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Ein Anwendungsbeispiel des Capability Approachs zur Work-Life-Balance

Im Dokument Ruth Abramowski Das bisschen Haushalt (Seite 122-125)

ressourcenorientierten Messung sozialer Ungleichheiten

4.7. Ein Anwendungsbeispiel des Capability Approachs zur Work-Life-Balance

Hobson (2011) überträgt den Capability-Ansatz von Sen auf die Diskrepanz zwischen Einstellungen und Verhaltensweisen bezüglich der Work-Life-Balance, deren Ambivalenz sie mittels des „agency-gaps“ zu erklären ver-sucht („agency achievement“ bedeutet nach Sen (1992) das für Handlungs-möglichkeiten zur Verfügung stehende, realisierte individuelle Bündel an Functionings respektive die Realisierung individueller Ziele, unabhängig davon, ob diese zum well-being62 beitragen. Ferner ist agency als Handlungs-fähigkeit zu verstehen63).

62 Sens pluralistisches Konzept des well-beings wird im folgenden Zitat deutlich: „There are many fundamentally different ways of seeing the quality of living, and quite a few of them have some immediate plausibility. You could be well off, without being well. You could be well, without being able to lead the life you wanted. You could have got the life you want-ed, without being happy. You could be happy, without having much freedom. You could have a good deal of freedom, without achieving much. We can go on“ (Sen 1987: 1).

63 „A person’s agency achievement refers to the realization of goals and values she has rea-sons to pursue, whether or not they are connected with her own well-being“ (Sen 1992: 56).

Agency gap: „New rights and policies for WLB have emerged at the European and national levels – including rights to reduce hours, entitlements to care leaves, and flexibility in working times and workplace. However, there is a gap in the capabilities of individual parents to exercise these rights and utilize these options.

The extent of this “agency gap” is dependent on how these entitlements are em-bedded in different national policy frameworks, mediated through firms/ work-places, and translated into individual lives and households“ (Hobson 2011: 148).

Ihrer Argumentation folgend besteht das agency gap zwischen den Policies und den Möglichkeiten von Individuen, diese zu nutzen bzw. in einer fehlen-den Umsetzung politischer Rechte, aufgrund von individuellen, sozietalen und institutionellen Hürden. Capabilities werden auf „[…] the agency free-dom to achive a WLB [Work-Life-Balance]“ übertragen (Hobson 2011: 149).

Ferner werden Sens Kategorien des Capability Sets (individual, environmen-tal und socieenvironmen-tal factors) zu individual, socieenvironmen-tal und institutional factors modi-fiziert und bilden nach Hobsons Konzept das Capability Set der Work-Life-Balance im Europäischen Kontext (vgl. Hobson 2011: 157). Auf diese Diffe-renzierung wird im Rahmen der Konzeptualisierung der Typologie von Machtverhältnissen zurückgegriffen, um die Barrieren einer „agency free-dom“ – einen Pluralismus innerhäuslicher Arbeitsteilungsarrangements zu erreichen – herzuleiten. Anders formuliert werden die „agency inequalities“

einer nach wie vor traditionell dominierten innerhäuslichen Arbeitsteilung analysiert. Ein erster Bezug kann zwischen den mikrosoziologischen Theo-rieansätzen und den Indizes zur Messung von Genderungleichheiten her-gestellt werden: insofern als individual factors nach Hobson (2011) überwie-gend individuelle Aspekte der symmetrischen ökonomischen Theorien impli-zieren (u. a. Humankapital, Einkommen, aber auch Gender, Alter), societal factors mittels der Fokussierung auf Normen an asymmetrische Theorien erinnern (Normen, die über Bezugsgruppen, Medien/öffentliche Diskurse und soziale Bewegungen/Mobilisierungen entstehen) und letztlich institutional factors (Policy Level: u. a. (soziale) Rechte, Dienstleistungen der (Kinder-)Betreuung) auf einer makrosoziologischen Argumentation beruhen, die vorwiegend für die Konzeption von Genderungleichheitsindizes von Bedeu-tung ist. Vornehmlich ist die Verknüpfung, dass individuelle und sozietale Faktoren in einen institutionellen Rahmen eingebettet sind, wesentlich (vgl.

Hobson 2011: 159). Erste Faktoren einer Differenzierung zwischen Function-ings und Capabilities, die aus der bisherigen Argumentation abgeleitet wer-den können, sind beispielhaft in Tabelle 5 dargestellt.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Sen an den etablierten Gerechtig-keitstheorien eine Utopie des transzendentalen Institutionalismus kritisiert.

Fragen der Gerechtigkeit sollten statt auf gerechte Institutionen auf die Ein-schätzung sozialer Verwirklichung bezogen werden. Darüber hinaus sieht er eine Stärkung von Gerechtigkeitstheorien in vergleichenden Erwägungen anstelle eines unmöglichen Versuchs, vollkommen gerechte Regelungen fest-

Tabelle 5: Faktorenbeispiele für Functionings und Capabilities Erreichte Functionings Capabilities

Erreichter Bildungsstand Bildungszugang Ausgeübter Beruf, erzieltes

Einkommen Zugang zum Arbeitsmarkt

Kinder Freie Entscheidung zur

Reproduktion:

Freiheit zur Realisierung/ zur Nicht-Realisierung des Kinderwunsches Verwirklichte Einstellungen Recht auf Meinungsfreiheit Quelle: Eigene Darstellung.

zulegen (vgl. Sen 2010a: 437f.). Der Capability-Ansatz verbindet zwei we-sentliche Aspekte für die Erklärung sozialer Ungleichheiten miteinander:

erstens Functionings (Funktionsweisen), die sich auf das Ergebnis einer spe-zifischen erreichten Handlung beziehen und zweitens Capabilities (Befähi-gungen), die die Freiheit der Handlungsmöglichkeiten implizieren. Fraglich ist, warum die Berücksichtigung von Teilhabechancen im Kontext von Gen-derungleichheiten ein zentraler Aspekt ist, den es zu berücksichtigen gilt? Zur Verdeutlichung der Relevanz erfolgt ein weiteres Beispiel:

Wird die Erwerbslosigkeit zweier Mütter miteinander verglichen, ist die Mutter, die sich freiwillig dazu entschieden hat, erwerbslos zu sein, um sich der Kinderbetreuung zu widmen, ebenso ein ‚Opfer‘ der Erwerbslosigkeit, wie eine, der es gesetzlich untersagt ist, erwerbstätig zu sein. Die Erwerbslo-sigkeit ist in beiden Fällen eine in die Tat umgesetzte Funktionsweise, doch gibt es einen relevanten Unterschied zwischen den Fällen: während die erste Mutter freiwillig aufgrund ihrer Präferenzen die Handlungsalternative der Erwerbslosigkeit gewählt hat, ist die zweite Mutter insofern benachteiligt, als ihr keine Wahlmöglichkeit zur Verfügung stand; unfreiwillig musste sie ihre Rolle einnehmen (andernfalls wäre sie negativen Sanktionen ausgesetzt). Ob erreichte Functionings das Ergebnis einer individuellen Wahl darstellen oder auf einen Mangel an Verwirklichungschancen zurückzuführen sind, ist folg-lich ein zentrales Kriterium für die Bewertung von Gleich- bzw. Ungleichhei-ten von Functionings. Würde nur die genutzte Funktionsweise der Erwerbslo-sigkeit gemessen, wäre kein Unterschied der Genderungleichheit zwischen den beiden Müttern festzustellen. Ergo: eine Unterscheidung zwischen „Han-deln“ und „Freiheit zum Han„Han-deln“ ist erforderlich (Sen 2010a: 265, Hervor-hebungen im Original; die Verf.). Doch gibt es systematische Disparitäten der Freiheiten zwischen Frauen und Männern in unterschiedlichen Gesell-schaften, die häufig nicht nur auf Einkommensdifferenzen oder Ressourcen begrenzt werden können. Obwohl Lohnunterschiede in vielen Gesellschaften einen konstitutiven Teil von Genderungleichheiten einnehmen, bestehen viele

andere Bereiche, die ebenso relevant für die Erfassung von Genderungleich-heiten sind, wie z. B. die innerhäusliche Arbeitsteilung (vgl. Sen 1992: 122).

Insofern ist die Stärke der Senschen Perspektive, seine Theorie auf unter-schiedliche Bereiche von Ungleichheiten – und in diesem Fall auf Genderun-gleichheiten – anwenden zu können. Hierin ist gleichwohl eine wesentliche Schwäche zu finden: die Offenheit der Theorie kann zu sehr unterschiedli-chen Auslegungen führen (für eine detaillierte Zusammenfassung von Sens Theorie sowie einen Überblick über die historische Entwicklung und die Schwächen des HDI s. Stanton (2007) „The Human Development Index. A History“).

In Abbildung 3 ist eine Zusammenfassung des Capability Approachs dar-gestellt. In Anlehnung an Hobson lässt sich das Capability Set, d. h. die Ge-samtmenge an Verwirklichungschancen, aus individuellen, kulturellen und institutionellen Faktoren im Europäischen Kontext abbilden. Für die Trans-formation von Ressourcen in verwirklichbare Handlungsmöglichkeiten und weiterführend in verwirklichte Funktionsweisen („Achieved Functionings“) werden sogenannte Umwandlungsfaktoren („Conversion Factors“) zur Ver-mittlung benötigt (s. Kapitel 4.5.). Dass im Sinne einer dynamischen Per-spektive erreichte Funktionsweisen grundsätzlich wiederum eine Rückkopp-lung auf Ressourcen und individuelle UmwandRückkopp-lungsmöglichkeiten haben können, soll ergänzend durch den gestrichelten Pfeil visualisiert werden.

4.8. Eigene Erweiterung: Macht im Capability-Ansatz als

Im Dokument Ruth Abramowski Das bisschen Haushalt (Seite 122-125)