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Bilder sowjetischer Juden

I. Einführung

3. Minderheiten: Emanzipation und Modernitätsbruch

3.6 Bilder sowjetischer Juden

Wesentlich vielschichtiger fiel die Darstellung russischer Juden aus. In man-chen Fällen wurden sie in ihrer Eigenschaft als nationale und religiöse Min-derheit, in anderen als integraler Bestandteil der politischen und intellektuel-len Führungsschicht des entstehenden Sowjetstaates figuriert. Diese beiden völlig unterschiedlichen Sichtweisen sind schlichtweg der Heterogenität der von außen als Gruppe wahrgenommenen Juden in der Sowjetunion geschul-det. Die dortige jüdische Bevölkerung als eine in sich geschlossene Gruppe zu denken, negierte die Tatsache, dass sich während und nach der Revolution von 1917 Menschen jüdischen Glaubens an allen Fronten fanden, an denen der russische Bürgerkrieg und die inneren Auseinandersetzungen der an der Revolution beteiligten Gruppierungen ausgefochten wurden.

Es existierten zahlreiche jüdische Verbände, die vollkommen unterschied-liche Ziele verfolgten, sich verfeindeten politischen Lagern zuordneten. Selbst innerhalb jüdischer Verbände lassen sich nur schwer klare Richtungen aus-machen. Zum Beispiel arbeitete im erklärtermaßen zionistisch-marxistischen

»Poale Zion« eine Fraktion an Emigrationsplänen nach Palästina, während die andere mit großem Eifer den Klassenkampf propagierte – vor allem den gegen ihre wohlhabenderen Glaubensgenossen.146 Hinzu kamen jahrzehn-tealte Kontroversen um die Frage, ob die geschlossene Emigration mit

an-Maria: Die deutsche Berichterstattung über die Rußlanddeutschen. »Der Auslandsdeut-sche« 1920–1929. In: Eisfeld, Alfred / Herdt, Victor / Meissner, Boris: Deutsche in Rußland und der Sowjetunion 1914–1941. Berlin 2007, 209 f.

144 Anon.: Bäuerin aus der autonomen Republik der Wolga-Deutschen. In: AIZ, 1927, Nr. 21.

Titel. Und: Anon.: Die deutsche Wolga-Republik. In: AIZ, 1927, Nr. 42, 4 f.

145 Anon.: Neuer Schlag Rußlands gegen das Deutschtum. Enteignung der wolgadeutschen Bauerngüter – ein deutscher Pfarrer nach Sibirien verbannt. In: MNN Nr. 342 vom 16.12.1929, 1. Und: Anon.: Wolga-Bauern. Zu den Massenauswanderungen deutscher Bauern aus Rußland. In: MIP, 1929, Nr. 48, 1626 (Jahresausgabe).

146 Vgl. Solschenizyn, Alexander: »Zweihundert Jahre zusammen«. Die Juden in der Sowjet-union. Bd. 2. München 2003, 46 f. Und: Judt, Tony / Snyder, Timothy: Nachdenken über das 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2015, 89 f.

schließender Staatsgründung, ein jüdischer Staat auf russischem Territorium oder die uneingeschränkte Unterstützung der Bewegung der Bolschewiki den Interessen der Juden Russlands am besten dienten. Derlei Fragen, die sich auch immer an der grundsätzlichen Entscheidung zwischen jüdischer Tradition (religiöser Loyalität) und weltlicher Orientierung (Loyalität gegenüber dem Staat) brachen, zogen tiefe Gräben durch jüdische Verbände und Familien, was vielfach literarisch verarbeitet wurde.147 Kurz, die jüdische Bevölkerung bildete politisch und ideologisch wahrlich keine homogene Gruppe. Gemein war jüdischen Verbänden und Parteien einzig das Ziel kultureller Autonomie und allgemeiner Gleichberechtigung.

Die frühesten Meldungen und Reportagen, die sich mit der jüdischen Bevölkerung in Sowjet-Russland befassten, waren jedoch weit von der Ver-wirklichung solcher Wünsche entfernt. Im größtmöglichen Gegensatz dazu kündeten sie von gewalttätigen antijüdischen Pogromen und Enteignungen, die eine humanitäre Notlage zur Folge hatten.148 Die zwischen 1917 und 1923 eskalierende Gewalt gegen Juden wurde jedoch in den Zusammenhang des Russischen Bürgerkrieges gestellt und damit nicht als primär judenfeindlich betrachtet. Sie wurde von der bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert anhaltenden Gewaltserie gegen Juden getrennt. Erst nachdem der Bürgerkrieg vorüber war, geriet der in Russland historisch verwurzelte Antisemitismus ins Blickfeld, der sich seit den 1880er Jahren immer wieder in Pogromen Bahn

147 Unter anderem Scholem Alejchem in seinem um 1905 spielenden und 1916 vollende-ten Roman »Tewje, der Milchmann«. Vgl. Alejchem, Scholem: Tewje, der Milchmann.

Bremen 2011.

148 »Ich habe schon einmal die furchtbaren Pogrome geschildert, die, wie in Polen, so in der Ukraine stattgefunden haben. Daß die Juden die dort allein Leidenden sind, ist natürlich ausgeschlossen. Wohl aber können die Leiden der Juden einen allgemein gültigen Maß-stab dafür bieten, welche Höhe die Barbarei in jenen Gegenden von neuem erreicht hat, und, was den Juden dort widerfahren, ist ein beachtenswertes Symptom für die Zustände in dem riesigen russischen Reich, wo Verarmung, Verbrechen und politische Leiden-schaft, Unverstand, Raserei, augenscheinlich allerorten, hier vereinzelt, dort gehäuft, wahnsinnige Orgien feiern […]. In der erwähnten kurzen Uebersicht heißt es: ›Während die Pogrome der ersten Periode – seit Oktober 1918 – hauptsächlich auf Plünderungen des Eigentums gerichtet waren, war die nächste Welle wie ein gewaltiger Orkan, welcher kleinere und größere Städte mit jüdischen Bewohnern vollkommen hinwegraffte.‹ Und eine andere Stelle des Berichts lautet: ›Die jüdische Bevölkerung in der überwiegenden Mehrzahl der kleineren und größeren Städte, in den Gouvernements Wolhynien, Podo-lien, Kiew und Teilen von Cherkow verlor all ihr Hab und Gut: Kleidung, Schuhe, Wäsche und Gegenstände des täglichen Bedarfs. Aus den Geschäften und auch bei den Höfern wurden alle Waren weggenommen. Die Handwerker sind all ihrer Maschinen und Werk-zeuge beraubt; die Produktion ist zerstört. Die von Pogromen heimgesuchte Bevölkerung erlag außer der allgemeinen seelischen Depression dem Einfluß epidemischer Krankhei-ten.‹« Nathan, P.: Die Verantwortung der Sieger – Zu den Pogromen in Südrußland. In:

BTB Nr. 87 vom 17.02.1920, 1 f.

gebrochen hatte.149 Vom ILB wurden solche Ereignisse dankbar aufgegriffen, um die eigene antijüdische Agitation in einen Legitimationszusammenhang jenseits nationaler und ideologischer Grenzen zu stellen.150

In seiner Artikelserie »Reise in Rußland«, erschienen 1926 in der Frankfur-ter Zeitung, schildert der LiFrankfur-terat Joseph Roth, selbst gebürtiger Jude aus Gali-zien, nicht nur Reiseeindrücke. Er versucht, seinen Lesern die politische Reali-tät näherzubringen, die sich durch die Machtkonsolidierung der Bolschewiki und die Umsetzung ihrer ideologischen Ziele ergeben habe.151 In einer Folge seiner 17-teiligen Berichtsreihe widmet er sich den russischen Juden. Roth schickt eine Charakterisierung der vorrevolutionären Formen des gewalt-tätigen Antisemitismus in Russland voraus,152 bevor er sich mit der Situation der Juden als nunmehr staatlich anerkannter nationaler Minderheit befasst:

»Heute ist Sowjetrußland das einzige Land in Europa, in dem der Antisemitismus verpönt ist, wenn er auch nicht aufgehört hat […]. Als Volk haben sie alle Rechte einer

›nationalen Minderheit‹. Die Geschichte der Juden kennt kein Beispiel einer so plötz-lichen und einer so vollkommenen Befreiung.«153

Er geht auch auf den Zielkonflikt zwischen der jüdischen Emanzipation inner-halb der Sowjetunion und zionistischen Vorstellungen ein, der in jüdischen Verbänden für scharfe Debatten sorgte.154 Roth hebt die zunehmende kultu-relle Autonomie hervor, die er an neu entstehenden jüdischen Schulen und religiösen Ausbildungsstätten zu belegen versucht und sieht in einer nunmehr offiziell anerkannten jüdischen Gerichtsbarkeit auch die innere Autonomie der Juden verwirklich.155 Die überproportionale Präsenz jüdischer Sowjet-bürger in der kommunistischen Partei und im Hochschulwesen erachtet er als Voraussetzung dafür, dass Menschen jüdischen Glaubens sich im neuen Staat etablieren und die noch im Zarenreich praktizierte Abgrenzung zur Mehrheitsbevölkerung dauerhaft überwinden könnten. Das Ziel, die Juden als

149 Vgl. Klier, John: Russians, Jews, and the Pogrom Crisis of 1881–1882. Cambridge u. a.

2011, 17 f.

150 Unter anderem: Anon.: Antisemitismus in Sowjet-Rußland. In: ILB, 1928, Nr. 32, 399 (Jahresausgabe).

151 Vgl. Magallanes, Fernando: Reiseliteratur am Beispiel Joseph Roths. In: Miladinovic Za-laznik, Mira / Lughofer, Johann Georg (Hg.): Joseph Roth: Europäisch-jüdischer Schrift-steller und österreichischer Universalist. Berlin u. a. 2011, 119 f.

152 »Man war nicht etwa bestrebt, sie (die Juden) durch Vergewaltigung zu assimilieren. Man war bestrebt, sie abzugrenzen. Die Mittel, die man gegen sie anwandte, sahen so aus, als wollte man sie vertilgen.« Roth, Joseph: Reise in Rußland – IX. Die Lage der Juden in So-wjetrußland. In: FZT Nr. 835 vom 09.11.1926, 1 f.

153 Ebd.

154 »Die Juden sind vollkommen freie Bürger – mag ihre Freiheit auch noch nicht die Lösung der jüdischen Frage bedeuten.« Ebd.

155 Vgl. ebd.

geschlossene nationale Minderheit (im Sinne der Bolschewiki) vollständig in die sowjetische Gesellschaftsordnung zu integrieren, hält der Autor jedoch an-gesichts des traditionellen Deutungskonfliktes über die Natur der kulturellen Zusammengehörigkeit der Juden für unerreichbar:

»Die alte, die wichtigste Frage stellt die Revolution überhaupt nicht: ob die Juden eine Nation sind wie jede andere, ob sie nicht weniger oder mehr sind, ob sie eine Religi-onsgemeinschaft, eine Stammesgemeinschaft, oder ›nur‹ eine geistige Einheit sind, ob es möglich ist, ein Volk, das sich durch die Jahrtausende nur durch seine Religion und die Ausnahmestellung in Europa erhalten hat, unabhängig von seiner Religion als ›Volk‹ zu betrachten, ob in diesem Fall eine Trennung von Kirche und Nationalität möglich ist, ob es möglich ist, aus Menschen mit ererbten geistigen Interessen Bauern zu machen, aus stark geprägten Individualitäten Individuen mit Massenpsychologie.«156 Joseph Roth scheint der Individualismus sowjetischer Juden mit den Erforder-nissen bolschewistischer Massenorganisationen unvereinbar. Der jüdischen Befreiung durch die neue Ordnung bescheinigt er geringe Erfolgsaussichten.

Namentlich der politische Zionismus mache ein Aufgehen in einem sozialis-tischen Nationalstaat unmöglich, da er es durch den immanenten Rückgriff auf religiös-kulturelle Selbstabgrenzung ausschließe. Die Juden der Sowjet-union seien »ein Volk mit […] alten Talenten und neuer Nationalkultur. Der Zionismus wollte Tradition und neuzeitliches [sic] Kompromiß.«157 Dieser Kompromiss hätte bedeutet, die Gründung eines jüdischen Staates mit einer auf jüdischer Tradition fußenden Ordnung mit der neuen sowjetischen Na-tionalkultur und deren Loyalitätsanspruch zu vereinen – die Quadratur des Kreises. Roth zufolge sind Bolschewismus und Zionismus als Alternativen zu begreifen, die sich gegenseitig ausschließen. Eingedenk der weiteren Karriere des politischen Zionismus, die in der Staatsgründung Israels gipfelte, lag Roth mit dieser Einschätzung übrigens ziemlich richtig.158

156 Ebd.

157 Ebd.

158 Nicht zuletzt auf Grund strategischer Vorteile im sich abzeichnenden Kalten Krieg war die britische Mandatsmacht im Nachgang des Zweiten Weltkriegs rasch bereit, einen demokratischen, auf religiös-kulturellen Grundlagen fußenden Rumpfstaat Israel zu unterstützen. Außerdem entwickelte der Zionismus während der Gründungsphase starke antikommunistische Tendenzen, während sich in der UdSSR das auch maßgeb-lich von jüdischen Sowjetbürgern getragene »Antizionistische Komitee« formierte. Es war keineswegs die Religionszugehörigkeit, sondern vielmehr die politisch-ideologische Verortung, entlang derer sich Oppositionen definierten. Diese Aufteilung stellt kein spe-zifisch russisches Phänomen dar. Auch in Deutschland und Großbritannien, später auch in den USA teilte sich die organisierte jüdische Glaubensgemeinschaft in Zionisten und liberale Antizionisten auf. Letztere erklärten die Etablierung und Verwurzelung in ihren jeweiligen Heimatländern zum gemeinsamen Ziel. Vgl. Grill, Tobias: Antizionistische

Dass sich entgegen der programmatischen Zielsetzung der Bolschewiki die antisemitische Gewalt im konsolidierten Sowjetstaat unvermindert fortsetzte, zerschlug auch die von Roth dahingehend geäußerte Hoffnung. Zwar wird im entsprechenden FZT-Artikel mit dem apologetischen Verweis auf die geringe rechtsstaatliche Durchdringung der Sowjetunion das antisemitische Moment relativiert – wie schon im Kontext des russischen Bürgerkrieges.159 Doch wird nun den kommunistischen Autoritäten vor Ort explizit vorgeworfen, den andauernden Ausschreitungen gegen Juden in ihrem Zuständigkeitsbereich gleichgültig bis wohlwollend gegenüberzustehen.160

Die Betrachtung der Juden als Minderheit auf der Suche nach ihrem Platz in der neuen politischen Ordnung war nicht der einzige Blickwinkel, der in der Weimarer Presse auf jüdisches Leben und Wirken in der UdSSR einge-nommen wurde. Sowohl im revolutionären Russland selbst als auch im Rest Europas stand dem noch die verbreitete Wahrnehmung von Juden als heim-lichen Drahtziehern der Revolution und Gründungsvätern des Bolschewismus entgegen. Dies führte nicht nur zur Ermordung Zehntausender Juden durch Truppen der »Weißen« während des Bürgerkriegs,161 sondern fand auch pro-minenten Eingang in das deutsche Bild sowjetischer Juden.

Die zentrale Rolle von Juden in der SDAPR (B)162 und KPR (B)163 lieferte derartigen Narrativen Nahrung. In der NS-Presse steigerten sich notorischer Antisemitismus und Antikommunismus zur Manie vom

Judäo-Bolschewis-jüdische Bewegungen. In: Europäische Geschichte Online (EGO), herausgegeben vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2011. URL: http://www.ieg-ego.eu/

grillt-2011-de. (am 28.02.2015), 15 f.

159 Vgl. Anon.: Die antisemitischen Ausschreitungen in Sowjetrußland. In: FZT Nr. 907 vom 04.12.1928, 2.

160 »Dabei wird immer wieder hervorgehoben, daß die untersten Sowjetorgane im Dorf und in manchen Fällen sogar die kommunistischen Organisationen sich völlig gleichgültig verhalten und gegen die Schuldigen an der gegen die Juden betriebenen Hetze weder vor-gehen noch die erforderliche ›aufklärende Tätigkeit‹ unter den breiten Massen ausüben.«

161 Vgl. Ebd.Gerrits, André: The Myth of Jewish Communism. A Historical Interpretation. Brüs-sel 2009, 15 f.

162 Während der Revolutionsphase saßen mit Trotzki, Sinowjew und Sokolnikow drei, wenn man Kamenew, der einen jüdischen Vater hatte, hinzunimmt, vier jüdische Mitglieder in der siebenköpfigen Parteiführung der SDAPR(B). Vgl. ebd., 120.

163 Repräsentative Zahlen dazu weisen für die Mitglieder des Zentralkomitees des Sow-jetkongresses für das Jahr 1929 in toto 402 Russen, 95 Ukrainer, 55 Juden, 26 Letten, 13 Polen und 12 Deutsche aus, was in der Tat eine Überrepräsentation von Personen jüdischen Glaubens gemessen an der Gesamtbevölkerung darstellt. In den unteren Glie-derungen der Sowjets in großen und mittleren Städten zeigte sich im Gegensatz zu den ländlichen Gebieten ebenfalls eine Überrepräsentation jüdischer Ratsmitglieder, wenn diese auch von geringem Einfluss auf die großen Linien sowjetischer Politik gewesen sein dürften. Vgl. Pinkus, Benjamin: The Jews of the Soviet Union. The History of a National Minority. New York u. a. 1990, 80 f.

mus. In diesem auch in Mittel- und Osteuropa verbreiteten Denkmuster verschmolz die latente Angst vor einem bolschewistischen Umsturz mit der Obsession einer vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung. Sein Mobili-sierungspotential bezog dieses Konstrukt aus europaweit verbreiteten anti-jüdischen Vorurteilen. In Kombination mit der Bolschewistenangst der Zwi-schenkriegszeit entfaltete es unheilvolle politische Tragkraft: Die Vorstellung von der »jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung« hatte gewichtigen Anteil an Hitlers Weltanschauung und damit am Menschheitsverbrechen des Holocaust.

Der direkte Weg, den Bolschewismus zum Famulus jüdischer »Weltver-schwörer« zu stilisieren, führte über die jüdischstämmigen

Abb. 13: Anon.: Moderne Diktatoren. Studie. Bilder von Ferdi-nand Bruger. In: ILB, 1927, Nr. 10, 143. Leo Trotzki, alias »Trotz-ky-Braunstein«, wurde in der NS-Presse durch überzeichnete Gesichtsphysiognomie zum Symbol für das Konstrukt des »Ju-däo-Bolschewismus«.

ren der KPdSU. Mittels Nennung des vollen Namens und physiognomische Stereotypisierung wurde die Untrennbarkeit der politischen Bewegung des Bolschewismus von seinen vermeintlich ausnahmslos jüdischen Führungs-persönlichkeiten zur Tatsache erklärt. Besonders der Geburtsname Leo Trotz-kis, Lev Davidovič Bronštejn, geschrieben als »Leo Trotzky-Braunstein« oder

»Bronstein« war als jüdisch erkennbar und wurde ostentativ verwendet. Im ILB erschien Trotzki als fleischgewordene Allianz zwischen Judentum und Bolschewismus. Die Darstellung Trotzkis, die in der völkischen Presse oft reproduziert wurde, ist ein Paradebeispiel dafür, wie durch die Betonung

»jüdischer« Gesichtszüge und die Nennung des jüdischen Namens die »jü-disch-bolschewistische Bedrohung« topisch verdichtet wurde (Abb. 13).

Ähnlich wurde in Überschriften,164 Bildunterschriften165 und ganzen Tex-ten166 verfahren. Aber nicht nur das aktuelle Personal wurde zur Bestätigung des Schauermärchens vom Judäo-Bolschewismus genutzt. Auch in die un-mittelbare Revolutionszeit wurden Umtriebe konjurierender jüdischer Revo-lutionäre eingeschrieben. So wurde die Brutalität, mit der die Ermordung von Zar Nikolaus II. und dessen Familie erfolgt war, im ILB mit einer Racheaktion gegen den »Antisemiten Zar Nikolaus II.«167 erklärt. Ganz so, als habe es dafür außer dem Antagonismus zwischen jüdischen Revolutionären und dem an-geblich antisemitischen Zaren keinerlei weitere Motive seitens der Bolschewiki gegeben.

Der emanzipatorische Schwung der Revolution (mindestens in ideologi-scher Hinsicht) fiel mit dem Aufblühen von Bewegungen wie Zionisten und Antizionisten aus der Mitte der jüdischen Gemeinden zusammen. Berichte über diese Entwicklungen bildeten emanzipatorische Narrative ab, wie man sie auch aus anderen soziopolitischen Kontexten der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg kennt. Juden in der Sowjetunion nahmen als Gegenstand der öf-fentlichen deutschen Wahrnehmung eine Position ein, die sich weder in ihrer Betrachtung als religiöse Minderheit noch in ihrer vermeintlich führenden Rolle in der Errichtung des Sowjetsystems fest verorten lässt. Aufgrund der Klassenorientierung der Bolschewiki eine Aufhebung der alten, an nationale und kulturelle Zugehörigkeiten gebundenen Beharrungskräfte anzunehmen

164 Unter anderem: Anon.: 10 Jahre Sowjet-Juden Diktatur. In: ILB, 1927, Nr. 20, 288 (Jahresaus-gabe). Und: Anon.: Mord-Poesie aus Sowjet-Judäa. In: ILB, 1928, Nr. 6, 78 (Jahres aus(Jahresaus-gabe).

165 Neben Trotzki wurde auch ein Portrait Sinowjews auf ähnliche Weise (»Sinowjew-Ap-felbaum«) untertitelt, wodurch die angeblich weitgehende »jüdische Durchsetzung« aller Gliederungen des sowjetischen Staates bekräftigt wurde. Unter dem Foto einer Parade der Roten Armee steht ergänzend: »Eine Parade vor Braunstein. Neben ihm ein richtiger Tscheka-Jude.« Ebd.

166 Unter anderem: Anon.: Die Sowjet-Brüder in Genf. In: ILB, 1927, Nr. 23, 323 (Jahres ausgabe).

167 Anon.: Der Bolschewistenmord an dem Antisemiten Zar Nikolaus II. und seiner Familie.

In: ILB, 1928, Nr. 16, 194 (Jahresausgabe).

und die Revolution von 1917 so zum Akt der Befreiung der Juden in der Sow-jetunion zu erklären, bleibt damals wie heute in der Zukunftsvision des real existierenden Sozialismus gefangen.168

Die Betrachtung des »Nationalitätenproblems« in der Sowjetunion war zu allererst von den Erwartungen gelenkt, die durch die Programmatik der Bol-schewiki geweckt worden waren. Die teilweise Umsetzung emanzipatorischer Maßnahmen »von oben«, also durch die sowjetische Führung müssen aus heu-tiger Sicht, spätestens seit der Machtübernahme Stalins, als Makulatur ange-sehen werden. Von Lenin eingeleitete Schritte zur Beendigung der kulturellen Hegemonialpolitik zaristischer Prägung und die Versuche, durch die Gleich-behandlung von Minderheitensprachen und Religionsfreiheit Autonomie und Teilhabe für die jüdische Bevölkerung, die deutsche Minderheit, aber auch die Muslime im Kaukasus oder die verschiedenen Ethnien Zentralasiens zu schaf-fen, wurden während der Konsolidierungsphase ab Mitte der 1920er Jahre der Integrität und Stabilität des neuen Staates geopfert. Die Berichterstattung in Deutschland reflektierte diese Entwicklungen mit einiger Verzögerung.

Zum Ende des Beobachtungszeitraums wurde der immer deutlicher werdende Widerspruch zwischen programmatisch angestrebter Autonomie und einer sowjetischen Staatsräson der Einheit von einzelnen Beiträgern bemerkt. Noch wollte man sich aber nicht gänzlich von der Wertschätzung der mittlerweile zu bloßen Symbolhandlungen degradierten Emanzipationsmaßnahmen der Zeit zwischen 1917 und 1926 verabschieden. Hans Kohn lobte noch 1931 die sprachpolitischen Maßnahmen, die an jedem Grenzübergang zur Sowjetunion sichtbar seien:

»Alle Aufschriften und Verlautbarungen erscheinen in vier Sprachen, weißrussisch, russisch, jiddisch und polnisch. Das hervorstechendste Moment nationaler Unter-drückung, die Verdrängung oder Minderberechtigung der nationalen Sprachen, fehlt hier, völlig verschieden von dem, was man von Polen oder Tschechoslowakei her gewöhnt ist.«169

Sprachpolitische Maßnahmen wie diese symbolisierten laut Kohn die Be-endigung der Kulturhegemonie der Mehrheitsrussen. Allerdings war es für Lenin und die Bolschewiki kein Selbstzweck, die gewaltsam homogenisierte

168 So schrieb Ezra Mendelsohn: »It can be argued, too, that the neighboring Soviet Union was a much more friendly place for the Jews than were most of the new East European states. In the Soviet Union the dominant ideology was based on class rather than na-tion, the old conservative (and anti-Semitic) elites had been destroyed, and economic dynamism was beginning to transform a typically backward East European state into a modern, industrialized colossus.« Mendelsohn, Ezra: The Jews of East Central Europe between the World Wars. Bloomington, VA 1995, 6.

169 Kohn, Hans: Die Sowjetunion und ihr Nationalitätenproblem. In: FZT Nr. 869 vom 22.11.1931, 1 f.

ethnische Topografie des Russischen Reiches aufzubrechen und den verschie-denen Minderheiten zu politischer Teilhabe zu verhelfen. Die Anerkennung der kulturellen Vielfalt stellte vielmehr die Voraussetzung dafür dar, diese Di-versität anstatt unter einer Nationalkultur unter einer Ideologie zu vereinigen.

Die Möglichkeit, diesen neuen Herrschaftsraum als geschlossene ethnische Gruppe zu verlassen, wäre zwar aus der offiziellen Minderheiten- und Na-tionalitätenprogrammatik der Bolschewiki logisch gefolgt, wie auch Kohn bemerkte.170 Dies spielte aber in den realpolitischen Entscheidungen Lenins

Die Möglichkeit, diesen neuen Herrschaftsraum als geschlossene ethnische Gruppe zu verlassen, wäre zwar aus der offiziellen Minderheiten- und Na-tionalitätenprogrammatik der Bolschewiki logisch gefolgt, wie auch Kohn bemerkte.170 Dies spielte aber in den realpolitischen Entscheidungen Lenins