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6. Quo vadis Europa?

9.6. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Den bulgarischen Staatsangehörigen standen aufgrund des Europa-Abkommens mit Bulgarien noch vor dem EU-Beitritt des Landes gewisse Niederlassungsrechte in den Mitgliedstaaten bei Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten und Gründung und Leitung von Unternehmen zu. Auch den bulgarischen Gesellschaften stand die Möglichkeit zu, Tochtergesellschaften, Zweigniederlassungen und Agenturen zu errichten und zu leiten. Nach der neuen bulgarischen IPR-Doktrin werden sie in diesen Fällen als „ausländische“ Rechtssubjekte (Gesellschaftsstatus) angesehen. Für den Rechtsstatus der juristischen Personen, die eine primäre oder sekundäre Niederlassung in einem Mitgliedstaat errichten, gilt der Grundsatz lex loci registrationis, also das ausländische Recht (bei Gründung in Deutschland – das deutsche Recht entsprechend). Das anwendbare Recht bezüglich der Rechts- und der Handlungsfähigkeit der bulgarischen Staatsangehörigen ist nach dem bulgarischen IP-Recht das Heimatrecht lex personalis. Artikel 52 IPR-BG-Kodex bestimmt, dass die Handelsrechtsfähigkeit der natürlichen Personen durch das Recht des Staates bestimmt wird, in dem sie ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten (ohne Gründung von einer juristischen Person) anmelden. Falls eine derartige Anmeldung nicht erforderlich ist, ist

437 Behrens, Peter: Das Internationale Gesellschaftsrecht nach dem Überseering-Urteil des EuGH und den Schlussanträgen zu Inspire Art, in: IPRax 2003, S. 193.

438 EuGH Rs. C-167/01 (Fn. 433)Vorbemerkung 45; vgl. auch: EuGH Urt. v. 16.12.1981 - Rs. 244/80 (Foglia) = Slg. 1981, S. 3045, Rn. 18 und 20, EuGH Urt. v. 16.07.1992 - C-343/90 (Lourenço Dias) = Slg. 1992, S. I-04673, Rn. 17; EuGH- Urt. v. 15.12.1995 - C-415/93 (Bosman) = Slg. 1995, S. I-04921, Rn. 60; EuGH Urt. v. 21.03.2002 - Rs. C-451/99 (Cura Anlagen), Slg. 2002, I-3193, Rn. 26.

das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Hauptort der Tätigkeit ist (Art. 52 IPR-BG-Kodex).

Bei Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten und Gründung und Leitung von Unternehmen, Tochtergesellschaften, Zweigniederlassungen oder Agenturen in Deutschland seitens bulgarischer Staatsangehöriger und Gesellschaften könnten Probleme bei einigen Kollisionsfällen zwischen den bulgarischen und den deutschen IPR-Regelungen entstehen. Ursache dafür ist die Akzeptanz der Gründungstheorie in Bulgarien und der Sitztheorie in Deutschland, was das Gesellschaftsstatut bei Gründung einer Gesellschaft betrifft.

Der Streit zwischen der Gründungs- und der Sitztheorie ist nicht neu. Im europarechtlichen Sinne hat der Europäische Gerichtshof mehr Licht in das Dunkel gebracht. Eine nach dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats errichtete Gesellschaft soll danach berechtigt sein, ihre Geschäftstätigkeit in jedem Mitgliedstaat unabhängig vom Ort ihrer Gründung auszuüben. Diese Regelung betrifft in gleicher Weise sowohl die primäre als auch die sekundären Niederlassungen (Agenturen und Zweigniederlassungen). Eine Sitzverlegung darf nicht als Auslöser für einen Statutenwechsel angesehen werden. Eine Anerkennung verdient die Gesellschaft sogar, wenn im Gründungstaat eine geringe oder gar keine Geschäftstätigkeit entfaltet wird, wenn letztere von vornherein in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben beabsichtigt wird. Irrelevant im europarechtlichen Sinne ist allerdings das unverhohlene Ziel, die gesetzlichen Anforderungen (z.B. bei Mindestkapital oder Haftung) eines anderen Mitgliedstaats zu umgehen. Da im Lichte der EuGH-Rechtsprechung auch die Kollisionsnormen an den wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EG-Vertrags zu messen sind,439 sollen folglich die oben diskutierten Kollisionsfälle zwischen den deutschen und den bulgarischen IPR-Regelungen auf der Ebene der EU-Niederlassungsfreiheit eine Lösung finden.

439 Ebenda.

Teil B. Europarechtliche Rahmenbedingungen (Ebene des EU-Rechts) 10. Freier Personenverkehr und Freizügigkeitsrechte in den Hoheitsgebieten der

EU-Mitgliedstaaten - Abgrenzung 10.1. Freizügigkeit

Unter dem Begriff der Freizügigkeit versteht Art.18 EGV das Recht jedes Unionsbürgers, sich vorbehaltlich der im EU-Recht vorgesehenen Beschränkungen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Freizügigkeit ist demnach da allgemeinen Freizügigk EGV). Die Freizügigkeit nach Art.18 EGV ist vom ff. EGV zu unterscheiden. Letzterer bezieht sich auch auf Drittstaatsangehörige.

Für die Entstehung der europäischen Freizügigkeit sprachen zunächst wirtschaftliche Gründe. Bestimmten Gruppen von Staatangehörigen der Mitgliedsstaaten wurden angesichts der angestrebten Arbeitsmobilität innerhalb der Gemeinschaft zusätzliche Rechte gewährt. Die „EG-Privilegierung“ beruhte auf ihrer ökonomischen Funktion im Hinblick auf Arbeitnehmer, selbstständig Erwerbstätige, Dienstleistungsempfänger oder Dienstleistungserbringer (§1 AufenthG/EWG440, RL 90/364/EWG441). Allmählich wurde die europäische Freizügigkeit auch auf die anderen Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten und ihre Familienangehörigen erweitert (FreizügV/EG442, RL 93/96/EWG443), wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügten (vgl. §§7 und 8 FreizügV/EG).444

440 Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (BGBl. I 1969, S. 927), vgl. auch BGBl. I 1969, S. 116. Dieses Gesetz wurde am 01.01.2005 durch das FreizügG/EU (BGBl. I, 2004, S. 1986 verkundet als Art. 2 ZG) abgelöst.

441 RL 90/364/EWG über das Aufenthaltsrecht (ABl. L 180 1990, S.26).

442 FreizügV/EG (BGBl. I 1997, S.1810) diente der Umsetzung der RL 90/364/EWG, RL 90/365/EWG, RL 93/96/EWG Aufgehoben m.W.v .01.01. 2005 durch G v. 30. 07. 2004 (BGBl. I S. 1950).

443 RL 93/96/EWG v. 29.10.1993 über das Aufenthaltsrecht der Studenten (ABL. L 317, S.56).

444 Vgl. auch: Hailbronner, Kay: Zur Entwicklung der Freizügigkeit in der Europäischen Gemeinschaft – Rechtsprechung und Rechtspolitik, in: ZAR 1990, S. 107-114.

In garantiert den deutschen Staatsangehörigen, im ganzen Bundesgebiet einzureisen, einzuwandern und ohne Behinderung durch die Staatsgewalt an jedem Ort innerhalb des Bundesgebietes Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen. Das Grundrecht kann nur unter den Bedingungen von Art. 11 Abs. 2 GG eingeschränkt werden.

Freier Personenverkehr für die MOE-Staatsangehörige in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten (1990 – 2004/ 2007)

Die Niederlassungsrechte der Unionsbürger und der MOE-Staatsangehöriger in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten vor dem EU-Beitritt in 2004 bzw. 2007 waren unterschiedlicher Natur. Während erstere Freizügigkeiten nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts genießen, wurden letztere aufgrund völkerrechtlicher Abkommen besonderer Natur (die Europa-Abkommen) nur mit begrenzten EA-Niederlassungsrechten begünstigt.

Die Regelungen über die Inländerbehandlung445 im Bereich der gewährten EA-Niederlassungsrechte ließen mit dem Inkrafttreten der Abkommen einige Fragen offen.

Die unmittelbare Wirkung der zugunsten der MOE-Staatsangehörigen gewährten Niederlassungsrechte war strittig.446 Unsicherheit herrschte zur ihrer

„Implementierung“ auf der Gemeinschaftsebene447 und auf der Ebene der einzelnen Mitgliedsstaaten.

445 So gewährten die Mitgliedstaaten gemäß Art.45 Abs.1 EAB für die Niederlassung bulgarischer Gesellschaften und Staatsangehöriger und für die Geschäftstätigkeit der in ihrem Gebiet niedergelassenen bulgarischen Gesellschaften und Staatsangehörigen „eine Behandlung, die nicht weniger günstig ist als die Behandlung ihrer eigenen Gesellschaften und Staatsangehörigen".

Nach Art. 114 EAB verpflichteten sich die Vertragsparteien, im Anwendungsbereich des Abkommens dafür zu sorgen, dass natürliche und juristische Personen der anderen Vertragspartei ohne

Benachteiligung gegenüber den eigenen Staatsangehörigen die zuständigen Gerichte und

Verwaltungsbehörden der Vertragsparteien anrufen können, um ihre persönlichen Rechte und ihre Eigentumsrechte einschließlich der Rechte an geistigem, gewerblichem und kommerziellem Eigentum geltend zu machen.

446 vgl. Fn. 493.

447 Die Frage der Rechtsnatur des Gemeinschaftsrechts ist strittig. Die sog. „Traditionalisten“ sehen das Gemeinschaftsrecht als „Völkerrecht“. Nach Auffassung der sog. “Autonomisten“ kann das

Gemeinschaftsrecht als eine „eigenständige“ Rechtsordnung sui generalis verstanden werden (Vgl.

Streinz, Rudolf: Europarecht, S. 46, Rn 119 ff.; Terminologie von Schwitzer/Hummer/Obwexer, Rn. 234, 235).