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Amerikas Tradition der Zukunft

I. Einführung

1. Kultur der Rationalisierung und Rationalisierungskulte

1.1 Amerikas Tradition der Zukunft

Die Rationalisierung der deutschen Wirtschaft wurde vielfach als kulturelle Amerikanisierung interpretiert. Rationalisierungskritik spiegelte die Ab-lehnung des wachsenden Einflusses amerikanischer Lebensführung wider.

Diese Haltung schmälerte indes nicht das Interesse an den USA als Quelle wirtschaftlicher Innovationen. Scheinbar folgewidrig wuchs mit der Kont-roversität der Debatte die Neugier auf die Bedingungen, unter denen solch umwälzende Neuerungen hatten entstehen können. Im deutschen und euro-päischen Amerikabild war schon seit dem 19. Jahrhundert die latent pejorative Vorstellung amerikanischer Technikaffinität verankert.22 Deren Beschrei-bung erhielt ihren abwertenden Duktus durch die implizite Feststellung der Abwesenheit jeglicher Hochkultur im amerikanischen »Volkscharakter«.

Bürgerlich-konservative Tageszeitungen wie die DAZ konnten das Zerrbild vom Amerikaner als tüftelndem Naivling greller zeichnen als liberale Blätter.

Ihre Leserschaft definierte sich schließlich nicht zuletzt über die Zugehörig-keit zu jener Hochkultur, die dem Amerikaner angeblich vollkommen abging.

Der kommunistischen AIZ als selbsternanntem Sprachrohr des Arbeiterpro-letariats diente die Kritik an der kapitalistischen Ausbeutung des amerikani-schen Arbeiters als wohlfeiler Ersatz für derlei Kulturchauvinismus.

Die amerikanische Wirtschaftsorganisation wurde traditionell mit den his-torischen, materiellen und räumlichen Gegebenheiten erklärt. Dieses Erklä-rungsmuster bildet ein über Epochengrenzen stabiles Narrativ des deutschen Amerikabildes. Im krassen Ungleichgewicht zwischen überreichen natürli-chen Ressourcen und rarem qualifizierten Personal erkannten die Beobachter den Ursprung des Strebens nach bestmöglich rationalisierter Betriebsführung.

22 Vgl. Depkat, Volker: The Birth of Technology from the Spirit of the Lack of Culture: The United States as ›Land of Technological Progress‹ in Germany, 1800–1850. In: Wala, Michael / Lehmkuhl, Ursula (Hg.): Technologie und Kultur: Europas Blick auf Amerika vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Köln 2000, 23 f.

Diese »Entwicklungslinien in der amerikanischen Industrie« bedingten die zunehmende Aufspaltung und Mechanisierung von Produktionsprozessen zur optimalen Ausnutzung menschlicher Arbeitskraft:

»Der Mangel an Arbeitskraft, gemessen an den unermesslich reichen Möglichkeiten des Landes, zusammen mit dem noch viel größeren Mangel an gelernter Arbeits-kraft, zwang zur weitgehenden Zerlegung, zur Mechanisierung der Arbeit, von der Mechanisierung kam man zur Maschinisierung, da das Element Arbeitskosten doch stets das teuerste blieb, die Maschine jedoch umso billiger wurde, je größer die von ihr hergestellten Massen waren, so kam man dazu, die immer teurer werdende Ar-beitskraft auf das Genaueste auszunutzen, indem man alle unwirtschaftliche Arbeit wegzuorganisieren strebte.«23

Dieser sozioökonomische Determinismus führte zu soziokulturellen Analo-gieschlüssen auf die gesamtkulturelle Verfasstheit Amerikas. Alice Salomon fasste die von Pragmatismus und Rationalismus tief durchdrungene Alltags-kultur 1924 im Schlagwort der »amerikanischen Lebenstechnik« zusammen.24 Diesem Konzept war ökonomischer Rationalismus ebenso eingeschrieben wie überzogene Vorstellungen vom amerikanischen Lebensstandard, die in Deutschland sehr weit verbreitet waren. Unbestreitbare Fakten wie die hohe Automobilität der ländlichen Bevölkerung oder die formidable technische Ausstattung amerikanischer Hausfrauen machten den Großteil von Salomons Schilderungen aus.25 Dazu mischte die Autorin maßlose Übertreibungen wie die Aussage, jeder amerikanische Junge kommuniziere wie selbstverständ-lich via selbstkonstruierter Funkanlage.26 So wurde ein amerikanischer homo

23 Hirsch, Julius: Entwicklungslinien der amerikanischen Industrie. In: BTB Nr. 291 vom 22.06.1928, 1 f.

24 »Der Amerikaner ist technisch und in der Nutzbarmachung von Erfindungen anderen Ländern voraus. Er hat aber auch einen rationalen Lebensstil; eine Lebenstechnik, die man ablehnen kann, die man nicht sympathisch zu finden braucht, die ihn aber für den Lebenskampf in ungewöhnlichem Maß stark macht.« Salomon, Alice: Lebenstechnik – Amerikanische Eindrücke. In: VZT Nr. 185 vom 17.04.1924, 1 f.

25 »Henry Ford hat das große Verdienst, den amerikanischen Farmer seiner Isoliertheit ent-rissen, dem Dorfbewohner die Lockungen der Großstadt in erreichbare Nähe gebracht zu haben. Wenn man durch den mittleren Westen fährt, […] bekommt man eine Vorstellung davon, wie das Leben der Landbevölkerung durch die Technik verändert worden ist. Ue-berall sind die Landstraßen mit Autos belebt; vor jedem Dorf sieht man die Wagen stehen.

Der Garage-Schuppen gehört zum Haushalt des Bauern fast so wie Stall und Scheune […].

Das Auto ist in jeder Beziehung das Wahrzeichen der Vereinigten Staaten. Man sollte es in die die Fahne neben die Streifen und Sterne setzen.« Ebd.

26 »Auch Telephon und Rundfunk haben ihn mit der übrigen Welt verbunden. Sie sind Haushaltungsgegenstände geworden. Jeder amerikanische Junge konstruiert sich seinen eigenen Rundfunkapparat. Er braucht keine Erlaubnis zu haben, keine Gebühr zu zahlen.

Er fertigt seinen Apparat an und fängt auf, was in der Luft ist. Man fährt durch Städte, in denen auf jedem Dach die Radioanlage errichtet ist.« Ebd.

oeconomicus konstruiert, der allem Unproduktiven entsagt und kontinuierlich der Optimierung seiner selbst und der ihn umgebenden Welt frönt.27

Derlei Schilderungen mögen in ihren ausschmückenden Einzelheiten über-trieben gewesen sein. Amerika-Korrespondenten wie Salomon, die in den urbanen Zentren der Ostküste lebten und schrieben,28 sahen die amerikanische Lebens- und Arbeitseinstellung trotz aller Vorbehalte als veritable Bewälti-gungsstrategie des modernen Lebens. Sie verstanden sich als Berichterstatter von einem Ort, der von ihrem deutschen Publikum räumlich ebenso entfernt war wie zeitlich. Im Keim waren ihre Berichte als Voraussagen über das Leben angelegt, das man in Deutschland in naher Zukunft würde führen können – oder müssen.

Nicht nur die Rationalisierung der Wirtschaft, sondern jedes Einzelnen er-schien als Erfordernis der kommenden Zeit. Effizienzsteigerung wurde nicht mehr nur als sektoral begrenzte Herausforderung für das produzierende Ge-werbe begriffen. Die Begriffe der Amerikanisierung, Rationalisierung und Modernisierung verwiesen zunehmend aufeinander, wurden gegenseitig aus-tauschbar. Diese Vermischung der Konzepte war in positiven, geradezu en-thusiastischen Bewertungen der Amerikanisierung ebenso feststellbar wie in kulturpessimistischen Warnungen vor dem Transformationspotential ameri-kanischer Wirtschafts- und Kulturmacht. Auch diejenigen, die die Einebnung der europäischen Kulturen auf das Niveau einer hegemonialen amerikanischen Einheitskultur beschworen, bedienten sich der gedanklichen Verschränkung von wirtschaftlichen Rationalisierungsprozessen und deren kulturellen Va-rianten Banalisierung und Standardisierung.

Die Münchner Neuesten Nachrichten brachten die unterstellte kritiklose Übernahme alles Amerikanischen durch Europa mit einem Zitat des nieder-ländisch-amerikanischen Autors Hendrik Willem van Loon29 auf den Punkt:

27 »Es ist immer gewollte Bemeisterung und Beherrschung des Lebens. Das greift auch in das individuelle Leben über. Der Begriff der geistigen Hygiene steht im Mittelpunkt des Interesses. Man will nervösen Erkrankungen vorbeugen. Man will Schwächen der Anlage überwinden. Man will die Fähigkeit entwickeln, zu Zeiten alle Energien bis aufs äußerste auszunutzen, ohne hinterher zusammenzubrechen. Dazu schafft man sich einen Rhyth-mus von vollkommenster Entspannung und gesteigerter Tätigkeit. ›Wie man erfolgreich lebt‹, das ist Gegenstand nicht nur ökonomischer, sondern psychologischer und medizi-nischer Betrachtungen. Als Beispiel dafür erzählt man von einem Athleten, der bis in ein hohes Alter einen wunderbar gebildeten und leistungsfähigen Körper behielt, daß er auf die Frage, wodurch er seine Kräfte erhalten habe, antwortete: er habe nie im Leben auch nur eine überflüssige Bewegung gemacht. Der Amerikaner, der Erfolg hat, der es zu einer großen Stellung bringt, wählt aus, was er tut und was er unterläßt.« Ebd.

28 »Dann aber ist die Hast, der Lärm, die Atemlosigkeit in den großen Städten des Ostens so beispiellos, daß man einer besonderen Lebenstechnik bedarf, um sie zu meistern.« Ebd.

29 Van Loon brachte sich neben seinen zahlreichen Überblickswerken (unter anderem: Van Loon, Hendrik Willem: Von Columbus bis Coolidge: Werdegang eines Weltteils. Berlin 1929.) durch pointierte kultur- und zeitkritische Beiträge in die amerikanischen und

»Europa annektiert sich selbst an die Vereinigten Staaten.«30 Dabei begehre doch sogar die intellektuelle Elite in den USA selbst gegen die kulturelle Stdardisierung auf, die der wirtschaftlichen Rationalisierung folge. Unter an-derem wird Sinclair Lewis, erster amerikanischer Literaturnobelpreisträger, als Widerständler genannt.31 Diese »allgemeine Geisteswende«32 gegen die kulturelle Verflachung stehe Deutschland allerdings noch bevor.

Wenn Zeitgenossen der Amerikanisierung, respektive Rationalisierung auch skeptisch begegneten, suchten sie doch stets in der amerikanischen Gegenwart nach Gegenargumenten. Dem amerikanischen Modell positive Beispiele aus Deutschland oder Europa entgegenzustellen, vermochten sie nicht. Das Bild der USA als »Land des Fortschritts«33 war so wirkmächtig, dass selbst zur Formulierung von Kritik darauf zurückgegriffen wurde. Es hatte durchaus Tradition, den USA Zukunftsfähigkeit zuzuschreiben – ein Umstand, der ihnen in Debatten über künftige Entwicklungen stets die Rolle des Paradebeispiels reservierte; ungeachtet dessen, ob diese Entwicklungen Hoffnungen, diffuse Ängste oder beides zugleich weckten.

Jenseits aller Furcht vor einer Amerikanisierung der ökonomischen Kul-tur manifestierte sich die begründete Angst vor einer amerikanischen Über-nahme der realen Wirtschaft durch Kapitalbeteiligungen.34 Amerikanische Investitionen in deutsche Betriebe waren nach Maßgabe des Dawes-Plans ab

europäischen Debatten zu den Auswirkungen kultureller Standardisierung und techni-schen Fortschritts ein. Ders.: Multiplex Man, or the Story of Survival through Invention.

London 1928.

30 Fortsetzung: »[I]n dem Glauben, daß Amerika den Stein der Weisen gefunden hat […].

Die Europäer lesen nur über Ford, Rockefeller, Edison, zusammenklappbare Teetische, Schuhe und Jazzplatten […]. Europa hat unsere schlimmsten Einrichtungen kopiert, die häßliche Stupidität unserer eisernen Zivilisation. Es opfert seine Ursprünglichkeit, um die Kleider zu tragen, um die Schönheit von Unter den Linden in eine Main Street zu verwan-deln und einen Babbitt zum Oberbürgermeister der Rue de la Paix zu erwählen.« Anon.:

Amerikanismus. Ein Spiegel aus der neuen Welt. In: MNN Nr. 259 vom 23.09.1927, 1.

31 »Auch die Bewegung der Jungen, gegen die Standardisierung und Mechanisierung des Menschen Revoltierenden des jungamerikanischen Aktivismus wird in ihrer Tragweite, ihrem sittlichen Ernst und ihrer Stoßkraft vielleicht nicht völlig richtig eingeschätzt. Es ist wohl doch nicht nur das negative des beißenden Spottes und ätzender Gesellschafts satire, mit denen Männer wie Sinclair Lewis und H. L. Mencken sich gegen die herrschende Geis-tesrichtung aufbäumen […].« Ebd.

32 Ebd.

33 Vgl. Depkat: Amerikabilder in politischen Diskursen, 215 f. Nur durch die bereits über ein Jahrhundert andauernde Tradierung des Bildes vom fortschrittlichen Amerika, wie es Depkat für die Zeit des politischen und kulturellen Aufbaus der Vereinigten Staaten beschreibt, ist seine Resilienz im deutschen und europäischen Diskurs zu erklären.

34 Vgl. Wala, Michael: Amerikanisierung und Überfremdungsängste: Amerikanische nologie und Kultur in der Weimarer Republik. In: Ders. / Lehmkuhl, Ursula (Hg.): Tech-nologie und Kultur: Europas Blick auf Amerika vom 18. Bis zum 20. Jahrhundert. Köln 2000, 130 f.

1924 zwingend an Rationalisierungsmaßnahmen gebunden.35 Öffentlichkeits-wirksame Akquisitionen wie die des Autobauers Opel durch General Motors 1929 verquickten diffuse, auch kulturelle Übernahmeängste und die Ratio-nalisierungsdebatte zusätzlich. Die Polyvalenz der Debatte wurde durch die Furcht vor wirtschaftlichem Autonomieverlust um eine Facette erweitert. Sie verkomplizierte das Geflecht aus technologisch-organisatorischem Fortschritt und kultureller Egalisierung, was der Debatte stetig neuen Anschub gab.