen sind die Haftpflichtprä- mien nicht nur für Hebammen, son- dern auch für ärztliche Geburtshel- fer gestiegen. Und dies nicht, weil in der Geburtshilfe (besonders in der außerklinischen Geburtshilfe) mehr Schadensfälle eintreten wür- den (die Zahlen sind seit Jahren gleich geblieben), sondern weil die Höhe der Schadensforderungen pro Schadensfall exorbitant gestiegen ist.
Darüber hinaus betreiben die freibe- ruflichen Hausgeburtshebammen und die Hebammen der Geburts-
häuser ein hervorragendes Quali- tätsmanagement und erfassen die Geburten seit Jahren. Die Ergebnis- se sind nachzulesen unter
http://www.quag.de/.
Dr. med. Ute Taschner, 79102 Freiburg
Versäumnis
Ein entscheidendes Problem der Haftpflicht der Hebammen beruht meines Erachtens darauf, dass jede Hebamme am Tag nach ihrem Examen sofort mit freier Tätigkeit, das heißt auch mit Hausgeburten, beginnen darf. Es wäre ähnlich ka- tastrophal, wenn ein Arzt am Tag nach der Approbation sofort die Praxis eröffnete, dies ist aus gutem Grund nicht möglich. Der Hebam- menverband hat es versäumt, hier einen Riegel vorzuschieben; leider gibt es in diesem Berufsstand, den ich sehr schätze und der ohne Zwei- fel viele exzellente Vertreterinnen hat, auch etliche, die ihr Wissen und Erfahrung völlig falsch ein- schätzen. Die Schwangeren, die sonst viele Fragen im Internet klären, sind aber leider nur allzu oft bereit, einer selbstbewusst auftre- tenden Hebamme ohne weitere Überprüfung alle Expertise zuzuge- stehen.
Dr. Barbara Heitzelmann, 79312 Emmendingen
„ H h t p l m mante (DÄ6/2011: L
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