• Keine Ergebnisse gefunden

I. Einführung

1. Kultur der Rationalisierung und Rationalisierungskulte

1.8 Zusammenfassung

Ausgehend von akuten sozialen und wirtschaftlichen Problemlagen der Nach-kriegszeit ab 1918 bündelte die Rationalisierungsdebatte durch das »Kaleido-skop« USA und UdSSR multiple, lose miteinander verbundene Einzeldebat-ten. Als kleinsten gemeinsamen Nenner trugen die unter dem Dachterminus »Rationalisierung« diskutierten Themen die virulente Frage nach der Ab-lehnung oder Unterstützung von Zeitphänomenen in sich, die im weitesten Sinne als »rationalitätsbezogen« verstanden wurden. In diesen traten kontro-vers debattierte Fragen der Technologie, der Wirtschaftsphilosophie und der Rationalisierung industrieller Produktion zunehmend in den Hintergrund.

Die rationalistische Umgestaltung von Wirtschaft, Arbeit und Produktion katalysierte im weiteren Verlauf immer mehr die Verhandlung weit komple-xerer Fragen. Deutlich wird dies an der Evolution der Debatte, die sich vom Verhältnis zwischen Mensch und Maschine zum Spannungsverhältnis zwi-schen Individuum und Kollektiv bewegte. Besonders prägend wirkten hierbei die Debatte um die »Vermassung« der Gesellschaft und die problematisierte

164 Vgl. Geiger, Theodor: Die Masse und ihre Aktion. Ein Beitrag zur Soziologie der Revolu-tionen. Stuttgart 1926, 36.

Vision eines sowjetischen »neuen Menschen«, der mechanisiert arbeiten, ra-tionalistisch denken und kollektiv fühlen sollte. Die Optimierung, Mittelbar-machung oder sogar Ausschaltung des Individuums als Bedingungsfaktor wirtschaftlicher oder ideologischer Zielsetzungen wies dabei weit über die Ausgangspunkte der Debatte hinaus und definierte entscheidend das zeitge-nössische Epochenbewusstsein.

»Hier gilt es nun zunächst die Tatsache festzu-stellen, daß die Kultur der Menschheit auch ih-ren reinen Sachgehalten nach sozusagen nichts Geschlechtsloses ist und durch ihre Objektivität keineswegs in ein Jenseits von Mann und Weib gestellt wird. Vielmehr, unsre objektive Kultur ist, mit Ausnahme ganz weniger Gebiete, durch-aus männlich. Männer haben die Kunst und die Industrie, die Wissenschaft und den Handel, den Staat und die Religion geschaffen.«1 So schrieb Georg Simmel weit- und klarsichtig in seinem Essay »Weibliche Kultur« von 1918. Simmel fährt fort, Frauen hätten nun die Möglichkeit, sich entweder in ursprünglich durch männliche Normen definierten Feldern zu verwirklichen oder aber »unverwirklichte Möglichkeiten, uneingelöste Ver-sprechungen (und) gebundene Spannkräfte«2 zur Entfaltung zu bringen.

Zwei der prominentesten Entwicklungslinien weiblicher Rollenbilder wäh-rend und nach dem Ersten Weltkrieg nahm Simmel hier vorweg: die An- und Einnahme männlich besetzter Rollenbilder durch Frauen und die Definition neuer, genuin weiblicher Rollenbilder. Beides könne jedoch, so wandte er ein, innerhalb der durchweg männlich normierten Gesellschaft nicht zu einem Gleichgewicht der Geschlechter führen. Das eine wie das andere würde letzt-lich als widernatürletzt-lich abqualifiziert.3 Simmel beschrieb damit bereits früh ein Dilemma, wie es sich in publizistischen Diskursen über neue Frauenbilder während der Weimarer Zeit deutlich zeigen sollte.

Natürlich reicht Simmels Diagnose nicht an die in der heutigen Debatte weiter ausformulierten Leitlinien für die Dekonstruktion der historisch tra-dierten Einheit von (biologischem) Geschlecht, (sicht- und formbarem) Kör-per und (kulturell bedingter) Geschlechterrolle heran. Judith Butler hat diese unter Bezugnahme auf eine von Kant über Nietzsche bis Foucault reichende Argumentationslinie zur Differenzierung jener drei Kategorien erdacht.4

Den-1 Simmel, Georg: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais. Berlin 1983, 209.

2 Ebd., 213.

3 Vgl. ebd., 209.

4 Vgl. Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York u. a. 2010, 175 f. Beim Verweis auf Butler ist hierbei ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass nicht das gesamte, mit fortschreitender Zeit immer weitere Bereiche in ihre Dekonstruk-tion einschließende Theoriegebäude hier zu Grunde gelegt wurde. Lediglich hinsichtlich der spezifischen Rollen, welche auf Grund des biologischen Geschlechts Individuen über

noch zeugt Simmels zeitgenössischer Problemaufriss von der Einsicht, dass die Dekonstruktion und Neuverhandlung von geschlechterspezifischen Rol-lenbildern nicht ohne Konfrontation vonstattengehen könne. Das neue, »mo-derne« Frauenbild musste sich durch die Kollision mit männlichen Rollenbil-dern einerseits und dem hergebrachten Frauenbild andererseits herausbilden.

Konfrontativen Charakter gewinnt diese Rollenbestimmung durch Infrage-stellung oder Missachtung des bestehenden, Rollenbilder festschreibenden, stilisierenden und verteidigenden Wertesystems und dessen Reaktionen auf derartige Verstöße.5

Die Weimarer Debatte über (neue) Frauenrollen verlief teils ganz wie von Simmel prognostiziert, teils aber auch dezidiert antifeministisch beziehungs-weise antiemanzipatorisch. Da manche Diskursteilnehmer emanzipatorische Errungenschaften euphorisch feierten, andere diese aber marginalisierten oder verunglimpften, weist die Debatte in ihren Grundmustern die Kollisio-nen und KonfrontatioKollisio-nen auf, die Simmel vorausschauend beschrieben hatte.

Die in der Weimarer Republik über die Rolle der Frau geführten Debatten waren zweifellos andere als vor dem Ersten Weltkrieg,6 bezogen sich aber in signifikanter Weise auf soziale und politische Entwicklungen der Vorkriegs-zeit. Der durch den Krieg beschleunigte, nicht aber bedingte Aufbruch der Frauen führte zu einem Aufbrechen ihres tradierten Bildes im öffentlichen Diskurs. Dieser antizipierte in der Reflexion amerikanischer und sowjetischer Frauenbilder Veränderungen der realen Situation der Frauen in Deutschland und lässt Rückschlüsse auf die Befindlichkeiten der deutschen Öffentlichkeit in der »Frauenfrage« zu.

Die Presseberichterstattung zur Frauenfrage in den USA und der UdSSR diente nicht in erster Linie der Fremdbetrachtung, sondern einer Beantwor-tung der Frage nach einem neuen, modernen Frauenbild in Deutschland.

soziale Prozesse zugewiesen wurden, dienen Butlers Überlegungen hier der Analyse. Wei-tere, nicht empirisch untermauerte Annahmen – etwa die einer angeblichen Konstruiert-heit des biologischen Geschlechts überhaupt und weiteres mehr – bleiben unbeachtet.

5 »Ideas about separating, purifying, demarcating and punishing transgressions have as their main function to impose system on an inherently untidy experience. It is only by exaggerating the difference between within and without, above and below, male and fe-male, with and against, that a semblance of order is created.« Douglas, Mary: Purity and Danger. Boston u. a. 1969, 4.

6 Auch diejenigen Arbeiten, die sich im Speziellen mit dem Zusammenhang zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Frauenemanzipation beschäftigten, verwiesen stets eher auf die veränderte Wahrnehmung des Frauenbildes denn auf empirisch nachprüfbare Verände-rungen der soziokulturellen Situation der Frauen in den kriegsteilnehmenden Staaten. Vgl.

Daniel, Ute: Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg. Göttingen 1989. Sowie Thébaud, Francoise: Der Erste Weltkrieg. Triumph der Geschlechtertrennung. In: Dies. (Hg.): Geschichte der Frauen, Bd. V, 20. Jahrhundert.

Frankfurt a. M., New York 1995, 36.

Dabei standen zwei Fragenkomplexe im Zentrum der Auseinandersetzung:

Führte das Vordringen von Frauen in männlich definierte beziehungsweise das Männliche definierende Rollen- und Berufsbilder zu einer widernatür-lichen »Vermännlichung« der Frau? Und: Wie sollte man mit der gewachsenen Anzahl politisch aktiver Frauen umgehen, die neu eröffnete Mitwirkungs-möglichkeiten beherzt ergriffen und in das politische Leben drängten? Beides verunsicherte Zeitgenossen nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, dass neue Rollenbilder und politische Teilhabe auch als Erschütterung des (Macht-)Ver-hältnisses der Geschlechter zueinander gedeutet wurden.

Markant zeichnete sich dabei eine Dichotomie von Annahme und Ableh-nung der von außen transportierter Frauenbilder durch die Diskursteilnehmer ab. Während Themen, die die politische Emanzipation der Frauen berührten, relativ offen diskutiert wurden, spiegelten sich erhebliche Widerstände gegen die Verwischung von Gendergrenzen7 in Zeitungen und Zeitschriften wider.

Die Gründe dafür waren das Verharren in tradierten Rollenbildern und die demonstrative Wiederabgrenzung der weiblichen von der männlichen Gesell-schaftssphäre. Das weitverbreitete Bedürfnis nach einer Wiederherstellung vormals fest gefügt scheinender Geschlechtersphären fand seinen Ausdruck in einer Tendenz zur ostentativen Rückverweiblichung.

Zwar hatte sich in Deutschland bereits vor 1914 die Erkenntnis durchzu-setzen begonnen, es handele sich bei der Einteilung der gesellschaftlichen Sphären in privat-häuslich (weiblich) und politisch-öffentlich (männlich) um soziokulturelle und damit neu verhandelbare Konstrukte.8 Durch das Wir-ken der Frauenbewegung und die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen, vor allem im Angestelltenwesen, war dies der wilhelminischen Gesellschaft in Ansätzen zu Bewusstsein gekommen. Doch erst durch den stark beachte-ten Beitrag weiblicher Arbeitskräfte zu den Volkswirtschafbeachte-ten aller am Krieg beteiligten Staaten wurde diese Erkenntnis augenfällig und erschütterte so-wohl das Selbstbild der Frauen als auch deren gesellschaftliche Wahrneh-mung nachhaltig. Dies zog sich verschärfende Diskurse über das Bild der modernen Frau nach sich und ließ fundamentale Deutungskonflikte zutage treten. Deren Aushandlung war spezifischen Vorbedingungen, Vorannahmen und Voreingenommenheiten der Diskursteilnehmer unterworfen. Im Falle der Frauenemanzipation tritt dies deutlicher zutage als in anderen Bereichen, da das Frauenbild einer Gesellschaft im Schnittpunkt weiterer grundlegender gesamtgesellschaftlich auszuhandelnder Themen liegt: soziale Hierarchien, Fragen der Erziehung und politische Kultur.

7 Im Sinne von den Geschlechtern kulturell zugeordneten und zugewiesenen Rollenbildern.

8 Daniel, Ute: Frauen. In: Krumeich, Gerhard / Hirschfeld, Gerhard / Renz, Irina (Hg.): Enzy-klopädie Erster Weltkrieg. Paderborn 2009, 116–134, hier 116.

Das Frauenwahlrecht in Deutschland,9 die politisch-ideologisch forcierte Gleichstellung von Mann und Frau in Russland10 und der Siegeszug der ame-rikanischen »New Woman«11 scheinen zwar zeitlich und damit auch kausal zusammenzufallen. Allerdings waren die Voraussetzungen für diese Entwick-lungen höchst unterschiedlich.

Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts war die einzigartige gesellschaft-liche und politische Rolle der amerikanischen Frau in Deutschland verstärkt wahrgenommen und mit den Besonderheiten der amerikanischen Geschichte zu erklären versucht worden.12 Durch die seit 1918 offenkundig gewordene

9 So hat im Falle Deutschlands Ute Daniel gezeigt, dass die erhöhte weibliche Beschäftigung während des Ersten Weltkriegs nicht zu einer nachhaltigen Emanzipations- oder Gleich-stellungsentwicklung führte. Das Erklärungsmuster »Emanzipation durch Krieg« erweist sich so als nicht tragfähig. Darüber hinaus sei sogar das Gegenteil, eine Demobilmachung der Frauen nach dem Kriege erfolgt. Daniel, Ute: Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft.

Göttingen 1989, 106–124 und 259.

10 So wie Russland zwischen 1905 und 1917 im Zeitraffer alle revolutionären Entwicklun-gen westlicher Gesellschaften zwischen 1776 und 1917 nachzuholen schien, so eruptiv schien auch die Emanzipation der Frau vonstatten zu gehen. Der kausale Konnex von politischer Ideologie und Frauenemanzipation ist auch insofern schwer zu gewichten, als es zu den politischen Zielen Lenins gehörte, bei der Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft explizit auf die gleichberechtigte Mitwirkung der Frauen zu setzen. Vgl.

Majer, Diemut: Frauen – Revolution – Recht. Die grossen europäischen Revolutionen in Frankreich, Deutschland und Österreich 1789 bis 1918 und die Rechtsstellung der Frauen. Unter Einbezug von England, Russland, der USA und der Schweiz. Zürich u. a.

2008, 371 f. Die vollkommene rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau im Jahre 1917 und die durch sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen sowie die Integration von Frauenabteilungen in die Parteihierarchien vorangetriebene Frauenförderung nach Beendigung des Bürgerkrieges 1921 qualifizieren die Frauenemanzipation dabei über die reine politische Ostentation hinaus als real stattfindende soziale Revolution inmitten der politischen. Köbberling, Anna: Aktuelle Strömungen in der russischen Frauenbewegung.

In: Osteuropa, 1993, Nr. 6, 566–577; Scheide, Carmen: Kinder, Küche, Kommunismus.

Das Wechselverhältnis zwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik von 1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen. Zürich 2002, 40–64.

11 Laut Aufzeichnungen der US-Arbeitsbehörden reduzierte sich die kriegsbedingte Frauen-beschäftigung auch in den USA nach 1918 deutlich. Mehr als die ökonomische, befeu-erte die politische Mobilisierung für einen Kriegseintritt der USA die innenpolitische Auseinandersetzung um die Rechte amerikanischer Frauen, insbesondere in der Frage des Wahlrechts. Da eine amerikanische Intervention von Präsident Wilson maßgeblich zum Kampf für Demokratie in der Welt stilisiert worden war, ergab sich dadurch für die Frauenrechtsorganisationen ein Hebel, um auf die existierenden demokratischen Defizite im Inland hinzuweisen und schließlich auch den Präsidenten als Fürsprecher einer Ein-führung des Frauenwahlrechts zu gewinnen. Vgl. Matthews, Jean: The Rise of the New Woman. The Women’s Movement in America, 1875–1930. Chicago 2003, 152 f.

12 Zur allgemeinen Wahrnehmung der USA vor dem Ersten Weltkrieg und der amerikani-schen Frau im Speziellen: Schmidt, Alexander: Reisen in die Moderne. Der Amerika-Dis-kurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich.

Berlin 1997, 190–216. Schmidt zeigt, wie Reiseberichterstatter auf die ideelle Motivation

Dominanz des amerikanischen Systems in Gesellschaft, Politik und Wirt-schaft gewann dieses Thema weiter an Relevanz. In der Sowjetunion wurde die politische, sozioökonomische und rechtliche Gleichstellung der Frau auf allen Feldern vollzogen, die für eine volle Emanzipation als konstitutiv an-gesehen werden können13 und mit dementsprechend großem Interesse auch in Deutschland verfolgt.

Die Bedingtheit der sowjetischen Frauenemanzipation durch die Revolu-tion von 1917 stellt einerseits einen großen Unterschied zur Wahrnehmung der USA dar, wo man eine lineare, »natürliche« Progression der Gleichstellung zu erkennen glaubte. Andererseits bildet die »Geburt« der Gleichstellung aus der Revolution eine Parallele zur Sicht auf die Situation in Deutschland. Diese hatte sich durch die Revolution im Innern und die Kriegsniederlage nach außen hin ebenfalls radikal verändert. Nachdem der revolutionäre Drang ab-geebbt war, lief die deutsche Nachkriegsrealität aber eher auf eine Rückkehr der Frauen zum status quo ante, eine Demobilmachung der Frauen zu. Und auch in den Teilbereichen der Weimarer Reichsverfassung, die Fragen des Geschlechterverhältnisses berührten, war deutlich das Bemühen um eine Ein-hegung der Emanzipationsgewinne der Kriegsjahre erkennbar.14

Das Zusammenwirken dieser drei Großentwicklungen und ihrer Wahr-nehmung bildet den Rahmen der Betrachtung der Frauenfrage. Als diskursive Verschränkungen zwischen der als neu wahrgenommenen Situation der Frau in Deutschland und den durch die publizistischen Darstellungen entstehenden Bildern der amerikanischen und sowjetischen Frau, dienten sie als Argumente im Kampf um die Definition des Frauenbildes. Deutsche Diskurse über das neue Bild der Frau lagen somit als Folie vor der Betrachtung amerikanischer und (sowjet-)russischer Frauenbilder. Die so entstandene Hybridität floss als

zu Frauenerwerbsarbeit, gesellschaftlichem Einfluss und der Findung neuer Geschlech-terverhältnisse hinweisen, während in Europa die wirtschaftliche Notwendigkeit Frauen gegen ihren Willen dazu zwinge, derlei neue Wege zu gehen.

13 Unter anderem die Erteilung aktiven und passiven Wahlrechts, freier Berufszugang (Ar-mee und Miliz eingeschlossen), Gleichstellung in der Bildung (Koedukation ab Mai 1918), den Arbeitsbestimmungen, sozialen Belangen sowie die Einebnung der in Westeuropa und den USA weiter bestehenden Unterschiede im Familien-, Ehe-, und Erbrecht. Vgl.

dazu: Köbberling, Anna: Das Klischee der Sowjetfrau. Stereotyp und Selbstverständnis Moskauer Frauen zwischen Stalinära und Perestroika. Frankfurt a. M., New York 1997, 44. Und: Majer: Frauen – Revolution – Recht, 374.

Allerdings bedeutete die vollkommene Gleichstellung zeitweise auch, dass geschie-dene Ehefrauen und Witwen, genau wie ihre männlichen Pendants, keinerlei Ansprüche auf Unterstützung hatten. Außerdem bestanden trotz der politisch verordneten völligen Gleichstellung weiterhin beträchtliche Lohnunterschiede zwischen Frauen und Män-nern, durchschnittlich 10–40 %. Dazu: Hutton, Marcelline: Russian and Soviet Women.

1897–1939. Dreams, Struggles and Nightmares. Iowa 1986, 471.

14 Vgl. Rouette, Susanne: Sozialpolitik als Geschlechterpolitik. Die Regulierung der Frauen-arbeit nach dem Ersten Weltkrieg. Frankfurt a. M., New York, 1993, 16.

Argument in den innerdeutschen Diskurs zurück. So gilt, übertragen auf den Weimarer Diskurs, was Francoise Thébaud bereits für die Zeit des Ersten Weltkriegs festgestellt hat:

»Gender, das sozial konstituierte Geschlecht, erscheint hier als ein Organisations-prinzip, ja als kriegswichtige Waffe, und die Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlecht als eine Kampffront von Staaten, Gruppen und Individuen.«15

Je nach Positionierung entlang dieser gesellschaftspolitischen Front lassen sich dabei unterschiedliche Darstellungs- und Normierungsstrategien in den einzelnen publizistischen Organen feststellen. Ungeachtet dessen bestand je-doch Einhelligkeit bezüglich der benutzten Kategorien und zu behandelnden Problemfelder. Über ideologische und institutionelle Grenzen hinweg wurden dieselben Veränderungen, die das Bild der Frau neu prägten, als diskussions-würdig identifiziert. Man war sich in der Debatte über deren Gegenstand also einig – damals wie heute keine Selbstverständlichkeit.

Das gesamte untersuchte Pressespektrum thematisierte Fragen wie die

»Vermännlichung« der Frau, die Frau im politischen Leben oder auch die Besetzung männlich definierter Rollenbilder durch Frauen. Erst diese the-matische Kongruenz erlaubt überhaupt eine vergleichende Betrachtung. Sie verdeutlicht zudem, dass die Identifizierung und Definition relevanter Ein-zelaspekte der Frauenfrage nicht primär vom Beobachtungsgegenstand, also dem tatsächlichen Status quo der Frau in den USA und der UdSSR ausging.

Einzelaspekte wurden vielmehr an den thematischen Interessen der deutschen Presselandschaft ausgerichtet. Dies lässt sich an Hand der Tatsache darlegen, dass die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in der Frau-enfrage in den drei betroffenen Gesellschaften zwar äußerst unterschiedlich abliefen, die Verhandlung dieser Entwicklungen aber innerhalb fast identisch gefasster Themenfelder und Kategorien erfolgte, was die Wege der amerika-nischen, sowjetischen und deutschen Frauen analogisierte.

2.1 Die »Vermännlichung« der Frau

»Wie in Amerika emanzipieren sich die Frauen, drin-gen in alle Berufsarten ein, wollen arbeiten, Geld verdienen, unabhängig leben.«16

Die konfrontative Kollision weiblicher und männlicher Rollenbilder wirkte entscheidend auf den Entstehungsprozess des Bildes der »modernen Frau« in den USA und der UdSSR ein. Artikel und Visuals, vor allem in den Illustrierten

15 Thébaud: Der Erste Weltkrieg. Triumph der Geschlechtertrennung, 36.

16 Ferrero, Guglielmo: Europas Amerikanisierung. In: DAZ Nr. 174 vom 15.04.1926, 1 f.

und Magazinen, stellten plakativ das Eindringen von Frauen in männliche Lebenswelten dar. Salopp gesagt, waren die männlichsten der männlichen Berufs- und Rollenbilder gerade gut genug, um deren scheinbar unaufhalt-same Eroberung durch die Frau publikumswirksam zu visualisieren und zu beschreiben. Besonders der Bruch eines bis heute kontrovers diskutierten17 geschlechtsbezogenen Tabus wurde in diesem Zusammenhang intensiv rezi-piert: die Ausbildung von Frauen an der Waffe sowie ihr Einsatz als Soldatin-nen. Im Folgenden soll versucht werden, die grundlegenden Analogien und Differenzierungen, die bezüglich dieses wichtigen Teilaspekts vorgenommen wurden, aufzuzeigen.

In der im Jahre 1921 noch unter dem Titel »Sowjetrußland im Bild« er-scheinenden späteren Arbeiter Illustrierten Zeitung (AIZ) zeigt sich deutlich, wie abhängig die Perspektive auf das Phänomen bewaffneter Frauen18 von der politischen Ausrichtung der Redaktion war. Die visuelle Darstellung der Waf-fenausbildung von Arbeiterinnen (Abb. 3) wurde mit einer Referenz versehen, die eine andauernde militärische Notsituation Sowjetrusslands postuliert und die daraus folgenden verteidigungspolitischen Maßnahmen erläutert:

»Durch die dauernden militärischen und kriegerischen Ueberfälle der imperiali-stischen Staaten war Sowjetrußland gezwungen, seine Arbeiter und Bauern in dem Gebrauch von Waffen auszubilden. Dank dieser Ausbildung […] konnten alle räube-rischen Ueberfälle der profitlüsternen Kapitalisten abgeschlagen und die Grenzen der ersten Arbeiter- und Bauernrepublik gesichert werden.«19

Der im Jahre 1921 im Inneren wie im Äußeren noch unentschiedene Über-lebenskampf Sowjetrusslands dient hier als Legitimation für die Soldaten-ausbildung. Bemerkenswerterweise findet sich im Text jedoch keinerlei In-formation zur weiblichen Beteiligung. Lediglich in Form der Fotografie und

17 Man betrachte die aktuellen, immer wieder aufflammenden Debatten in den USA und Europa, ob und unter welchen Bedingungen weibliche Soldatinnen in Kampftruppen eingesetzt werden sollten. Dazu repräsentativ: Fischer, Sebastian: Die neuen Front-Frauen.

URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/frauen-beim-us-militaer-gleichberechtigung-bei-kamptruppen-bis-2016-a-881944.html (am 25.3.2014). Spiegel Online GmbH, Ham-burg. Und Ders. / Sperber, Sandra: US-Armee: Frauen an die Front. URL: http://www.

spiegel.de/politik/ausland/us-armee-obama-will-frauen-in-kampfeinsaetze-schicken-a- 958709.html (am 01.04.2014). Spiegel Online GmbH, Hamburg.

18 Mit dem Themenkomplex bewaffneter Frauen und deren gesellschaftlicher Rezeption be-fasste sich eine ganze Ausgabe der Zeitschrift WerkstattGeschichte unter dem Titel »Waf-fenschwestern«. Bettina Blum geht explizit auf die 1918/19 gleichzeitig fallenden Klassen- und Geschlechterschranken ein und beleuchtet am Beispiel weiblicher Polizistinnen das Phänomen der bewaffneten Frau. Ulrike Weckel und Dagmar Ellerbrock verweisen auf die gesteigerte Akzeptanz bewaffneter Frauen in existenziellen Bedrohungslagen, wozu Bürgerkrieg und die Systemwirren nach 1917 in Russland durchaus zählen. Vgl. Werk-stattGeschichte. Waffenschwestern. Nr. 64, November 2014.

19 Anon.: Freiheit und Proletarische Wehr. In: SIB, 1921, Nr. 5, 35 (Jahresausgabe).

der dazugehörigen Bildunterschrift (»Arbeiter und Arbeiterinnen üben sich im Gebrauch der Waffen.«)20 wird dieser Umstand deutlich. Dieses erste und in chronologischer Hinsicht frühe Beispiel gibt Anlass zu der Annahme, dass sich visuelle und textuelle Ebene qualitativ voneinander unterscheiden: Die textuelle Benennung (Sagbarkeit) bewegt sich bei diesem Beispiel in ihrer

der dazugehörigen Bildunterschrift (»Arbeiter und Arbeiterinnen üben sich im Gebrauch der Waffen.«)20 wird dieser Umstand deutlich. Dieses erste und in chronologischer Hinsicht frühe Beispiel gibt Anlass zu der Annahme, dass sich visuelle und textuelle Ebene qualitativ voneinander unterscheiden: Die textuelle Benennung (Sagbarkeit) bewegt sich bei diesem Beispiel in ihrer