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Das Freiheits-Gleichheit-Dilemma

Im Dokument Ruth Abramowski Das bisschen Haushalt (Seite 109-122)

ressourcenorientierten Messung sozialer Ungleichheiten

4.6. Das Freiheits-Gleichheit-Dilemma

In einem seiner neueren Werke „The Idea of Justice“ vertritt Sen die These einer Ausweitung der Gerechtigkeitstheorien, da er die Vielfalt als eine zent-rale Komponente für die Gerechtigkeitseinschätzung erachtet (vgl. Sen 2010a: 335f.). Die Idee der mehrdimensionalen Pluralität ist für seine Theorie immanent, die er bereits in seinen frühen Arbeiten publik machte. So war schon in „Inequality Reexamined“ seine Ausgangsannahme der Ungleich-heitsforschung die Unterschiedlichkeit, anstelle eines absolutistischen Gleichheitsideals. Sein Pluralitätsgedanke in Bezug auf die Freiheit wurde nicht zuletzt mit einem Nobelpreis gewürdigt.

„Wir müssen beachten, dass Gleichheit wie Freiheit viel Inhalt umfassen und mehrdimensional sind. Wir haben allen Grund, uns nicht auf engstirnige, eindi-mensionale Ansichten von Freiheit und Gleichheit einzulassen, die alle anderen Ansprüche dieser umfassenden Werte ignorieren. Diese Pluralität muss Teil einer Theorie der Gerechtigkeit sein, denn sie muss den vielfältigen Überlegungen ge-recht werden, zu denen diese großen Ideen Freiheit und Gleichheit aufrufen“

(Sen 2010a: 343).

Innerhalb seines Befähigungsansatzes lautet für Sen die entscheidende Frage

„Gleichheit wovon?“; es ginge nicht darum, „[…] ob wir überhaupt Gleich-heit brauchen, in welchem Bereich auch immer“ (Sen 2010a: 320). Wie er in

„The Idea of Justice“ zeigen möchte, ist Gleichheit zwar wichtig und Befähi-gung „ein zentrales Merkmal menschlichen Lebens“ (Sen 2010a: 322).

Trotzdem widerstrebt ihm eine Forderung nach Befähigungs- oder Chancen-gleichheit. Als Gründe bringt Sen Folgendes vor:

1. Befähigung ist nur ein Aspekt der Freiheit, der sich lediglich auf den Chancenaspekt der Freiheit, d. h. auf individuelle Begünstigungen be-zieht, doch über die Prozesshaftigkeit von Fairness und Billigkeit könne die Befähigung nicht ausreichend informieren (vgl. Sen 2010a:

322). Als Beispiel führt Sen die unterschiedliche Lebenserwartung von Frauen und Männern an. Nur weil Frauen eine höhere

Lebenser-wartung haben, wäre es nicht vernünftig, ihnen eine schlechtere medi-zinische Versorgung zukommen zu lassen als Männern, damit eine egalitäre Chancengleichheit der Lebenserwartung für beide Ge-schlechter resultiert (vgl. Sen 2010a: 323). In diesem Fall habe die Fairness im Prozessaspekt eine Vorrangstellung gegenüber der Frei-heit, vielmehr verbiete sie sogar eine Vorrangigkeit der Gleichheit der Lebenserwartung.

„Ein ausschließlich auf einen Bereich zentriertes Verständnis von Gleich-heitsforderungen (in diesem Fall die ausschließliche Sicht auf Befähigungen) betrachte ich mit der Skepsis, die Teil meiner weitreichenden Kritik an jeder unifokalen Auffassung von Gleichheit ist“ (Sen 2010a: 324).

2. Freiheit ist zwar ein wichtiger Aspekt für die Beurteilung persönlicher Begünstigungen und damit auch der Gleichheit, „[…] aber es kann auch andere Ansprüche an Urteile über Verteilung geben, die womög-lich nicht am besten als Forderungen nach gleicher Gesamtfreiheit (in einer klaren Bedeutung) für verschiedene Menschen zu verstehen sind“ (Sen 2010a: 324, Hervorhebungen im Original; die Verf.).

3. Befähigung kann unterschiedlich definiert werden, wobei innerhalb der Definitionen „[…] auch zwischen Freiheit zum Wohlergehen und Handlungsfreiheit“ zu differenzieren ist (Sen 2010a: 324). Befähigun-gen lassen sich daher nicht immer in eine vollständige Rangordnung bringen, insbesondere, wenn wie im Flötenbeispiel unterschiedliche Typen von Befähigungen zur Verfügung stehen, die allesamt als ver-nünftig bewertet werden können55. Eindeutige Beurteilungen sind da-her nicht immer möglich, gleichwohl es uns durch eine partielle Ord-nung zumindest ermöglicht ist, extreme Ungleichheiten zu erkennen.

4. Eine Theorie der Gerechtigkeit hat sich nicht nur mit der Gleichheit als einzigem Wert auseinanderzusetzen. Gleichheit „[…] ist nicht einmal das einzige Gebiet, auf dem die Idee der Befähigung Nutzen hat“ (Sen 2010a: 325). So verdiene nicht nur die Verminderung von Chancenungleichheiten Aufmerksamkeit, sondern auch „[…] die all-gemeine Verbesserung der Chancen aller“ (Sen 2010a: 325).

Dass ein absolutistisches Gleichheitsverständnis Grenzen hat und darüber hinaus zu weiteren Ungleichheiten führen kann, soll an dieser Stelle mit einer fiktiven Geschichte Simmels, die vielleicht überall auf der Welt spielen könn-te, sowie der daran anschließenden von Ostner geführten Debatte um soziale

55 „Eine partielle Ordnung mag ausreichen, um Ungleichheiten in einigen Fällen einzuschät-zen, vor allem krasse Ungerechtigkeit zu erkennen, aber sie ergibt in anderen Fällen nicht notwendig klare Beurteilungen. Diese Einwände besagen nicht, dass es nutzlos sei, Auf-merksamkeit auf die Verminderung von Chancenungleichheit zu wenden. Diese Verminde-rung ist sicherlich eine große Aufgabe, aber man muss auch sehen, dass die Reichweite der Chancengleichheit Grenzen hat und dass sie nur ein Teil der Gerechtigkeitsforderungen ist“

(Sen 2010a: 325).

Ungleichheiten und Ressentiment verdeutlicht werden. Anschließend erfolgt eine Übersicht der neueren Egalitarismusdebatte, innerhalb derer Sens Argu-mentation und der Bezug zu Martha Nussbaum eingeordnet werden sollen.

4.6.1. Blühende Rosen und Neid

Eine fiktive Geschichte Simmels, die vielleicht überall spielen könnte: Wäh-rend einige BürgerInnen es sich leisten konnten, in ihrem Garten Rosen zu ziehen, wurden Sie von den anderen BürgerInnen, die sich keine Rosenzucht leisten konnten, dafür beneidet. Aufgrund des Benachteiligungsgefühls der Nicht-Rosen-BesitzerInnen formierten sie sich zu einer Revolutionspartei und konnten soziale Gerechtigkeit in Form eines Rechts auf Rosenbesitz erkämpfen.

„So gleichmäßig freilich, wie die Seiten einer mathematischen Gleichung, konn-ten die Anteile dennoch nicht ausfallen. Immerhin hatte der eine die glücklichere Hand im Aufziehen der Rosen, der andere ein wenig mehr Sonne, der dritte ein kräftigeres Pfropfreis; denn die Natur läßt [sic!] sich immer nur ganz ungefähr, und ohne sich irgendwie zu binden, auf die Symmetrie der menschlichen Pläne ein“ (Simmel 1989: 170).

„Es ging also nun, so lange es ging; aber eines Tages war die Anpassung voll-bracht und jene kleinsten Unterschiede in Farbe und Form, in Duft und Reiz der Rosen, mit denen sich die Natur doch als die letzte Instanz über allen Anglei-chungsversuchen erweist, erregten den gleichen Haß [sic!] und Neid, denselben Hochmut auf der einen Seite, dasselbe Gefühl der Enterbtheit auf der anderen“

(Simmel 1989: 171).

Auf Simmels Rosen und die Frage, welchen Stellenwert diese Argumentation innerhalb des hier aufgeführten Machtansatzes einnimmt, wird im Kapitel 9.4. „Bringing Power Back In“ zurückgegriffen.

4.6.2. Ostners (1998) Ressentimentannahmen zur

Geschlechtergleichheit im Feminismus Mit Bezug auf Simmel argumentiert Ostner, dass zwar durch ressentimentge-ladene Bewältigungsstrategien versucht würde, Gleichheit zwischen den Geschlechtern (wie in Simmels Beispiel zwischen den BesitzerInnen und Nicht-BesitzerInnen der Rosen zu erreichen), doch „Der im Angleichungs-prozeß [sic!] immer wieder neu entstehenden Ungleichheit […] weder Frau noch Mann entkommen [können]“ (Ostner 1998: 383). In der Tat, aber eine adäquate Frage liegt auch in der Umkehrung: nicht, ob Frau und Mann der Ungleichheit entkommen können, sondern wie viel Gleichheit und Ungleich-heit zugelassen werden kann. Die Spannbreite dazwischen ist groß, mit vielen

Facetten, unterschiedlichen Kategorien, und keinesfalls als dichotom, son-dern relational zu denken.

Ostner „[…] versucht, die Entstehung von Frauenbewegungen und feministi-schen Strategien aus dem spannungsreichen Zusammenspiel von Gleichheitspos-tulat, sozialer Ungleichheit, Angleichungsprozessen und neuer Ungleichheit zu erklären. Das für diese konfliktträchtige Dynamik konstitutive Moment ist der Vergleich, die Möglichkeit, sich mit anderen als potentiell Gleichen zu verglei-chen – Ressentiment das Gefühl derjenigen, die meinen schon wieder ver-gleichsweise schlecht abzuschneiden“ (Ostner 1998: 384, Hervorhebungen im Original; die Verf.).

In Anlehnung an die Bezugsgruppentheorie, die von einem Vergleich status-ähnlicher Personen bzw. Gruppen ausgeht, erläutert Ostner, dass durch die Ausweitung der Rollen von Frauen ihr Bezugspunkt wechselt, insofern als Männer zunehmend die Referenzgruppe für Frauen darstellen, was zum Ressentiment führe (vgl. Ostner 1998: 389). Durch die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft entstehe eben dieser (massenhafte) Vergleich.

Allen Mitgliedern würde das gleiche Maß an Freiheit gewährt, wobei Status-unterschiede durch die Argumentation gerechtfertigt würden, dass ungleich-heitsrelevante Positionen grundsätzlich allen offen stehen (vgl. Ostner 1998:

387). Häufig würde die moderne Gesellschaft durch Umverteilungsmaßnah-men dafür Sorge tragen, dass Benachteiligte etwas mehr von diesen Maß-nahmen profitieren, wodurch ihre Teilhabechancen verbessert werden sollen, um den Prinzipien der modernen Gesellschaft Ausdruck zu verleihen. Für einen kurzen Moment mögen die Ungleichheiten nivelliert zu sein, doch langfristig entstehen neue Ungleichheiten:

„Ehemalige Verlierer[Innen] haben jetzt vielleicht die besseren Karten gezogen;

aber ebenso häufig bleiben sie – auf neue Weise und doch schon wieder – Verlie-rer[Innen]. An dieser Stelle kommt das Ressentiment ins Spiel: der Groll, der die neue Verlierer[Innen]position begleitet und der aktiv gewendet wird. Die moder-ne Gleichheitslehre und die funktional differenzierte Gesellschaft sind deshalb nicht nur eine Bedingung für die Entwicklung von Ressentiment, sondern auch ihr Ergebnis. Dies gilt vor allem dann, wenn diejenigen, die fürchten, im Ver-gleich zu verlieren, Gleichheit einfordern – und zwar eine nun abwärts gerichtete Gleichheit, die Angleichung an das Niveau der niedriger Stehenden, Schwäche-ren, Benachteiligten“ (Ostner 1998: 387, Hervorhebungen im Original; die Verf.).

Der Kampf um Gleichheit, verschärft durch sozialstrukturellen Wandel und ressentimentgeladene Bewältigungsstrategien, führt zu neuen sozialen Un-gleichheiten, der Vergleich führt zum Ressentiment – und die Spirale wieder-holt sich von vorne. Durch Angleichung als Ausgangspunkt entstehe nach Ostner, wobei sie sich auf Simmel beruft, neue Ungleichheit. Beispielsweise habe die zunehmende Integration von Frauen in die Erwerbsarbeit zu einer Segregation des Arbeitsmarktes geführt (vgl. Ostner 1998: 392). In den USA

habe sich die Wechselbeziehung von Angleichung und neuer Ungleichheit weiterführend in der für Männer und Frauen bestehenden Angewiesenheit eines zweiten, weiblichen Einkommens zur Existenzsicherung gezeigt (vgl.

Ostner 1998: 393).

„Das Zusammenspiel von Entdifferenzierung und neuer sozialer Differenzierung ist immer komplizierter, dynamischer und undurchschaubarer geworden. Es ver-mochte jedenfalls die Identität der Frauenbewegung in Frage zu stellen: Wer spricht für wen, wenn im Rekurs auf „die Frau“ – oder schon angemessener: „der Frauen“ Diagnosen erstellt und Forderungen erhoben werden? Wenn sich die weiblichen Lebenslagen und Lebensläufe vervielfältigen? Schließlich hatte die Rede von den „Frauen“ vorausgesetzt, daß [sic!] die Frauen etwas gemeinsam haben […], das sie strikt von Männern trennte (Ostner 1998: 394, Hervorhebun-gen im Original; die Verf.).

Je mehr Frauen mit den Männern mitziehen konnten, umso weniger galten Männer als Komparatoren und umso deutlicher wurden die Unterschiede zwischen den Frauen. Die Vergleichsgruppe wechselte von den Männern zurück zu den Frauen, wodurch zunehmend die Vielfalt der Frauen betont wurde. „Das Ressentiment begann sich zurückzuwenden und (wieder ver-mehrt) gegen Frauen zu richten“ (Ostner 1998: 394).

Angleichungsprozesse zwischen Männern und Frauen innerhalb der so-zialen Felder „Beruf und Familie“ münden im Verlust der Evidenz

„[…] eine[r] Position, die die früher einmal offenkundige Besonderheit von Frauen ins Positive steigert[e]. Da diese Angleichungen zudem mit neuen Un-gleichheiten einhergehen, läuft eine Strategie der Überhöhung der althergebrach-ten Mann-Frau-Differenz doppelt fehl“ (Ostner 1998: 399, Hervorhebungen im Original; die Verf.).

4.6.3. Die neue Egalitarismuskritik im Überblick: Equality of What?

Die Auffassung von Gerechtigkeit im Sinne gleicher Lebensaussichten für alle wird vom Mainstream der GerechtigkeitsphilosophInnen vertreten. Doch gehen die Auffassungen über die Frage, woran die Gleichheit der Lebens-chancen festgemacht werden kann, stark auseinander (vgl. Krebs 2000: 7).

Krebs nennt drei Paradigmen der ursprünglich von Sen ins Leben gerufenen

„Equality-of-What?-Debatte56“: Während die einen eine Gleichheit über Ressourcen fordern, fordert die zweite Gruppe gleiche Möglichkeitschancen des Wohlergehens, während die letzte Perspektive in Anlehnung an Sen (1992) eine Gleichheit der Verwirklichungschancen von

Funktionsfähigkei-56 „Two central issues for ethical analysis of equality are: (1) Why equality? (2) Equality of what (Sen 1992: 12)?

ten („equality of capability to function“) betont (Krebs 2000: 7, Hervorhe-bungen im Original; die Verf.).

Doch „Gleichheit tauge nicht als Grundlage der Gerechtigkeit“ – so die neue Egalitarismuskritik (Krebs 2000: 8). Dem kritisierten Egalitarismus, dessen Ziel der Gerechtigkeit die Gleichheit darstellt, weshalb er in dieser Forschungsarbeit als absolutistisch bezeichnet wird, ist eine Relationalität der Gerechtigkeit immanent:

„[…] als die Gleichheit der einen mit den anderen [wie in Simmels Beispiel ste-hen einem/r DorfbewohnerIn Rosen zu, weil andere auch Rosen haben]. Genauer kombiniert der Egalitarismus in der Regel, als sogenannter »pluralistischer Egali-tarismus«, ein auf unverdiente Lebensaussichten bezogenes Gleichheitsprinzip mit einem Wohlfahrtsprinzip, das die Erhöhung der allgemeinen Wohlfahrt an-strebt“ (Krebs 2000: 8, Hervorhebungen im Original; die Verf.).

Unverdiente Lebensaussichten sollen einschließen, dass Menschen selbst für ihre Situation verantwortlich sein können. Es sei keine Verletzung der Gleichheit, sondern moralisch gerecht, wenn einige viel arbeiten, während andere faul seien, denn für die Folgen ihrer Entscheidungen müssten die Betroffenen selbst aufkommen. Lediglich das, was Menschen nicht durch ihre eigene Leistung erhalten haben, sondern ihnen einfach – aus welchen Gründen auch immer – zufällt (Geschenke, Erbschaften, Gaben der Natur etc.) müsste egalisiert werden (vgl. Krebs 2000: 11).

Im Gegensatz zum Egalitarismus vertritt der Nonegalitarismus die An-sicht, dass Gleichheit kein zentrales Ziel sei, sondern in vielen Fällen ledig-lich ein Nebenprodukt darstelle (wie z. B. in Bezug auf die Forderung, dass alle Hungernden Essen erhalten sollen). Für NonegalitaristInnen steht die Erfüllung eines absoluten Standards für alle, anstatt einer Forderung auf Gleichheit im Vordergrund (ausreichende Nahrung als eine Bedingung eines menschenwürdigen Lebens) (vgl. Krebs 2000: 15). Krebs unterscheidet dies-bezüglich zwischen „egalitären“ und „egalitaristischen“ Gerechtigkeitstheo-rien, die Gleichheit als zentrales Ziel der Gerechtigkeit fordern. Folglich können nonegalitaristische Theorien egalitärer sein als egalitaristische Theo-rien. Die neue Egalitarismuskritik würde sich nicht mit der Frage, ob eine Gerechtigkeitstheorie egalitär sein sollte, befassen; dies sei vielmehr das Fundament auf dem alle NonegalitaristInnen aufbauen würden. Es ginge in der neuen Egalitarismuskritik nur um die Frage, ob eine Gerechtigkeitstheo-rie „egalitaristisch“ sein sollte (vgl. Krebs 2000: 15f.).

„Das »Oder« im Titel dieses Bandes »Gleichheit oder Gerechtigkeit« bezieht sich demnach auch nur auf diese zweite Frage- […] es enthält die These, dass Gerechtigkeit nicht egalitaristisch, nicht wesentlich als auf Gleichheit abzielend zu verstehen ist (Krebs 2000: 15f., Hervorhebungen im Original; die Verf.).

Krebs fasst vier Kritikpunkte des neuen Egalitarismus gegen den Egalitaris-mus zusammen:

1. „Gleichheit nur als Nebenprodukt“: Allgemeinheit würde mit Gleich-heit verwechselt, GleichGleich-heit sei nicht Ziel, sondern lediglich ein Ne-benprodukt. Erzielt werden sollte stattdessen, dass niemand unter pre-kären Lebensbedingungen, wie z. B. Hunger, leiden solle, für alle soll-ten die gleichen Lebensbedingungen bestehen. Der Vorwurf beinhal-tet, dass die elementaren Standards der Gerechtigkeit nicht-relational sind und Gleichheit nur als Nebenprodukt implementieren. So wesent-lich, wie es der Egalitarismus annimmt, könne Gleichheit nicht sein (vgl. Krebs 2000: 17f.).

Beispielsweise sei Kranken zu helfen, weil sie sich in einer schreckli-chen Situation befinden und

„[…] nicht deswegen, weil es anderen schließlich besser geht […]. Die Gleichheitsterminologie ist redundant. Es geht nichts verloren, wenn man an-stelle von: »Alle Menschen sollen gleichermaßen genug zu essen haben« ein-fach nur sagt: »Alle Menschen sollen genug zu essen haben«“ (Krebs 2000:

18, Hervorhebungen im Original; die Verf.).

2. „Inhumanität“: Die Kritik der Inhumanität des Egalitarismus beinhal-tet, dass der Egalitarismus nicht in der Lage sei, für alle die Bedin-gungen eines menschenwürdigen Lebens herzustellen – „Menschen, die an ihrem Elend selbst schuld sind, werden in ihrem Elend allein gelassen“ (Krebs 2000: 21, Hervorhebungen im Original; die Verf.).

Diejenigen, die Hilfe brauchen, erhalten sie aus relationalen und nicht aus menschenwürdigen Gründen, wodurch sie zugleich stigmatisiert werden. Über das Ausmaß des Elends entscheidet der Staat, was Bür-gerInnen entmündigt und in ihrer Privatsphäre verletzt, um an Infor-mationen für die Staatsentscheidung – selbstverdient oder unverschul-det – heranzukommen (vgl. Krebs 2000: 21). Durch die Forderung des Egalitarismus einer Egalisierung unverdienter Lebensaussichten ent-steht – akribisch betrachtet – die Folge, dass Menschen, die aufgrund ihrer eigenen Entscheidungen in Not geraten sind, nicht zu helfen ist bzw. sie keinen Anspruch auf Unterstützung haben, weil sie für die Folgen ihrer Entscheidungen Eigenverantwortung tragen sollen.

Schließlich gelte es lediglich unverdiente Lebensaussichten zu egali-sieren (vgl. Krebs 2000: 22).

3. „Verkennung von Komplexität“: Die Berücksichtigung der Komplexi-tät von Gerechtigkeit ist mangelhaft und wird unterschätzt, da die Ge-rechtigkeitskultur kulturspezifisch und mit einer Vielzahl an Prinzi-pien verknüpft ist, wie z. B. Verdienstprinzip, Leistungsprinzip etc.

„Angesichts dieser Fülle an Gerechtigkeitsgesichtspunkten [die sich auch gegenseitig überlagern können und daher ein Abwägen erfor-dern] stellt sich der Egalitarismus mit seiner Ausrichtung auf Gleich-heit als falscher Monismus dar“ (Krebs 2000: 25).

„Unsere Gerechtigkeitskultur ist damit »so kompliziert wie das Leben selbst«.

Der Glaube, man könne diese Kultur im Wesentlichen über ein oder zwei

Prinzipien, das Gleichheitsprinzip in Kombination mit dem Prinzip der Wohl-fahrtssteigerung, einfangen, zeugt von der Philosoph[Inn]enkrankheit der the-orieverliebten Überheblichkeit gegenüber der Wirklichkeit. Die Egalitaristen sind zu sehr »Freunde einfacher Verhältnisse«, um der Komplexität unserer Gerechtigkeitskultur gerecht zu werden“ (Krebs 2000: 27, Hervorhebungen im Original; die Verf.).

4. „Nichtrealisierbarkeit“: Ist der Einwand, dass Egalitarismus nicht gänzlich umgesetzt werden kann. „[…] schon der Versuch einer flä-chendeckenden Egalisierung [erscheint] wie ein Sandkastenspiel oder eine realitätsfremde Anmaßung“ (Krebs 2000: 30). Mit dem Versuch der Angleichung von Ungleichheiten entstehen, wie auch Ostner ar-gumentiert, Ressentiments und in der Folge neue Ungleichheiten.

VertreterInnen der neuen Egalitarimuskritik geben sich nicht mit minimalisti-schen Standards eines absolutistiminimalisti-schen Egalitarismus zufrieden: die neuen NonegalitaristInnen fordern nicht nur den Schutz der negativen Freiheit aller durch den Staat, sondern der Staat hat auch Sorge dafür zu tragen, dass keiner unter menschenunwürdigen Umständen (wie z. B. Mangel an Nahrung, Ob-dach, medizinischer Grundversorgung etc.) leben muss. Hierdurch wird die Perspektive des nonegalitaristischen Humanismus auf die Menschenwürde fokussiert. Prinzipien, wie das Verdienstprinzip, das Prinzip der Tauschfrei-heit oder das Qualifikationsprinzip werden einem Prinzip auf menschenwür-diges Leben für alle nachgeordnet. Martha Nussbaums aristotelischer Essen-tialismus vermag eines der bekanntesten Beispiele für eine humanistische Gerechtigkeitstheorie zu sein (vgl. Krebs 2000: 31). In Abgrenzung zu Sen, der eine Klassifikation von gerechten Gesellschaften strikt ablehnt, geht Nussbaum einen Schritt weiter, in dem sie ein minimales Bündel an Voraus-setzungen für eine gerechte Gesellschaft fordert. Sie widmet sich ferner dem

„guten Leben“ einschließlich der Frage, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um ein gutes menschliches Leben führen zu können (vgl. Nussbaum 1999:

188). Diese Frage impliziert die Abgrenzung dessen, was menschlichen Fä-higkeiten immanent ist. Insofern lautet die übergeordnete grundlegende Fra-gestellung, die wir uns laut Nussbaum stellen müssen:

„What are the characteristic activities of the human being? What does the human being do, characteristically, as such – and not, say, as a member of a particular group, or a particular local community” (Nussbaum 1995: 72).

Sen, der viele Forschungstätigkeiten mit Nussbaum geteilt hat, unterscheidet sich in einem zentralen Punkt57 von ihr: Während sie in ihrem Werk

„Gerech-57 Ein weiterer Unterschied ist, dass sie „capabilities“ stärker auf Fähigkeiten fokussiert, die sie ausdifferenziert in grundlegende, interne und kombinierte Fähigkeiten (vgl. Nussbaum 2000: 84). Grundlegende Fähigkeiten beziehen sich auf die angeborene Ausstattung einer Basis zur Entwicklung von Fähigkeiten. Interne Fähigkeiten meinen die ausreichenden Zu-stände einer Person zur Ausübung ihrer erforderlichen Tätigkeiten. Kombinierte Fähigkei-ten erfassen die internen FähigkeiFähigkei-ten in Kombination mit ihren äußeren Bedingungen (vgl.

tigkeit oder das gute Leben“ ein fixes Bündel von zehn universalen Indikato-ren58 (z. B. Fähigkeit einer guten Gesundheit, Zugang zu Bildung einschließ-lich dem Schutz dieser Fähigkeit in Form von gesetzeinschließ-lichen Garantien der Meinungs- und Religionsfreiheit, Zugang zu einer beruflichen Tätigkeit etc.;

die vollständige Liste ist im Anhang dargestellt), sogenannten „Central Hu-man Functional Capabilities“ (Nussbaum 2000: 78), fordert (vgl. Nussbaum 1999: 200ff.), würde er als Liberaler die Indikatoren nicht im Vorfeld festle-gen59 (im Falle der Konzeptionierung des HDI tut er es dennoch) und den

Nussbaum 2003: 22). Nussbaum führt als Beispiel für die internen Fähigkeiten eine nicht beschnittene Frau an, die die interne Fähigkeit besitzt, sexuelle Lust zu verspüren. Eine weitere Frau, die ebenfalls nicht beschnitten ist, aber bereits in jungen Jahren Witwe wurde und der es verboten ist, wieder zu heiraten, besitzt zwar die interne Fähigkeit, nicht aber die kombinierte Fähigkeit sexueller Entfaltung (vgl. Nussbaum 2003: 22).

58 Nussbaum konstatiert zwei Schwellen – die erste, die sich auf ein menschliches Leben bezieht und die zweite, die sich auf ein gutes menschliches Leben bezieht. Auf Basis der zweiten Stufe siedelt sie die zehn Grundfähigkeiten an. Die erste Schwelle meint „[…] eine Schwelle der Fähigkeit zur Ausübung von Tätigkeiten, unterhalb derer ein Leben so ver-armt wäre, daß [sic!] es überhaupt nicht mehr als menschliches Leben gelten könnte; und

58 Nussbaum konstatiert zwei Schwellen – die erste, die sich auf ein menschliches Leben bezieht und die zweite, die sich auf ein gutes menschliches Leben bezieht. Auf Basis der zweiten Stufe siedelt sie die zehn Grundfähigkeiten an. Die erste Schwelle meint „[…] eine Schwelle der Fähigkeit zur Ausübung von Tätigkeiten, unterhalb derer ein Leben so ver-armt wäre, daß [sic!] es überhaupt nicht mehr als menschliches Leben gelten könnte; und

Im Dokument Ruth Abramowski Das bisschen Haushalt (Seite 109-122)