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Die Black Community in den USA

I. Einführung

3. Minderheiten: Emanzipation und Modernitätsbruch

3.1 Die Black Community in den USA

Die mediale Betrachtung der Black Community erstreckte sich über drei Fel-der: erstens die Alltagsnormalität der afroamerikanischen Minderheit als sich zunehmend in der Gesamtgesellschaft verortende Gruppe; zweitens Klagen über die dazu im krassen Widerspruch stehende rassistische Gewalt und in-stitutionalisierte Rassendiskriminierung; sowie drittens optimistische Per-spektiven auf den sich abzeichnenden Aufbruch der Black Community in die Mitte und an die Spitzen der amerikanischen Gesellschaft. Die Alltags-beschreibungen waren von exotistischer Neugier getrieben, die sich immer wieder in hergebrachten Stereotypen verfing. Die dem gegenüberstehende Kritik an rassistischer Gewalt und Rassentrennung in den Südstaaten bezog ihre Schärfe aus der Nichtvereinbarkeit archaisch anmutender Denkmuster und blanker Gewalt mit dem Konzept des modernen »Melting Pot« USA. Intensiv wurden individuelle Emanzipationserfolge rezipiert und zu afroame-rikanischen Rollenvorbildern überhöht sowie politische Organisationen wie die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) zur pluralistischen Verheißung der amerikanischen Moderne stilisiert.

Anhand einschlägiger Quellenauszüge lässt sich zeigen, dass hinsicht-lich der amerikanischen »Rassenfrage«18 ein für die Maßstäbe der Zeit be-merkenswert ausgeprägtes Problembewusstsein vorhanden war. Das

retro-17 Dass es ein sehr großes Interesse an der Thematik gab, lässt sich ablesen sowohl an zahl-reichen und über den gesamten Beobachtungszeitraum regelhaft auftretenden synopti-schen Beschreibungen der Lage der Afroamerikaner (Nearing, Scott: Schwarze Amerika-ner. In: AIZ, 1928, Nr. 46, 4 f.) als auch den Artikeln und Reportagen, die auf thematische Einzelaspekte afroamerikanischen Lebens, wie beispielsweise deren Wohnsituation oder zunehmende kulturelle Entfaltung fokussierten. Anon.: John D. Rockefeller Jun. baut Wohn-Blocks für – Neger! In: MIP, 1930, Nr. 19, 667 (Jahresausgabe); Anon.: Neger träu-men vom Paradies. Das Zugstück der New Yorker Theatersaison. In: MIP, 1930, Nr. 31, 1075 (Jahresausgabe).

18 Der Terminus »Rassenfrage« transportiert im Deutschen hinsichtlich seiner Ähnlichkeit mit dem weltanschaulichen Begriff der »Judenfrage«, der im »Dritten Reich« durch die Nationalsozialisten zur mentalen Vorbereitung des Holocaust verwendet wurde, entspre-chende Konnotationen. Hier wird er im Folgenden daher mit Anführungszeichen ver-sehen sein. Es sei angemerkt, dass mit der amerikanischen »Rassenfrage« ausschließlich der mehrdimensionale, über den Beobachtungszeitraum hinaus ungelöste Problemkom-plex des Verhältnisses zwischen weißer Mehrheitsbevölkerung und afroamerikanischer Bevölkerung in den USA gemeint ist.

spektive Urteil, afroamerikanische Themen seien von einem übermächtigen WASP19-Narrativ von Amerikas Geschichte und Gegenwart überdeckt wor-den, lässt sich für die deutsche Perspektive nicht bestätigen. Die notwendige Blickwinkelverschiebung einer postkolonialistischen und auf Dekonstruktion bedachten Historiografie leuchtete fraglos viele Bereiche und Themen aus, die einst im Schatten der von nationalen Mehrheiten kanonisierten Meister-narrative standen. Die recht spezielle Konstellation eines deutschen Blickes auf die afroamerikanische Minderheit und die Widrigkeiten ihrer Existenz in Staat und Gesellschaft stellte die Ausnahme von der Regel dar. Auch sind es, um diesem berechtigten Einwand der postkolonialen Theorie vorzugreifen, freilich keine Afroamerikaner, die ihre eigene Situation schildern und Prob-leme identifizieren,20 sondern deutsche Journalisten. Auf eine Selbstdarstel-lung zielt der hier gewählte Ansatz jedoch ebenso wenig ab. Der zweifelsohne

»koloniale« Blick der deutschen Massenpresse ist daher kein konzeptionelles Problem, sondern das eigentliche Untersuchungsobjekt.

Während des Krieges war in den Illustrierten aus Propagandagründen viel rassistische Stereotypenbildung betrieben worden. Afroamerikanische Sol-daten wurden als marodierende Trunkenbolde oder notorische Vergewaltiger dargestellt.21 Nach Kriegsende verlagerte sich das Interesse allmählich auf die soziale, rechtliche und wirtschaftliche Situation der afroamerikanischen Bevölkerung. Dabei schwankten Beiträger wie Hans Christoph Kaergel22 zwi-schen der Anerkennung der Ungerechtigkeiten, die Afroamerikanern nach wie vor widerfuhren, und ihrer Charakterisierung als passive, stets einem je-weiligen Herrn unterworfene Diener. Ein Schwebezustand zwischen formaler Gleichberechtigung und fortdauernder Versklavung, so Kaergel, zementiere ihre Position als Bodensatz der amerikanischen Gesellschaft.23 Das Phlegma

19 White, Anglo-Saxon, Protestant.

20 Eine Problemlage, die auftritt, wenn Gruppen auf Grund von Ethnie oder Klassenzu-gehörigkeit in ihrer Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung negativ beeinträchtigt sind. Die statusbedingt mangelhafte Artikulationsfähigkeit im öffentlichen Diskurs be-einträchtigt die Selbstkonzeption und umgekehrt. Vgl. dazu: Spivak, Gayatri: Can the Subaltern Speak? In: Nelson, Cary / Grossberg, Lawrence (Hg.): Marxism and the Inter-pretation of Culture. Chicago 1988, 271–313.

21 Anon.: Die Waffenbrüder. Der Amerikaner in Frankreich: »Diese Genossen im Kampf für die Zivilisation möchte ich Wilson mal zeigen!«. In: BIZ, 1918, Nr. 30, Titel.

22 Kaergel lässt sich mit Blick auf sein literarisches Werk als völkisch-nationaler Heimat-schriftsteller charakterisieren. Einige seiner späteren Veröffentlichungen reichen zu die-sem Urteil aus: Kaergel, Hans Christoph: Die Heimat ruft. Gütersloh 1936. Sowie Kaergels Hitler-Biographie: Ders.: Der Volkskanzler. Leben und Werden Adolf Hitlers von der Jugend bis zum Führer des Volkes. Für Jugend und Volk erzählt. Langensalza 1938.

23 »Sie sind Sklaven geblieben, nur die Besitzer haben gewechselt. Ihr Gebieter heißt

›der Dollar‹ und er hat jetzt genug weiße Sklaven mit unter seiner Peitsche. Ich sah sie (die Schwarzen) beim Häuserbau als Ziegelträger, sie kehrten in allen Wirtschaften den

der Black Community sei die Folge jahrhundertelanger Sklaverei und habe sich »ihren Vätern und Vorvätern mit der Sklavenpeitsche ins Gesicht« gegra-ben. »Heimatlos, verkauft und ins Joch gebeugt«, trügen »sie ein Gesicht, ein Leben, das im Grunde genommen nicht zu ihnen gehört.«24 Augenfällig ist die klare Objektivierung der Afroamerikaner. Der Eindruck, es handele sich bei ihnen um eine »Spezies«, die man gewaltsam aus ihrer natürlichen Umgebung gerissen habe,25 verneint die Zugehörigkeit der Black Community zur ameri-kanischen Gesellschaft. Diese zwischen Objektivierung und Viktimisierung oszillierende Darstellung ist die konstitutive Perspektive der Weimarer Presse auf die Black Community der USA.

Dieser Perspektive stand das Bemühen um die Vermittlung von Innen-ansichten einer funktionierenden, entwicklungsfähigen afroamerikanischen Gemeinschaft entgegen. Trotz deren noch ausstehender Integration in die amerikanische Mehrheitsgesellschaft sei ihr nach innen die Herstellung so-zialer Normalität gelungen.26 Bei dem Versuch dies darzustellen, griffen, wie eingangs erwähnt, ähnliche Mechanismen wie im Zusammenhang der Frauen-emanzipation. So wird zum Beispiel die Ausübung polizeilicher Aufgaben durch Afroamerikaner als ein Schritt in Richtung sozialer und ziviler Nor-malität innerhalb der Black Community dargestellt. Das Visual aus der MIP (Abb. 8) zeigt einen afroamerikanischen Verkehrspolizisten in aufrechter Hal-tung auf dem Mittelstreifen einer Straße beim Regeln des Verkehrs. Die erho-bene Hand, der leicht angehoerho-bene rechte Fuß und die tadellose Uniform ver-mitteln einen Eindruck von Routine und Souveränität. Die durch diese Details fast statuen- oder ikonenhaft geratene Inszenierung ordnender Staatsgewalt und ihre Identifikation mit einem Angehörigen der afroamerikanischen Min-derheit hebt die Grenze zur Mehrheitsgesellschaft und Zivilität für die Dauer des eingefangenen Moments auf. Der Versuch indes, die visuelle Darstellung textuell zu ergänzen steht beispielhaft dafür, wie unsicher deutsche Beiträger im Umgang mit derlei Eindrücken waren. So lautet die Bildunterschrift: »Der

Unrat aus den Stuben, sie schleppten als ›Porter‹ die mächtigen Koffer, sie säubern die Straßen und stehen im Fahrstuhl. Aber überall der gleiche traurige, stumpfe Blick.«

Kaergel, Hans Christoph: Amerikanische Bilder. Im Negerviertel. In: MNN Nr. 187 vom 08.07.1925, 3 f.

24 Ebd., 3.

25 »Nachts aber will es, namentlich am Samstag, nicht Ruhe geben. Ich kann nicht schlafen.

Durch die dünnen Holzwände heult es unaufhörlich in einem ewigen Auf und Ab. Die Neger singen. Sie hocken im Hause gegenüber in einer heimlichen ›Whisky-Schenke‹ und stürzen sich mit dem schlechtesten Gebräu aus dem Rasen ihrer Welt in die Urheimat, aus der sie im Grunde genommen nicht gerissen sind. Sie fahren in den Bretterhäusern immer wieder zurück und lärmen in den Nächten ihre Heimat herbei. Mich aber durchschauert es bei diesem Gesang.« Ebd.

26 Was mit dem Begriff der Normalität oder Normalisierung in diesem Zusammenhang konkret gemeint ist, wird im Weiteren noch auszuführen sein.

schwarze Verkehrsschutzmann – er hat das Selbstbewußtsein seiner weißen Kollegen.«27

Ohne den Rückgriff auf das als Norm gesetzte weiße Pendant des schwar-zen Polizisten erschien zeitgenössischen Journalisten eine Beschreibung der Situation immer noch schwierig. Überhaupt unterscheiden sich Text und Vi-sual des Artikels deutlich voneinander. Die viVi-sualisierte Ankunft der Afro-amerikaner in zivilgesellschaftlichen und staatlichen Machtstrukturen

relati-27 Halfeld, Alfred: Das Neuyorker Stadtviertel Harlem. Die Neger-Metropole der Welt. In:

MIP, 1926, Nr. 49, 1172 (Jahresausgabe).

Abb. 8: Halfeld, Alfred: Das Neuyorker Stadtviertel Harlem.

Die Neger-Metropole der Welt. In: MIP, 1926, Nr. 49, 1172 (Jahresausgabe). »Der schwarze Verkehrsschutzmann – er hat das Selbstbewußtsein seiner weißen Kollegen.«

viert Halfeld unmissverständlich. Er stellt die partizipatorischen Erfolge der Black Community als freiwillige Preisgabe, als paternalistisch-gönnerhafte Gewährung durch die weiße Mehrheitsgesellschaft dar, vulgo: Weiße Ameri-kaner bestimmen, ob und wie weit sich die Black Community entfalten darf.

Der Artikel, aus dem das Visual stammt, stilisiert das New Yorker Stadtviertel Harlem zu einem repräsentativen Beispiel dafür, wie sich die Afroamerikaner inmitten der ansonsten durch weiße Amerikaner und europäische Einwan-derer dominierten Metropolen ihre eigenen Gemeinschaften aufbauen. Hier ist aber nicht von einer aus eigener Initiative und Befähigung erwachsenden Selbstbestimmung die Rede. Vielmehr bleibt der Eindruck einer defizitären (weil afroamerikanischen) Selbstorganisation von Gnaden des desinteressier-ten weißen Amerika zurück, wie an den Erläuterungen der Polizei- und Ver-waltungsarbeit deutlich wird:

»Hier greift die weiße Polizei wenig ein; wie alles ist auch die Führung der öffentlichen Aufsicht in den unteren Stellen den Negern überlassen. So ereignet sich manches in den dunklen Seitenstraßen Harlems, wovon sich selbst die speak-easys und die Night Clubs zwischen Times Square und Columbus Circle wenig träumen ließen.«28 Mit der Darstellung gesellschaftlicher Normalität in der Black Community sahen sich die Beiträger nichtsdestotrotz in einer Vorreiterrolle. Einblicke in die afroamerikanische Gesellschaft wurden von ihnen stets mit der wei-ßen amerikanischen Norm in Beziehung gesetzt, verglichen und letztlich hierarchisiert. Die Darstellungen schwankten dabei zwischen dem ehrlichen Anliegen, authentische Einblicke in die afroamerikanische Komponente der amerikanischen Zivilisation zu vermitteln, und der Verharrung in hierar-chisierenden, pejorativen Denkmustern. Hinsichtlich der Ausdrucksmittel, die diesen Zwiespalt illustrieren, zeichnet sich ein signifikantes Ungleich-gewicht zwischen Visuals und Text ab. Während visuell afroamerikanisches Alltagsleben als von seinem weißen Pendant nicht unterscheidbar vermit-telt wird, erfolgt die Relativierung oder Abschwächung dieses Eindrucks auf textueller Ebene.

Deutlich wird dies auch in Josef Marx’ Reportage »Im Schwarzen-Viertel in Detroit«29. Die Visuals illustrieren den Alltag schwarzer Amerikaner als klein-bürgerliches Idyll. Zu sehen ist neben einem jungen Paar beim Flanieren eine Gruppe modisch gekleideter Damen im Gespräch (Abb. 9). Auf der folgenden Seite sind eine Dame beim Einkaufen samt eigenem Auto (!), junge Passantin-nen und ein Zeitungsjunge zu sehen. In keiner der Darstellungen lässt sich eine Stereotypisierung oder eines der gängigen, damals weit verbreiteten Vorurteile über Afroamerikaner ausmachen. Ganz im Gegenteil: Vergegenwärtigt man

28 Ebd.

29 Marx, Josef: Im Schwarzen-Viertel in Detroit. In: BIZ, 1928, Nr. 7, 275 f. (Jahresausgabe).

sich die soziale und wirtschaftliche Situation der Afroamerikaner während der Zwischenkriegszeit, ist eher eine Überzeichnung bürgerlicher Normalität zu konstatieren, die für die Zeit unter keinen Umständen als repräsentativ angesehen werden kann.30

Im Gegensatz zur beschaulichen Bebilderung liest sich der Text des Artikels durchaus kritisch, insbesondere in der Beurteilung des Verhältnisses zwischen

30 Zwischen 1918 und 1932 stagnierten die Löhne ungelernter Arbeiter, größtenteils Afro-amerikaner. Die schwarze Bevölkerung genoss dementsprechend nicht in gleichem Maße den Anstieg des Lebensstandards, den die 1920er Jahre für die amerikanische Gesell-schaft insgesamt zeitigten. Vgl. David, Paul / Solar, Peter: A Bicentenary Contribution to the History of the Cost of Living in America. In: Research in Economic History, Nr. 2 (1977). Greenwich 1977, 59. Zudem wird die Zwischenkriegszeit aus sozial- und wirt-schaftshistorischer Sicht als der Zeitabschnitt mit der insgesamt größten Einkommens-ungleichheit überhaupt charakterisiert. Dies legt zusätzlich zu oben genannten Faktoren und angesichts der als notorisch zu bezeichnenden Lohnunterschiede zwischen den ver-schiedenen Ethnien der USA eine ausgeprägte Lohnbenachteiligung der afroamerika-nischen Bevölkerung nahe. Vgl. Barlevy, Gadi / Tsiddon, Daniel: Earning Inequality and the Business Cycle. Working Paper 10469. National Bureau of Economic Research. Cam-bridge 2004, 25 f.

Abb. 9: Marx: Im Schwarzen-Viertel in Detroit. »Augenblicksbilder aus dem Schwar-zen-Viertel der amerikanischen Stadt Detroit, dem Zentrum der Automobilindustrie.

›Sie mit ihm‹ (Negermädchen mit ihrem Bräutigam). Gesellschaftsklatsch.«

weißen Amerikanern und Afroamerikanern. Den auch im Norden weit ver-breiteten Alltagsrassismus verdeutlicht Marx an einem »klassischen« Beispiel:

»Dem Gesetz nach genießt der schwarze Bürger dieses ›freien Landes‹ die gleichen Rechte und Freiheiten wie sein weißer Landsmann. In Wirklichkeit sieht es damit aber ziemlich trübe aus. Eine kleine Episode, wie ich sie häufig genug beobachtet habe, die das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß beleuchtet: In ein Restaurant, das von einem Weißen geleitet wird, kommt ein Neger und macht eine Bestellung. ›Das haben wir nicht.‹ Er bestellt etwas anderes und bekommt die gleiche Antwort. Noch einen dritten Versuch macht er und muß wieder hören: ›Das haben wir nicht!‹ Er erhebt sich und geht, nein, schleicht hinaus. Ich werde den Eindruck in seinem Gesicht, gemischt aus Scham und Haß, nie vergessen. Im Süden, ihrer amerikanischen Heimat, haben die Schwarzen noch viel mehr dergleichen zu ertragen.«31

Mit dieser Beschreibung zeigt Marx das grundsätzliche Paradoxon im Ver-hältnis zwischen Black Community und amerikanischer Mehrheitsgesell-schaft auf. Die schrittweise durch den 13. (1865), 14. (1868) und 15. (1870) Zusatzartikel kodifizierte verfassungsrechtliche Gleichstellung afroamerika-nischer Staatsbürger wurde in der politischen, rechtlichen und sozialen Praxis unzureichend oder gar nicht realisiert, wobei es regionale Unterschiede gab.32 Die im Quellenauszug beschriebene Form subtiler sozialer Diskriminierung war typisch für den industriellen Nordosten der USA, wo sich Afroamerika-ner während der »Great Migration« ab 1910 niedergelassen hatten. Klassen-unterschiede zwischen zuwandernden Afroamerikanern aus dem Süden und weißen Industriearbeitern im Norden fielen mit ethnischer Exklusion zusam-men, was zu einer »Ethnisierung der Klassenkonflikte«33 vor Ort führte. Die Problematisierung all jener Missstände durch deutsche Beobachter wie Josef Marx legt eine ausgeprägte Sensibilität für diese elementare Verwerfungslinie des sozialen Gewebes der US-Gesellschaft nahe. Am Schluss des Artikels zeigt sich aber, wie schwer es auch dem Autor fiel, den Widerspruch zwischen er-lebter Normalität und empfundener Fremdheitsbedrohung für sich selbst und seine Leserschaft aufzulösen:

»An einer Ecke, im Schutze eines weißen Polizisten, knipse ich noch den ›nigger flapper‹ (Negerbackfisch) mit Anhang und die drei tratschenden ›coloured ladies‹.

31 Ebd., 275.

32 Wobei die zeitgenössische juristische Debatte offenbarte, dass selbst bei vollumfänglicher Anerkennung der Zusatzartikel 14 und 15 das Wahlrecht für männliche Afroamerikaner nicht garantiert war. Der 14. Zusatzartikel erkannte die Wahlrechtsverweigerung aus Gründen der Rasse in den Einzelstaaten an. Der 15. wiederum gestand Afroamerika-nern nicht explizit das passive Wahlrecht zu und stellte die Wahlrechtsbeschränkung aus anderen Gründen frei. Vgl. Berg, Manfred: The Ticket to Freedom. Die NAACP und das Wahlrecht der Afroamerikaner. Frankfurt u. a. 2000, 34 f.

33 Saldern, Adelheid von: Amerikanismus. Stuttgart 2013, 186 f.

Und ich muß gestehen, ich hatte beim Anblick dieser rein menschlichen Vorgänge ein ganz behagliches Gefühl. Es gibt doch nicht nur Gegensätze zwischen Schwarz und Weiß.«34

Mit seinem Problembewusstsein stand Marx nicht allein. Beschäftigten sich Reiseberichterstatter mit der Black Community, so vergaßen sie nie, das je nach Region teils offizielle, teils subtile Regime der Rassentrennung zu kri-tisieren. Ohne es beim Namen zu nennen, stellen entsprechende Berichte episodisch das Prinzip »separate but equal« dar, das verquere Zusammen-denken kodifizierter staatsbürgerlicher Gleichheit und praktizierter sozialer Ungleichbehandlung. In verklausulierter Form finden sich schlagwortartig verdichtete Beobachtungen über die unterschiedlichen Konventionen, die diesbezüglich in den Nord- und Südstaaten galten:

»Immer die Angst des Weißen: vor der mit Mühe gebändigten Wildheit dieser Ernied-rigten und Beleidigten, die sich einmal Bahn brechen kann. […] Ein einziges Mal habe ich eine weiße Amerikanerin ins Negerviertel mitgenommen. Sie zu beobachten war interessanter als jedes Buch über die Negerfrage zu lesen: sie war erregt, trunken von ihrer eigenen Tapferkeit und Toleranz – nachher bat sie mich, unseren gemeinsamen Freunden den Ausflug zu verschweigen. Im Stillen ist sie vielleicht noch nicht so ganz davon überzeugt, daß es wirklich Menschen sind. Dem Europäer, der zum erstenmal [sic] die Küste Amerikas betritt, versucht man einzureden, die Negerfrage sei nicht mehr akut […]. In Wahrheit gibt es in Amerika nur zwei Einstellungen der Weißen zu den Negern. Der des Nordens sagt – und meint: ›Steige so hoch wie Du willst – aber komm mir um Gotteswillen nicht zu nah.‹ Der des Südens: ›Ich habe Dich gern, lebe in meiner Nähe – aber laß Dir’s nicht einfallen, zu steigen.‹«35

Derlei Schilderungen liegen auf einer Traditionslinie mit bereits 1848/49 in Deutschland geführten Sklaverei-Debatten. Stilisierte man die USA in Sachen bürgerliche Freiheitsrechte damals zur Referenz für die Erneuerung der deut-schen Länder, folgte von konservativer Seite reflexhaft der Hinweis auf das un-geklärte Rassenverhältnis. Die Existenz der Sklaverei wurde mit der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und überhaupt konterkariert.36

Staatlich geduldete oder betriebene Rassendiskriminierung charakterisiert das auf unveräußerlichen Menschen- und Bürgerrechten fußende Verständ-nis Amerikas als »moderner Staat« als zutiefst inkonsistent. Dies erkannten und beschrieben konservative, liberale, nationalsozialistische und kommu-nistische Zeitgenossen gleichermaßen, wenn auch auf Grundlage divergenter Überzeugungen. Die sozial und verwaltungstechnisch praktizierte Trennung

34 Marx: Im Schwarzen-Viertel in Detroit, 276.

35 Anon.: Neger unter sich. Besuch im Schwarzen-Viertel. In: VZT Nr. 216 vom 09.05.1930, 15.

36 Vgl. Lerg, Charlotte: Amerika als Argument. Die deutsche Amerika-Forschung im Vor-märz und ihre politische Deutung in der Revolution von 1848/49. Bielefeld 2011, 306 f.

(qua Verfassung) gleichberechtigter Individuen entlang ethnischen Katego-rien relativiert den Begriff des Staatsbürgers fundamental. Dieser aber war und ist eine Konstituante modernen Staatsverständnisses.

Amerika offenbarte hinsichtlich der Frage des Umgangs mit ethnischen Minderheiten tiefreichende Bruchlinien, die zeitgenössischen Erwartungen an Moderne zuwiderliefen. Ein historisches Urteil über die Weimarer Repu-blik wendet sich somit auch zu einem Verdikt über die Vereinigten Staaten.

Wenn Weimar »Versprechen und Tragödie«37 der Moderne zugleich war, dann zeichnete sich das »tragische« Element des abgebrochenen oder nie er-folgten Aufbruchs in Moderne auch an der amerikanischen »Rassenfrage« ab.

Die klassische Dichotomie der Weimar-Geschichtsschreibung, »Versprechen und Tragödie«, dürfte also ebenso auf den Ungeist der Zeit der Klassischen Moderne als Ganzes passen.