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5. Interpretation ausgewählter zentraler Studienergebnisse

5.3. Sprachdefizite als Hemmschuh auch in Mathematik

5.3.2. Interpretation und Diskussion

Es ist anhand der quantitativen Datenauswertung nachzuvollziehen, dass Lehrer/innen mit vermehrtem Anteil an Schüler/innen mit sprachlichen Verständnisschwierigkeiten in ihrem Mathematikunterricht reagieren. Die Tatsache, dass Schüler/innen in einer Klasse Probleme haben bei der korrekten Anwendung der Unterrichtssprache Deutsch bzw. beim Verstehen der Unterrichtssprache Deutsch bringt die Notwendigkeit einer Adaptierung des Unterrichts mit sich. Dies muss sowohl hinsichtlich der Methoden als auch der didaktischen Überlegungen passieren. In der vorliegenden Analyse lässt sich eine Tendenz im Lehrer/innenverhalten feststellen, die nicht konform geht mit den Ideen und Überlegungen der aktuellen fachmathematischen Diskussion. Auf diesen Widerspruch sei an dieser Stelle näher eingegangen und dieser soll auch Gegenstand der Diskussion sein.

Auch die im Rahmen des Forschungsprojekts durchgeführten Interviews können oben genannte Überlegungen bestätigen. Mehrere Interviewpartner/innen betonen, dass die Kinder mehr und mehr ein freies und eigenständiges Arbeiten besonders schätzen. Dabei treten natürlich dann besondere Anforderungen an die Gestaltung der Unterrichtseinheiten auf. „Freies Arbeiten“ kann eine gute Methodik sein, um auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der einzelnen Schüler/innen eingehen zu können. Mehr als die Hälfte der Interviewpartner/innen betonen, dass es sehr oft Anwendungen mit einem klaren Bezug zum Alltag und Lebensumfeld der Schüler/innen sind, die bei den Kindern das Interesse für Mathematik wecken. Auch mathematische Denksportaufgaben (Rechenrätsel, Knobelaufgaben, Sudoku etc.) mit einer spielerischen, aber dennoch herausfordernden Grundstimmung sind bei den Kindern besonders beliebt.

Es wurde von allen Interviewpartner/innen angesprochen, dass Sprachprobleme, nicht nur, aber schwerpunktmäßig von Kindern mit nicht-deutscher Erstsprache, ein besonderes Problem bei der Erfassung von Textaufgaben bzw. Sachbeispielen darstellen. Das bedeutet, dass besonders genau unterschieden werden muss, ob das Kind „mathematische Probleme“

(Probleme bei der Erfassung der mathematischen Lehrinhalte) hat oder bedingt durch die sprachlichen Probleme bzw. die in der Problemstellung verwendeten Begriffe die mathematische Fragestellung nicht erfasst und daher das Beispiel nicht bzw. nicht richtig lösen kann. Von den Interviewpartner/innen wird vermehrt darauf hingewiesen, dass es die – oft schwerwiegenden- sprachlichen Probleme von Kindern mit nicht-deutscher Erstsprache fast unmöglich, aber zumindest äußerst schwierig – machen, überhaupt die mathematische Aufgabenstellung klar und begreiflich zu machen. Dabei wird auch übereinstimmend festgestellt, dass Kinder mit größeren sprachlichen Problemen auch rasch das Interesse am Mathematikunterricht verlieren. Nicht weil sie weniger intelligent oder für Mathematik minder begabt wären, sondern, weil sie die gestellten Fragen und Aufgaben nicht verstehen. Hier

wird von vielen die Beistellung von muttersprachlichen Assistenzlehrer/innen als Lösung angesprochen.

Wesentlich ist die spezifische Sprache der einzelnen Lehrpersonen, wobei auch der Körpersprache im Unterricht besondere Bedeutung zukommt. Durch den kommunikativen Austausch des Lehrers/der Lehrerin mit den Schüler/innen sowohl verbal als auch körperlich können sprachliche Kompetenzen weiter entwickelt und gefördert werden. Dabei spielen Blickkontakt, offene Körperhaltung und kontrollierter Spracheinsatz eine Rolle. Geschulte Lehrer/innen können diese Aspekte gezielt im Unterricht anwenden. Dies kann allerdings nur in intensiv-sprachlichen Unterrichtsgestaltungen geschehen, wird demnach im wenig interaktiven Unterricht nicht zum Einsatz kommen können (vgl. HEIDEMANN 2007; OSUCH

2011, S. 335). Dabei ist auch ein wesentlicher Punkt die Fähigkeit einer Lehrperson, gezielt Fragen zu stellen und Schüler/innen zu gezielten Nachdenkprozessen zu animieren. Die richtig gestellte Frage im richtigen Augenblick steht in direktem Zusammenhang mit dem Augenblick des Verstehens beim/bei der Schüler/in.

„Wenn Lehrer Schülern die richtigen Fragen stellen, regen sie einen tiefgehenden Denkprozess an und ermutigen zu kritischem Denken und Einsichten. Lehrer, die diese Fragetechniken für ihren Unterricht nutzen, ermöglichen den Schülern tiefere Erkenntnisprozesse und unterstützen diese dabei, sich selbst Fragen zu stellen“ (CECIL

2007, S. 9).

In den Bildungsstandards für den Mathematikunterricht spielt die Kompetenz „Argumentieren und Begründen“ eine große Rolle. Diese Kompetenz leistet einen wichtigen Beitrag zur Gesamtentwicklung der Kinder im Allgemeinen und zum Verständnis mathematischer Strukturen und Hintergründe im Speziellen. Argumentieren heißt, dass die Schüler/innen mathematische Zusammenhänge entdecken sollen, über ihre Entdeckungen Vermutungen anstellen, sich dazu äußern und diese Vermutungen auch begründen. Die Kinder werden demzufolge auch beim Mathematiklernen dazu aufgefordert, ihre Gedankengänge zu begründen und Lösungswege zu argumentieren. Konkret bedeutet dies der Frage nachzugehen, welche Aufgaben nun geeignet sind, diese Argumentationsfähigkeiten sowohl für hochbegabte Kinder als auch für rechenschwache Kinder oder Kinder mit sprachlichen Verständnisschwierigkeiten zu fördern bzw. zu entwickeln. Dieser Punkt spielt die zentrale Rolle in der aktuellen Diskussion. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass ein großes Angebot an „Forscherfragen“ und damit verbunden ein hohes Ausmaß an freien Arbeitsphasen, um diesen Fragen entsprechend nachgehen zu können, die Kompetenzen der Schüler/innen hinsichtlich ihrer kommunikativen als auch ihrer repräsentativen Fähigkeiten entwickelt und fördert (vgl. BEZOLD 2008, S. 35f.).

Man kann vermuten, dass Lehrer/innen mit einem hohen Anteil an Kindern mit sprachlichen Verständnisschwierigkeiten dazu neigen, den Unterricht stärker zu reglementieren und weniger Raum für „Forscherfragen“ zu geben.

Dabei ist es genau der Schritt in die Selbstständigkeit, der es den Schüler/innen ermöglicht, ihre bereits vorhandenen Fähigkeiten auszubauen und weiter zu entwickeln. Bei Kindern mit sprachlichen Verständnisschwierigkeiten bedeutet dies, dass sie in der ihnen zum aktuellen Zeitpunkt möglichen Form mathematisch arbeiten und forschen können und im Anschluss daran angehalten sind, die Ergebnisse dieser „Forschung“ anderen mitzuteilen. Der Anreiz ist damit also durchaus vermehrt gegeben sich sprachlich korrekt mitzuteilen. In Klassen mit vielen sprachlich ungeschulten Schüler/innen bedeutet dies einen zeitlich sicherlich hohen Aufwand. Es müssen mehr als sonst Möglichkeiten des Austausches untereinander geboten werden, Gesprächskreise (Mathekonferenzen, Präsentationen etc.) brauchen sicherlich länger und die Kommunikation muss sehr intensiv und genau laufen, um sprachliche Missverständnisse weitestgehend zu vermeiden bzw. aufzuklären. Dabei wird es unter den Lehrer/innen zu sehr unterschiedlichen Auffassungen von Selbstständigkeit geben, wie man dies auch bei MARAS nachlesen kann: „Begrifflich gesehen erhält Selbstständigkeit einen hohen Anspruch. Sie ist gekennzeichnet durch eigene Überlegungen, Fragestellungen, Schlussfolgerungen, Argumente, Bedürfnisse, Zielsetzungen, Bewertungen oder Urteile und durch die eigene Wahl von Methoden, Mitteln oder Maßnahmen zur Erreichung der Ziele. Im schulischen Alltag wie auch bei der Beurteilung von Unterricht wird Selbstständigkeit jedoch in einer Bandbreite von der eng begrenzten, angewiesenen Tätigkeit bis hin zu sehr weiten Handlungsspielräumen verwendet“ (MARAS 2008, S. 53).

Für die Lehrperson an sich ist es also unerlässlich und gleichsam eine Bedingung für den Unterricht, das Verständnis von Selbsttätigkeit zu klären. Schüler/innenäußerungen gewinnen zunehmend an Bedeutung, können aber nicht als alleiniges Instrument zur Feststellung der Entwicklung und zur Leistungsfeststellung herangezogen werden.

Zielvorgaben und strukturierter Unterricht sind nach wie vor pädagogisch sinnvoll, um den individuellen Lernfortschritt der Schüler/innen auch inhaltlich zu überblicken und zu dokumentieren. Beim Erlernen neuer mathematischer Inhalte brauchen die Schüler/innen die Möglichkeit, dieses neue Wissen strukturiert einzuordnen, um in weiterer Folge die erworbenen Kompetenzen in komplexeren Zusammenhängen wieder abrufen zu können.

Dieses Wechselspiel von Strukturierung und Selbstständigkeit ist die pädagogische Herausforderung an die Lehrer/innen. Ob die Strukturierung dabei vorher, nachher oder während des Unterrichts erfolgt, bleibt offen. In der selbstständigen Auseinandersetzung mit den mathematischen Problemsetzungen erfahren die Schüler/innen ihre eigenen Möglichkeiten, stoßen aber auch an ihre eigenen Grenzen. Durch den anschließenden Austausch mit anderen wird der eigene Horizont erweitert. Dies setzt ein gemeinsames sprachliches Verständnis voraus, wobei im Mathematikunterricht konkret die Chance

besteht, anhand der gemeinsamen mathematischen Sprache und einer einheitlichen mathematischen Begrifflichkeit gemeinsames Basiswissen zu erkennen, zu entwickeln und zu fördern (vgl. RUF & GALLIN 2010).

Das Alltagswissen der Schüler/innen ist in sprachlicher Hinsicht meist in ausreichender Form vorhanden bzw. kann vor allem in der Volksschule gut entwickelt werden. Probleme haben die Schüler/innen in den meisten Fällen beim Verstehen der Texte in Sachaufgaben oder komplexeren Anleitungen. Darauf muss der Mathematikunterricht entsprechend reagieren und vermehrt daran ansetzen, diese Problempunkte gezielt mit den Schüler/innen zu bearbeiten. Die Verwendung mathematischer Fachausdrücke ist in diesem Zusammenhang durchaus erwünscht und gefordert, bedingt aber entsprechender Behandlung im Unterricht.

Dasselbe gilt für sprachliche Anforderungen bezogen auf allgemeine Formulierungen, die aber für das Verständnis mathematischer Problemstellungen unbedingt erforderlich sind.

Es ist also für den/die Lehrer/in wieder unumgehbar sowohl fachliches als auch sprachliches Wissen und Können im Unterricht zu entwickeln und zu fördern, wenn sprachliches Wissen nicht als Voraussetzung gegeben ist. Dazu bedarf es eines veränderten Bildes von Professionalität im Lehrberuf sowie einiger brauchbarer neuer Konzepte und Materialien.

Nicht zuletzt aber ist es wieder ein Aufruf an die Bildungspolitik, den Lehrer/innen strukturell und institutionell unterstützend unter die Arme zu greifen und durch entsprechende personelle Ressourcen vermehrt Chancen einzuräumen, mit den Schüler/innen im Unterricht allgemeine sprachliche (mathematische) Kompetenzen ebenso zu entwickeln wie inhaltliche mathematische Kompetenzen.