• Keine Ergebnisse gefunden

Zum Verständnis von Gender-Ungleichheiten im sozialstrukturellen Kontext

Im Dokument Ruth Abramowski Das bisschen Haushalt (Seite 89-92)

Nehmen wir an, es gäbe ein Paar XY; die Frau verfüge über einen höheren Bildungsabschluss als ihr Partner, bis zur Geburt des ersten Kindes auch über ein höheres Einkommen, beide teilen egalitäre Einstellungen und vollziehen eine partnerschaftliche Arbeitsteilung. Nach der Geburt des ersten Kindes würde das Paar gerne die egalitäre Arbeitsteilung weiterführen, doch gäbe es staatliche Regulierungen, die es Müttern bis zu einem Alter des Kindes von sieben Jahren erschweren würden, wieder erwerbstätig zu werden. So wäre die Auswahl an Handlungsmöglichkeiten, d. h. der Handlungsspielraum des Paares durch vorherrschende Normen drastisch eingeschränkt.

Dieses Beispiel ist zwar hypothetisch, soll jedoch verdeutlichen, dass mikrosoziologische Argumentationen wissenschaftlich sehr wertvoll sind, aber ausschließlich eine Teilerklärung liefern können. Nicht nur die Fähigkei-ten und Ressourcenkonstellationen einzelner Personen, sondern auch die Entscheidungsfreiheit, aus einer Anzahl an Möglichkeiten diejenige auszu-wählen, die Person X als subjektiv beste Handlungsalternative erachtet (Handlungsspielraum), gilt es für soziologische Erklärungen zu berücksichti-gen. Um Genderungleichheiten adäquater messen zu können, ist nicht nur die Handlungsalternative, die eine Person letztlich wählt, auch die Handlungsal-ternative, die sie gerne wählen würde, ist mitzudenken.

Ferner gilt es, den makrosoziologischen Handlungsrahmen (respektive die

„“harten“ sozialen Bedingungen“) zu berücksichtigen, der sich unter dem Deckmantel ‚sozialer Ungleichheiten‘ formiert (Kreckel 1993: 57).

Soziale Ungleichheit ist dort gegeben,

„[…] wo die Möglichkeit des Zugangs zu allgemein verfügbaren und erstrebens-werten sozialen Gütern und/oder zu sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht- und/oder Interaktionsmöglichkeiten ausgestattet sind, dauerhafte Ein-schränkungen erfahren und dadurch die Lebenschancen der betroffenen Individu-en, Gruppen oder Gesellschaften beeinträchtigt bzw. begünstigt werden“ (Kre-ckel 2004: 17).

Soziale Ungleichheiten begrenzen den Handlungsrahmen – in der Definition von Kreckel als Möglichkeit des Zugangs, weiterführend als Einschränkung der Lebenschancen bezeichnet – zu sozialen Gütern und/oder sozialen Positi-onen. An dieser Stelle wird deutlich, dass Kreckels Definition aus makroso-ziologischer Perspektive erfolgt, weil die Handlungsmöglichkeiten von Akt-euren „einer strukturellen Argumentation untergeordnet werden“ (Kreckel 1993: 57). Doch schließt Kreckel die Erklärungsleistung sozialpsychologi-scher und sozialtheoretisozialpsychologi-scher Argumente nicht grundsätzlich aus, jedoch ordnet er sie strukturellen Bedingungen unter, worin für ihn die Begründung

liegt, sie außer Acht zu lassen (vgl. Kreckel 1993: 57). Die geschlechtsspezi-fische Trennung zwischen Reproduktions- und Produktionssphäre sieht Kre-ckel (im Durkheimschen Sinne) als historische Strukturtatsache und Folge des modernen Kapitalismus (vgl. Kreckel 1993: 57). „Das Alltagsleben der Menschen spielt sich in der Polarität zwischen privater Haushaltsführung und kapitalistisch oder bürokratisch organisierter Erwerbstätigkeit ab“ (Kreckel 1993: 57). In Folge von Modernisierungsprozessen, einer Angleichung von Bildungschancen zwischen den Geschlechtern und einer, durch die Tertiari-sierung hervorgebrachten, zunehmenden Integration von Frauen in die Er-werbstätigkeit (trotz Arbeitsmarksegregation) entsteht eine „doppelte Verge-sellschaftung“. Das Konzept der „doppelten Vergesellschaftung“ wird zu Recht von Kreckel durch seine Kritik an Regina Becker-Schmidt (1987) – die

„doppelte Vergesellschaftung“ von Arbeitskraft zwischen Familien- und Berufsorientierung nicht nur auf den weiblichen Teil der Bevölkerung zu beziehen, sondern auf alle Gesellschaftsmitglieder – modifiziert (vgl. Kreckel 1993: 58). „Die “doppelte Vergesellschaftung“ gilt in der bürokratisch-kapitalistischen Gesellschaft für beide Geschlechter“ (Kreckel 1993: 58, Hervorhebungen im Original; die Verf.). Dennoch ist zu erwarten, dass ins-besondere Frauen von den Folgen der „doppelten Vergesellschaftung“ betrof-fen sind,

„[…] weil man […] davon ausgehen muß [sic!], daß [sic!“] das strukturell be-dingte Machtgefälle zwischen Produktions- und Reproduktionssphäre solange fortbesteht, wie marktwirtschaftliche Verhältnisse herrschen“ (Kreckel 1993: 61).

Die explizite Betonung eines unabdingbaren Wechselwirkungsverhältnisses von Makro- und Mikrokosmos wird im Gegensatz zu Kreckel nachfolgend durch die Argumentation von Sen hervorgehoben. Sens Capability Approach stellt die Rahmentheorie der vorliegenden Arbeit dar. Zuvor steht noch eine Begriffsklärung von Gender-Ungleichheiten aus: Gender-Ungleichheiten sind als eine spezifische Form sozialer Ungleichheiten zu verstehen, die beinhal-ten, wie die Zugangsmöglichkeiten zu verschiedenen Bereichen (Bildung, Arbeitsmarkt etc.) zwischen den Geschlechtern variieren (vgl. Plantenga et al. 2009: 22; Arpino et al. 2015: 2). Ferner können Genderungleichheiten als ein Mangel an Verwirklichungschancen verstanden werden. Zu betonen ist das Kreckel-Argument eines übergeordneten Bezugsrahmens:

„Wenn man also davon ausgehen muss, dass lokale, regionale, nationale und in-ternationale Ungleichheitsverhältnisse einerseits eng miteinander verbunden, an-dererseits durch politische Grenzziehungen voneinander getrennt sind, so bedeu-tet dies, dass ihre sozialwissenschaftliche Erforschung unter einem „gemeinsa-men begrifflichen Dach“ stattfinden muss, also: innerhalb eines übergreifenden konzeptionellen Bezugsrahmens“ – für Kreckel das Dach der globalen Ungleich-heit (Kreckel 2006: 5, Hervorhebungen im Original; die Verf.).

In der vorliegenden Dissertation wird keineswegs der Versuch angestrebt, eine „globale Welttheorie“ zu entwerfen, doch zumindest wird ein überge-ordneter theoretischer Bezugsrahmen im europäischen Kontext entwickelt, ohne kulturspezifische Detailinformationen zu vernachlässigen. Auch Kre-ckels Forderung zur Verpflichtung der Soziologie sozialer Ungleichheit „[…]

ihre Forschungen als Mehrebenen-Analysen anzulegen, die nicht an nationa-len (und auch nicht an Schengener) Grenzen halt machen“ wird nachgegan-gen (Kreckel 2006: 32). Dies zeigt sich in einem nationenübergreifenden theoretischen Rahmen, wobei die Detailinformationen durch die Analyseein-heiten von NUTS1-Regionen abgebildet werden. Es gilt, und hier argumen-tiert Kreckel überzeugend, den „methodologischen Nationalismus42“ bzw.

das „nationalstaatliche Containermodell“ zu überwinden. Auch „Amartya Sen [weist] die für die neuere Ungleichheitsforschung sehr einflussreiche Gerechtigkeitstheorie von John Rawls in ihre Schranken, indem er ihr „natio-nalen Partikularismus“ attestiert“ (Kreckel 2006: 6).

42 „Lange Zeit unterstellte die Gesellschaftstheorie als ihre Untersuchungseinheit den Natio-nalstaat; die Begriffe „Gesellschaft" und „Kultur" bezogen sich unreflektiert auf das, was man als abgegrenzte, unabhängige und relativ homogene Einheiten wahrnahm, die sich durch nationale Grenzen, Institutionen und Gesetze konstituierten. Dementsprechend ging das theoretische Nachdenken von der unhinterfragten Annahme aus, dass sich Nation, Ter-ritorium, Gesellschaft und Kultur nahtlos ineinander fügen“ (Beck/Grande 2010: 189).

Beck/Grande plädieren folglich für eine Überwindung des methodologischen Nationalis-mus durch eine „kosmopolitische Wende“, deren Kern sich folgendermaßen auszeichnet:

„In der Zweiten Moderne muss die soziologische und politikwissenschaftliche Theoriebil-dung die ganze „Pluralität“ der Modernisierungspfade durchschreiten, die westlichen und nicht-westlichen Erfahrungen und Perspektiven mitsamt ihren Dependenzen, Interdepen-denzen und Interaktionen einbeziehen. […] [Es handelt sich um] einen Ansatz, der die Va-riationen der Moderne und ihre globalen Interdependenzen als Ausgangspunkt theoretischer Überlegungen und empirischer Forschung nimmt“ (Beck/ Grande 2010: 190).

4. Ein multidimensionaler Ansatz:

Der Capability Approach nach Amartya K. Sen

„Freiheit – Gleichheit – Gerechtigkeit?“

4.1. Einführung zur Ausgangsproblematik einer

Im Dokument Ruth Abramowski Das bisschen Haushalt (Seite 89-92)