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5. Interpretation ausgewählter zentraler Studienergebnisse

5.1. Zeitgemäßer Unterricht in Mehrstufen- und Integrationsklassen auf der Wiener

ChristianFRIDRICH &GerhardPAULINGER

5.1.1. Vorbemerkungen43

Unterrichten ist eine komplexe Handlung, ebenso wie Unterrichtsstile vielschichtige Handlungsformen sind. Es wäre trivial, Unterrichtsstile aus dem quantitativen Einsatz von Sozialformen des Unterrichts wie etwa Lehrer/innenvortrag sowie Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit ableiten zu wollen. Auch eine Offen-geschlossen-Dichotomie hilft hier nicht weiter (siehe das Kapitel 5.7 von Heribert SCHOPF in diesem Band).

Vielmehr wurde im vorliegenden Forschungsprojekt „Zum IST-Stand des naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichts an Volksschulen und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Lehrer/innenaus- und -fortbildung“ der PH Wien beim Begriff „Unterrichtsstil“ als Bündel von Aspekten der Unterrichtsgestaltung ausgegangen, die von der Lehrperson im Zuge ihres Unterricht immer wieder aufs Neue kombiniert werden.

Gewisse Kombinationen von Aspekten der Unterrichtsgestaltung treten individuell verschieden häufig auf, was die interviewten Kolleg/innen selbst einschätzen können.

In der Fachliteratur sind unterschiedlichste Aussagen über Unterricht und seine Gestaltung anzutreffen. Moderner Unterricht lebt zumindest in den Spannungsfeldern von Individualisierung und Strukturierung des Lehr-Lerngeschehens (zu den empirischen Befunden siehe GRUEHN 2000, S. 10) sowie von Schüler/innenautonomie und zeitlicher Reglementierung (vgl. dazu RICHTER 2005, S. 171). Empirische Studien belegen bei Erwachsenen, dass geringe persönliche Gestaltungseinflüsse im eigenen Arbeitsumfeld Stress verursachen und das Wohlbefinden beeinträchtigen. Dies konnte auch für Schüler/innen nachgewiesen werden, wobei u.a. auch zeitliche Mitgestaltungsmöglichkeiten eine große Rolle spielen (vgl. ebd., S. 173ff.).

Um auf das erstgenannte Spannungsfeld zurückzukommen: Strukturierung des Unterrichts ist eine essenzieller Bereich pädagogischen Handelns im Unterricht, was von JANK und MEYER mit einem Strukturmodell des Unterrichts analytisch beschrieben wird. Dieses Strukturmodell beinhaltet Regeln, die durch das mehr oder weniger aktive Tun im Unterricht sowohl von Lehrenden als auch von Lernenden selbst bestimmt, ja geschaffen werden (vgl.

43 Wir danken Frau Koll. Kornelia LEHNER-SIMONIS (PH Wien) sehr herzlich für wertvolle Anregungen und Hinweise für dieses Kapitel.

JANK & MEYER 2011, S. 69). Die Gesamtstruktur des Unterrichts wird dabei in fünf Strukturkategorien unterschieden:

 Zielstruktur: Aufgaben werden unter Bedacht bestimmter Zielvorgaben zusammengestellt. Lehrende überlegen, welche Ziele im Unterricht sinnvoll sind und wie sie im Prozess umgesetzt werden können.

 Inhaltsstruktur: Themen werden unter Berücksichtigung der Sache und des Entwicklungsstands der Schüler/innen aufbereitet.

 Sozialstruktur: Um Unterricht zu organisieren, ist es unter anderem notwendig, sich zu überlegen, welche Interaktionsformen, also Sozialformen, und Differenzierungsmaßnahmen in Frage kommen, um produktives Arbeiten zum Unterrichtsinhalt zu ermöglichen.

 Handlungsstruktur: Damit sind das Handeln des Lehrenden und das mögliche Handeln der Schüler/innen gemeint. Abhängig von der zu lösenden Aufgabe und der feststehenden Inhaltsstruktur werden entsprechende Lehr- und Lernformen, Unterrichtsmethoden, gewählt.

 Prozessstruktur: Die zur Verfügung stehende Zeit wird in sogenannte Unterrichtsschritte aufgeteilt. Zu jedem Schritt gilt es die passende Lehr-Lern-Form und die Sozialform zu bestimmen. Das regelmäßige Kontrollieren der Zeit und das daraus unter Umständen folgende Verkürzen eines Unterrichtsschritts ist von der Seite der lehrenden Person durchzuführen (vgl. JANK &MEYER 2011, S. 62ff.)

Wenn wir Friedrich F. KRON zustimmen, dass Bildung eine harmonische Entfaltung aller relevanten Kräfte eines (lernenden) Subjekts sei (vgl. KRON 2009), muss die Idee des veralteten Rezeptwissens von Unterrichten – und in weiterer Folge auch von Stilen des Unterrichts – zugunsten der Didaktik als einer Wissenschaft des Lehrens und Lernens verabschiedet werden (vgl. JANK & MEYER 2011, S. 12), was auf die Aus- und Fortbildung von Lehrer/innen großen Einfluss hat. Somit sind die Ergebnisse dieses Teils des vorliegenden Forschungsprojekts von hoher Relevanz für das Fachdidaktikzentrum für Naturwissenschaften und Mathematik, da forschungsbasierte Ergebnisse in die Aus- und Fortbildung von Wiener Volksschullehrer/innen einfließen.

5.1.2. Interpretation, Diskussion und Konsequenzen für das Fachdidaktikzentrum

Der Sach- und Mathematikunterricht läuft an Wiener Volksschulen in hohem Ausmaß strukturiert ab, denn nur 7% der befragten Lehrer/innen geben an, dass ihr Unterricht lediglich manchmal bzw. selten oder sogar nie strukturiert ablaufe. Es herrscht darüber hinaus aus Sicht der Lehrer/innen ein hohes Ausmaß an klaren Regeln für Arbeitsaufgaben.

Hier besteht also kaum Handlungsbedarf des Zentrums, denn diese Aspekte sind bereits

zentraler Bestandteil der fachdidaktischen und unterrichtspraktischen Studien im Zuge der Lehrer/innenausbildung.

Zwei Interpretationsmöglichkeiten lässt hingegen die Tatsache zu, dass etwas mehr als die Hälfte der Lehrer/innen (53%) angeben, den Schüler/innen „(fast) immer“ „genau jenes Material zur Verfügung zu stellen, das sie gerade brauchen“. Einerseits kann dies häufige Materialausstattung des Unterrichts bedeuten, andererseits kann damit aber auch gemeint sein, dass der Rest der Lehrpersonen Kinder zum Beispiel in Büchern, im Internet etc.

recherchieren bzw. Aufgabenstellungen kooperativ bearbeiten lassen. Lerninhalte nach Interesse, Arbeitspartner/innen bei der Bearbeitung von Aufgaben und zeitliche Rahmenbedingungen können von Schüler/innen nur manchmal mitbestimmt werden.

Es besteht ferner ein schwacher, aber signifikanter Zusammenhang zwischen Offenheit des Unterrichts: Mit steigendem Dienstalter sinkt das Angebot an offenen Unterrichtsformen („offene Lernumgebung mit mehreren verschiedenen Lernangeboten“). Bei Differenzierung bzw. Individualisierung ist kein statistisch signifikanter Zusammenhang zum Dienstalter erkennbar, wohl aber die Tendenz, dass mit steigendem Dienstalter die Individualisierungsmaßnahmen geringer werden. Hier erscheinen fachliche, didaktische und methodische Angebote des Zentrums geboten, die vor allem auf methodisch korrekten, nicht nur aus auszufüllenden Arbeitsblättern bestehenden Stationenbetrieb abzielen. Ebenso scheint eine Auffrischung von Individualisierungs- und Differenzierungsmaßnahmen geboten.

Bei der anschließend durchgeführten Faktorenanalyse der Unterrichtaspekte konnte mit vier extrahierten Faktoren ein Anteil von 40% der Varianz der ursprünglich 20 Variablen erklärt werden. Die Bezeichnung der vier Faktoren folgte einerseits der inhaltlichen Interpretation, andererseits der Höhe und Richtung der einzelnen Faktorladungen: „Individualisierung“,

„Anleitung / Strukturierung“, „Autonomie / Stationenbetrieb“ und „zeitliche Reglementierung“.

Mittels einer hierarchischen Clusteranalyse mit vorgeschalteter Hauptkomponentenanalyse wurden aus den einzelnen Unterrichtsaspekten fünf Unterrichtsstiltypen gebildet, deren Komplexität groß ist, weswegen eine einfache Benennung eher in die Irre führt, als Klärung verschafft. Mit den statistisch gebildeten fünf Unterrichtsstiltypen konnten Zusammenhänge zu dem Geschlecht der Lehrperson, dem Dienstalter, der Schulstufe sowie des Unterrichts in Mehrstufenklassen bzw. Integrationsklassen berechnet werden.

Zwischen Unterrichtsstilen und Geschlecht der Lehrperson konnte kein Zusammenhang gefunden werden, wohl aber beim Dienstalter.

Der Unterrichtsstiltyp 3 (geschlossener, unterdurchschnittlich individualisierter Unterricht mit weniger Anleitung und Strukturierung, geringste Häufigkeit von Stationenbetrieb und überdurchschnittlicher zeitlicher Reglementierung) tritt gehäuft im Dienstalter von einem bis fünf Jahren auf. Eine Tendenz, die gegen die Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen läuft, an denen während des Studiums offener, individualisierter Unterricht mit

Stationenbetrieb und höherer Zeitautonomie für Schüler/innen in Theorie und Praxis vermittelt sowie auch an den Praxis- und Besuchsschulen umgesetzt wird. Es ist zu vermuten, dass ein Teil der Junglehrer/innen aufgrund von eigenen Sicherheitsüberlegungen geleitet sich auf einen eher „traditionellen“ Unterricht (geschlossen, wenig individualisiert etc.) verlegt. Dass diese Junglehrer/innen auch einen anderen Unterrichtsstil beherrschen, zeigen jene Ergebnisse, dass Unterrichtsstiltyp 4 (offener Unterricht mit durchschnittlicher Individualisierung, unterdurchschnittlichem Ausmaß an Regulierung und Strukturierung, relativ höchster Autonomie, häufigstem Stationenbetrieb und stärkster zeitlicher Reglementierung) eher in Gruppen mit niedrigem Dienstalter zu finden ist. Das deutet darauf hin, dass dieser Unterrichtsstil den Junglehrer/innen sehr wohl geläufig ist und dieser auch von dieser Gruppe umgesetzt wird, weil sie sich – salopp formuliert – auch trauen. Und: Typ 5 (offener Unterricht mit durchschnittlicher Individualisierung, dem geringsten Ausmaß an Anleitung und Strukturierung, hoher Autonomie, häufigem Stationenbetrieb und der geringsten zeitlichen Reglementierung) hat die höchsten Realisierungsanteile in den Altersgruppen bis fünf Dienstjahre und über 25 Dienstjahre. Auch der letztgenannte Typ deutet – vorsichtig interpretiert – auf ein hohes Ausmaß der Übertragung von Autoritätsfunktion der Lehrpersonen auf die Kinder hin, und ist bezeichnender Weise in jungen Dienstjahren (weil dies in der Ausbildung erfahren wurde) und in höheren Dienstjahren (weil ein hohes Maß an Sicherheit durch Erfahrung im Unterricht gegeben ist) überproportional häufig anzutreffen. Ein Fortbildungsangebot des Zentrums könnte sich an jene Junglehrer/innen richten, die zwar Maßnahmen wie Individualisierung, Differenzierung, Stationenbetrieb etc. in ihrer Ausbildung gelernt haben, diese jedoch (noch) kaum umsetzen.

Signifikant unterrepräsentiert ist Unterrichtsstiltyp 3 (geschlossener, unterdurchschnittlich individualisierter Unterricht mit weniger Anleitung und Strukturierung, geringste Häufigkeit von Stationenbetrieb und überdurchschnittlicher zeitlicher Reglementierung) in den ersten beiden Klassen im Sach- und Mathematikunterricht vertreten. Dies könnte durch das Fachdidaktikzentrum dadurch kompensiert werden, dass gerade für die 1. und 2. Schulstufe Fortbildungsveranstaltungen angeboten werden, in denen die Bedeutung und Umsetzung offener und individualisierter Unterrichtsphasen erarbeitet werden.

Mehrstufenklassen weisen an sich ein hohes Ausmaß an Heterogenität in Bezug auf Alter, soziale Reife, Fertigkeiten, Wissen etc. auf. Signifikant häufig sind hier die Unterrichtsstiltypen 1 (offener, relativ am stärksten individualisierter Unterricht mit hohem Ausmaß an Anleitung und Strukturierung, durchschnittlicher Autonomie der Schüler/innen, durchschnittlicher Häufigkeit von Stationenbetrieb und zeitlicher Reglementierung) und 5 (offener Unterricht mit durchschnittlicher Individualisierung, dem geringsten Ausmaß an Anleitung und Strukturierung, hoher Autonomie, häufigem Stationenbetrieb und der geringsten zeitlichen Reglementierung) vertreten.

Daraus kann abgeleitet werden, dass in Mehrstufenklassen das Ausmaß

 der Offenheit des Unterrichts hoch,

 der Individualisierung von Unterrichtsarrangements durchschnittlich bis hoch ist,

 das Ausmaß der Anleitung und Strukturierung gering bis durchschnittlich hoch ist,

 die Autonomie der Schüler/innen durchschnittlich bis hoch ist,

 Stationenbetriebe durchschnittlich bis überdurchschnittlich häufig eingesetzt werden,

 und die zeitliche Reglementierung durchschnittlich bis gering ist.

Also verläuft der Unterricht in Wiener Mehrstufenklassen der Primarstufe grosso modo überproportional offen, individualisiert, schüler/innenautonom und zeitautonom sowie gleich oft oder öfter mit Stationenbetrieben. Dazu passt auch das Ergebnis, dass die Unterrichtsstiltypen 2 (geschlossener, unterdurchschnittlich individualisierter Unterricht mit hohem Ausmaß an Anleitung und Strukturierung, etwas erhöhter Autonomie und Häufigkeit von Stationenbetrieb und unterdurchschnittlichem Ausmaß an zeitlicher Reglementierung) und 3 (geschlossener, unterdurchschnittlich individualisierter Unterricht mit weniger Anleitung und Strukturierung, geringste Häufigkeit von Stationenbetrieb und überdurchschnittlicher zeitlicher Reglementierung) kaum an Wiener Mehrstufenklassen vertreten sind. Der Handlungsbedarf des Zentrums in Bezug auf spezifische Angebote für Mehrstufenklassen scheint daher gering zu sein.

Weiters – und auch dieses Ergebnis fügt sich stimmig in die obigen Ausführungen ein – ist der Unterrichtsstiltyp 5 (offener Unterricht mit durchschnittlicher Individualisierung, dem geringsten Ausmaß an Anleitung und Strukturierung, hoher Autonomie, häufigem Stationenbetrieb und der geringsten zeitlichen Reglementierung) überdurchschnittlich häufig in Integrationsklassen vertreten. Dies lässt sich im Hinblick auf spezifische Integrations- und Inklusionsmaßnahmen dahingehend interpretieren, dass Kinder in Integrationsklassen überdurchschnittlich oft offenen, individualisierten Unterricht mit hoher allgemeiner und zeitlicher Autonomie erleben.