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Solidaritätstypen nach Bengtson

Im Dokument Ruth Abramowski Das bisschen Haushalt (Seite 168-174)

Koppetschs Differenzierung zwischen Liebe und Partnerschaft

6.3. Solidaritätstypen nach Bengtson

Wenn wir die Unterschiede von Menschen berücksichtigen, dass nicht alle gleich sind, d. h. nicht von einer Gleichheit, sondern einer Gleichwertigkeit (der Geschlechter) ausgehen (s. Kapitel 9.4. „Bringing Power Back In“) und

hinnehmen, dass es einen Rückgang der Nuklearfamilie als soziale Institution sowie eine Pluralisierung von Lebensformen99 gibt, dann ist das Konzept der Solidaritätstypen von Bengtson zentral. Bengtsons Forschungsanliegen ist es, die Bedeutung multigenerationaler sozialer Beziehungen hervorzuheben.

„I suggest that family multigenerational relations will be more important [in American society] in the 21st century for 3 reasons: (a) the demographic changes of population aging, resulting in ‘‘longer years of shared lives’’ between genera-tions; (b) the increasing importance of grandparents and other kin in fulfilling family functions; (c) the strength and resilience of intergenerational solidarity over time“ (Bengtson 2001: 1).

Aus den makrosoziologischen Trends der Alterung der Bevölkerung und intergenerationaler Familiendemographie werden sechs mikrosoziologische Dimensionen von Solidaritätstypen abgeleitet (für eine zusammenfassende Übersicht der Reziprozitätsformen von Gouldner, Hollstein und Bengtson s.

Tabelle 7). Das theoretische Konstrukt der intergenerationalen Solidarität wird als Mittel genutzt, um die Verhaltens- und die Emotionsdimensionen von Interaktion, Kohäsion, Gefühlen und Unterstützung zwischen Eltern und Kindern, sowie Großeltern und Enkeln im Verlauf langfristiger Beziehungen zu charakterisieren (vgl. Bengtson 2001: 8, Hervorhebungen im Original; die Verf.). 1. „Affectual solidarity“ bezieht sich auf die emotionale Verbunden-heit, 2. „associatonal solidarity“ auf die Kontakthäufigkeit zu intergeneratio-nalen Familienmitgliedern, 3. „consensual solidarity“ auf die Übereinstim-mung in Meinungen und Werten, 4. „functional solidarity“ auf das Geben und Nehmen intergenerationaler Hilfe und Unterstützung, 5. „normative solidarity“ auf Erwartungen über familiäre Verpflichtungen und Normen über die Bedeutung familiärer Werte, 6. „structural solidarity“ auf die Möglich-keitsstruktur intergenerationaler Interaktion, wie örtliche Nähe zwischen Familienmitgliedern (Bengtson 2001: 8).

99 Elisabeth Beck-Gernsheim (1994) beschreibt diesbezüglich den Wandel der Familie von der Notgemeinschaft zur Wahlgemeinschaft im Kontext der Diskussion über die Individua-lisierung. Während die vorindustrielle Familie eine Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft darstellte, die wenig Möglichkeiten für individuelle Entfaltungen bot, sich vielmehr durch einen Zwang der Solidarität zu einer „Notgemeinschaft“ formierte, zeichnete sich die Fami-lie im Zuge der Industrialisierung durch ihre Differenzierung zwischen Arbeitsmarkt und Familie aus (Beck-Gernsheim 1994: 120f.). „Die Frau wurde abhängig vom Verdienst des Mannes; er wiederum brauchte, um funktionsfähig und einsatzbereit zu sein, ihre alltägliche Arbeit und Versorgung. Der Zwang zur Solidarität, der die vorindustrielle Familie kenn-zeichnete, setzte sich in modifizierter Form fort“ (Beck-Gernsheim 1994: 121). Heute do-minieren nach Beck-Gernsheim die individuellen Lebensentwürfe, die das ehemalige Mo-nopol der traditionellen Kernfamilie auflösen, jedoch nicht ersetzen. Lediglich die Mono-polstellung ist durch die Pluralisierung der Lebensformen erodiert. Es entsteht „[…] ein

»ganz normales Chaos« – der Liebe, des Leids, der Beziehungsvielfalt vor allem […] mehr Zwischenformen und Nebenformen, Vorformen und Nachformen: Das sind die Konturen der »postfamilialen Familie«“ (Beck-Gernsheim 1994: 135).

Tabelle 7: Übersicht der Reziprozitätsformen Goldner

(Wohltätigkeit + moralischer Absolutismus +

Reziprozität)

Hollstein (Generalisierte

Reziprozität)

Bengtson (Solidaritätstypen)

Wohltätigkeitsnorm + moralischer Absolutismus

Solidaritätsprinzip Affectual Solidarity Generatives Prinzip Consensual

Solidarity

Stellvertretungsprinzip Normative Solidarity

Reziprozität

Associational Solidarity

Functional Solidarity Structural Solidarity Quelle: Eigene Darstellung.

„ 1. Affectual solidarity: the sentiments and evaluations family members express about their relationship with other members (How close do you feel to your father or mother? How well do you get along with your child or grandchild?

How much affection do you feel from them?)

2. Associational solidarity: the type and frequency of contact between inter-generational family members

3. Consensual solidarity: agreement in opinions, values, and orientations be-tween generations

4. Functional solidarity (assistance): the giving and receiving of support across generations, including exchange of both instrumental assets and services as well as emotional support

5. Normative solidarity: expectations regarding filial obligations and parental obligations, as well as norms about the importance of familistic values 6. Structural solidarity: the ‘‘opportunity structure’’ for cross-generational

in-teraction reflecting geographic proximity between family members”

(Bengtson 2001: 8).

Im Unterschied zu Bengtson, der in erster Linie intergenerationale Beziehun-gen betrachtet, werden im Rahmen der vorlieBeziehun-genden Studie die Dimensionen der Solidarität innerhalb von Paarbeziehungen fokussiert. Es wird angenom-men, dass Bengtsons Typen auf die Paarebene übertragen werden können.

Als Mitglieder der Kernfamilie ist zwischen Frau und Mann innerhalb eines

Paares eine Solidargemeinschaft anzunehmen, die sich gleichwohl in die von Bengtson aufgeführten Dimensionen ausdifferenzieren lässt und Einfluss auf die innerhäusliche Arbeitsteilung nimmt. Die emotionale Verbundenheit ist eine Solidaritätsform, die auch für Paarbeziehungen von großer Bedeutung ist und nicht zuletzt in der Liebe ihren Ausdruck findet. Auch die Kontaktinten-sität spielt für Paarbeziehungen eine maßgebliche Rolle, ebenso die Überein-stimmung in Überzeugungen. Das Geben und Nehmen von Hilfeleistungen und Transfers findet abermals im Rahmen von Paarbeziehungen statt und der Verpflichtungsgrad mag zwar je nach Situation zwischen den PartnerInnen variieren, doch insgesamt – das liegt der Paarbeziehung zugrunde – eher hoch sein. Insbesondere vor dem Hintergrund einer zunehmenden räumlichen Mobilität in Folge von Transnationalisierungprozessen, vermag es vornehm-lich für hochgebildete Paare häufiger vorkommen, dass sie über keinen ge-meinsamen Wohnsitz verfügen und ihre Paarbeziehung als eine „Fernbezie-hung“ führen, wodurch auch die strukturelle Solidarität nicht außer Acht gelassen werden kann.

Obwohl es immer gängiger zu sein scheint, Solidarität auf die intergene-rationalen Beziehungen und damit auf familiale Solidarität zu beziehen – was durchaus sehr wesentlich ist – soll daran erinnert werden, dass es sich hierbei ebenso um ein makrosoziologisches Phänomen handelt – eine Form der ge-sellschaftlichen Solidarität. Zwischen beiden Formen scheinen Wechselwir-kungen zu bestehen. Unter Berücksichtigung eines zunehmenden Ausbaus einiger europäischer Wohlfahrtsstaaten stellt sich unter der Voraussetzung einer Wechselwirkung beider Ebenen die von Ostner aufgeworfene Frage:

„Hat der Wohlfahrtsstaat, indem er mehr Aufgaben der Familien übernahm, die Hilfsbereitschaft zwischen Familienmitgliedern aufgezehrt? Die Substitutions- oder »Crowding-Out-«These behauptet dies: Mit der Entwicklung des Wohl-fahrtsstaats nimmt die familiale Unterstützung ab“ (Ostner 2004a: 78).

Beispielsweise argumentiert Newman, dass „In countries with a weaker wel-fare state [Italy and Spain], the family is the buffer between young people and the relentless market pressures that can reduce their options“ (Newman 2012: 155). Hingegen würden in Ländern wie Dänemark und Schweden, die über einen stark ausgeprägten Wohlfahrtsstaat verfügen, gemäß Newmans Ergebnissen familiale intergenerationale Beziehungen durch staatliche Leis-tungen geschwächt. In Folge der Crowding-Out-These entstanden zahlreiche Studien, die das Gegenteil zu argumentieren suchten:

„Denn nach wie vor fühlen sich die Familienangehörigen verbunden und leisten einander Hilfe. Dabei haben, so die Vertreter der These von Komplementarität und »Crowding-In«, wohlfahrtsstaatliche Leistungen, insbesondere die lebens-standardsichernden Renten, bestimmte Formen des Gebens innerhalb von Fami-lien überhaupt erst ermöglicht und – historisch einmalig – die Richtung der Un-terstützung umgekehrt [früher haben Kinder die Altenpflege ihrer Eltern

über-nommen, heute unterstützen die Eltern ihre Kinder auch noch im Erwachsenenal-ter]“ (Ostner 2004a: 78).

Obgleich beide Thesen annehmen, dass familiale Solidarität prekär ist (staat-liche Betreuung kann nicht erzwungen werden, familiale Unterstützung hin-gegen schon, doch „[…] der Zwang würde in jedem Fall den Gebenden/die Gebende und den Empfänger/die Empfängerin der Hilfe, somit auch die Gabe und ihr Korrelat, die Dankbarkeit, beschädigen“ (Ostner 2004a: 79)), unter-scheiden sie sich in der Annahme über den Einfluss wohlfahrtsstaatlicher Leistungen auf die Hilfebereitschaft in Familien. Während die Komplementa-ritätsthese annimmt, dass der Wohlfahrtsstaat Freiräume für familiale Solida-rität einräumt, geht die Substitutionsthese von einer Einschränkung familialer Solidarität aus (vgl. Ostner 2004a: 79f.). Ostner behauptet in ihrem Artikel,

„[…] dass familiale Solidarität […] in einem gewissen Sinn eine Innovation der modernen Gesellschaft ist“ (Ostner 2004a: 80). Doch auch ohne die Un-terstützung des Wohlfahrtsstaats fördert die Familie die Gutwilligkeit, ihren Mitgliedern zu helfen – auch dann, wenn lediglich Dankbarkeit erwartet werden kann. Gemeinsame Werte, Normen und Situationsdefinitionen sind Voraussetzungen solidarischen Handelns, die am ehesten in der Familie er-füllt werden (vgl. Ostner 2004a: 86f.). Die Hilfsbereitschaft in Familien und Paarbeziehungen folgt nicht ausschließlich einer rationalen Partnerschaftslo-gik.

„Intime Beziehungen […] eröffnen die Möglichkeit, als einmaliges Individuum anerkannt und »zweckfrei« geliebt zu werden. […] Die andere – negative – Seite der Hilfsbereitschaft ist allerdings ihr Partikularismus: […] Nicht nur der, der den Arbeitsplatz verliert, auch wer keine Familie hat, ist von »Exklusion« bedroht“

(Ostner 2004a: 87).

„Die »Liebe« kann sich aber als problematisches Steuerungsprinzip der Famili-enbeziehungen erweisen. Kaum war sie institutionalisiert, scheitern immer mehr Paarbeziehungen am Anspruch. Etwas zu geben gegen nichts und dies etwa über längere Zeit mit ungewissem Ergebnis – das muss(te) existierende und zukünfti-ge Paare und Eltern überfordern – möglicherweise ein Grund, weshalb Frauen und Männer längerfristige bindende Verpflichtungen aufschieben, wenn nicht gar vermeiden, und ein Grund, weshalb die Gesellschaft die Pflichten zwischen El-tern und Kindern neu gestaltet. Schließlich widerspricht »Liebe« der Norm der Symmetrie und Egalität, die sich – auf den ersten Blick paradox – gleichzeitig mit der Norm, andere nicht als Mittel zum Zweck zu behandeln, durchsetzte. Von daher konfligierten von Anfang an »Liebe« (Einseitigkeit) und »Partnerschaft«

(gleiche Gegenseitigkeit) als Steuerungsprinzipien sozialer Interaktion in Famili-enbeziehungen“ (Koppetsch, zitiert nach Ostner 2004a: 87f.).

Ostners Ausgangspunkt war, dass der Modernisierungsprozess sowohl fami-liale Solidarität als auch den Wohlfahrtsstaat hervorgebracht hat, der familia-le Solidarität unterstützt sowie in Teifamilia-len auch ermöglicht (vgl. Ostner 2004a:

91). Sofern die familiale Hilfsbereitschaft abnehmen sollte, so sei dies gemäß

Ostner auch eine Folge der zunehmenden Instabilität moderner, auf Liebe und Freiwilligkeit gegründeter Familien.

„Der Wohlfahrtsstaat würde die familiale Solidarität, so meine Vermutung […], dann schwächen, wenn er der Familie für eine längere Zeit den Raum nimmt, den sie braucht, um für ihre Hilfebedürftigen selbst zu sorgen“ (Ostner 2004a: 91f.).

Die familiale sowie die makrosoziale Dimension sind nicht nur für intergene-rationale Beziehungen von Relevanz, sondern auch für Paarbeziehungen.

Zuvor wurde argumentiert, dass Nächstenliebe der Solidarität immanent ist.

Mit Fokus auf einer makrosozialen Dimension der Solidarität bedeutet dies weiterführend: Gerechtigkeit braucht Liebe. Als Grundlage für diese Behaup-tung wird auf Martha Nussbaums Werk „Political Emotions: Why Love mat-ters for Justice“ (2013) und auf die Liste der „Basic Human Functional Capa-bilities“ (s. Anhang) für ein gutes menschliches Leben verwiesen, die unter Punkt fünf die allgemeine Möglichkeit, Liebe, Kummer, Sehnsucht und Dankbarkeit zu empfinden, erläutert. Diese Fähigkeit zu unterstützen heißt weiterführend, Formen des menschlichen Miteinanders zu unterstützen, was wiederum bedeutsam für die menschliche Entwicklung ist. Aus Gründen der Gerechtigkeit entsteht die solidarische Norm andere Menschen zu unterstüt-zen ohne sie persönlich zu kennen – Sozialleistungen basieren auf dieser Idee.

7. Zwischenfazit der eigenen Argumentation: Für

Im Dokument Ruth Abramowski Das bisschen Haushalt (Seite 168-174)