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5. Interpretation ausgewählter zentraler Studienergebnisse

5.4. Sortierungsmechanismen von Wiener Volksschüler/innen nach ihrer Bildungsherkunft

ChristianFRIDRICH &GerhardPAULINGER

5.4.1. Zur Bedeutung sozialer Ungleichheiten in der Klasse

Nicht erst seit den PISA-Studien sind die Auswirkungen von sozialen Ungleichheiten und damit Chancenungleichheiten unserer Schüler/innen ein heiß diskutiertes Thema. Da die ersten Lebensjahre von Menschen eine wichtige Grundlage für Lern- und Bildungspotenziale darstellen, können in diesen Lern- und Entwicklungsphasen generierte Defizite nicht behoben, sondern (nur) mit hohen Anstrengungen gemildert werden (vgl. GANSEN 2009, S.193). Dementsprechend groß ist die Verantwortung von Schule und allen Beteiligten, diese Chancen zu ergreifen und kompensierend zu wirken. Betrachtet man allerdings die Befunde, so tritt Ernüchterung ein. Bildungssysteme selektieren und reproduzieren soziale Ungleichheit eher, als sie zu fördern. Dies betrifft in besonderem Maße Kinder mit Migrationshintergrund (vgl. AUERNHEIMER 2006). Wobei die Frage zu stellen ist, inwieweit und wie lange sich dies eine Gesellschaft auf Dauer leisten kann. Nicht nur, dass menschliches Leid zum Beispiel durch Arbeitslosigkeit generiert oder verstärkt wird und damit die gesellschaftliche Kohäsion geschwächt wird (siehe die Jugendproteste in London, Paris, Spanien, Nordafrika etc.), sondern dass auch durch die schwächere Teilhabe am Bildungssystem ein wichtiger Schlüssel zur Integration suboptimal genutzt wird (vgl. WEISS &

UNTERWURZACHER 2007, S. 227). In besonderem Maße betrifft dies die Grundstufe unseres Bildungssystems: Eine Studie zeigt nämlich, dass sowohl Kinder mit Migrationshintergrund als auch Kinder „primär nach der sozialen Herkunft ‚sortiert‘ [werden]“ (ebd., S. 241).

Daher stellt sich die grundsätzliche Frage, in wieweit an Wiener Volksschulen bereits jetzt ausgleichende Maßnahmen im Sinne einer Förderung von Kindern getroffen werden.

Gezeigt wird dies am Beispiel des Sach- und Mathematikunterrichts, über welchen im Rahmen der gegenständlichen empirischen Studie „Zum IST-Stand des naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichts an Volksschulen und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Lehrer/innenaus- und -fortbildung“ empirisch gestützte Aussagen getroffen werden können. Als Basis für Fragestellungen und Untersuchungsergebnisse soll im folgenden Kapitel auf den Zusammenhang zwischen Bildungsherkunft der Kinder, finanziellen Problemen und sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten eingegangen werden.

5.4.2. Zusammenhang zwischen Bildungsherkunft der Kinder, finanziellen Problemen und sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten

Die drei Merkmale (Bildungsherkunft, sprachliche Verständnisschwierigkeiten und finanzielle Probleme) korrelieren relativ hoch miteinander: Bildungsherkunft und sprachliche Verständnisschwierigkeiten mit r=-0,52 (mit steigendem Anteil von Schüler/innen mit höherer Bildungsherkunft, sinkt tendenziell der Anteil von Schüler/innen mit sprachlichen Verständnisschwierigkeiten). Der Anteil von Kindern mit finanziellen Problemen sinkt mit steigender Bildungsherkunft (r=-0,44). Die Anteile von Kindern mit sprachlichen Verständnisschwierigkeiten bzw. mit finanziellen Problemen korrelieren dagegen positiv (r=0,41) – je höher der Anteil von Kindern mit sprachlichen Verständnisschwierigkeiten, desto höher ist im Schnitt auch der Anteil von Kindern mit finanziellen Problemen bei Lehrausgängen.

5.4.3. Diskussion und Handlungsbedarf

Kinder mit sprachlichen Verständnisschwierigkeiten und finanziellen Problemen in der Familie stammen zu einem signifikant hohen Teil aus bildungsfernen Familien. Es konnte gezeigt werden, dass die Häufigkeit von Aspekten der Anleitung und Strukturierung des Unterrichts mit dem Anteil von Kindern mit Sprachschwierigkeiten zunimmt, während das Ausmaß von Schüler/innenautonomie und die Häufigkeit von Stationenbetrieben sinken.

Lehrende begründen diese erhöhten lehrer/innenzentrierten Maßnahmen in teilstrukturierten Interviews mit der Notwendigkeit der Unterstützung von Lernprozessen und der erhöhten Orientierung von Schüler/innen. Gleichzeitig, so könnte der Einwand lauten, nimmt jedoch entdeckendes Lernen und Kreativität auf Seiten der Schüler/innen ab. Detailanalysen bestätigen diese Ergebnisse: In Klassen, in denen sich sprachliche und finanzielle Schwierigkeiten kumulieren, wird den Schüler/innen öfter ein fixer Arbeitsplatz vorgegeben, die Kinder dürfen sich weniger oft ihre Arbeit frei einteilen und Unterrichtsinhalte werden in Klassen mit sprachlichen und finanziellen Schwierigkeiten öfter genau vorgezeigt und erklärt.

Auch folgender Zusammenhang konnte festgestellt werden: Je höher das nötige Ausmaß der Individualisierung des Unterrichts ist, desto öfter wird jedem Kind ein eigenes Angebot zur Verfügung gestellt. Das heißt, die innere Differenzierung nimmt eine deutlich größere Bedeutung ein.

Der erste aus diesen Befunden abzuleitende Handlungsbedarf bezieht sich auf jene konkreten Angebote des Fachdidaktikzentrums für Naturwissenschaften und Mathematik der PH Wien, mit Hilfe derer die Kolleg/innen das Ausmaß der Schüler/innenautonomie sowie den Anteil von offenen Unterrichtsformen auch in Klassen mit einem hohen Anteil von Kindern mit sprachlichen Verständnisschwierigkeiten wieder steigern können. Denn

besonders für sozioökonomisch benachteiligte Kinder ist es bedeutsam, Zeit- und Arbeitsautonomie schrittweise zu erarbeiten.

Beim Vergleich des Unterrichtstiltyps in Klassen mit unterschiedlichem Anteil von Kindern mit höherer Bildungsherkunft zeigt sich ein interessantes Bild: In Klassen mit geringem Anteil (bis 25%) von „bildungsnahen“ Kindern, aber auch in Klassen mit einem hohen Anteil (mit mehr als 75%) von „bildungsnahen Kindern“ wird überdurchschnittlich oft mit geschlossenen Unterrichtarrangements unterrichtet. Für die erstgenannte Gruppe wurden die Gründe bereits oben ausgeführt. Für die zweite Gruppe lässt sich vermuten, dass es sich in vielen Fällen um Privatschulen handelt, in denen ein hohes Ausmaß an Inhaltsvermittlung bedeutend ist.

Statistisch signifikante Unterschiede zwischen Klassen mit einerseits geringen, andererseits gebündelten sprachlichen und finanziellen Schwierigkeiten bestehen hinsichtlich der Durchführbarkeit des Unterrichts: Mehr als doppelt so viele Lehrer/innen in Klassen mit hohem Anteil von Kindern mit Sprach- und finanziellen Problemen geben an, dass sie den Unterricht nicht wunschgemäß durchführen könnten. Doch nicht nur die Quantität, auch die Qualität der Durchführbarkeit des Unterrichts differieren. Aus der Sicht der Lehrer/innen in diesen Klassen resultieren die Probleme aus der Klassenzusammensetzung (hoher Anteil von Kindern mit Sprach- und finanziellen Problemen), auf die nicht durch eine entsprechende bzw. ausreichende Anpassung der räumlichen, materiellen und personellen Ausstattung der Schule reagiert wird. Die Begründung ist einsichtig, wenn der erhöhte Platz-, Material und Personalbedarf von Schüler/innen bei verschiedenen Differenzierungsmaßnahmen bedacht wird. Anders die Sichtweise der Lehrer/innen in Klassen mit einem geringen Anteil von Kindern mit Sprach- und finanziellen Problemen. Hier stehen die angegebenen Gründe eher einem „besseren Unterricht“ im Wege, während Sie in Klassen mit einem höheren Problemausmaß die Durchführung von Unterricht überhaupt schwer zu behindern scheinen.

Eine vergleichende Analyse in zwei etwa gleich großen Kontrastgruppen von Klassen bestätigt diese Resultate. Einerseits wurde eine Gruppe von Klassen mit relativ geringen sprachlichen und finanziellen Problemen (jeweils weniger als 1% angegebenem Anteil) gebildet, andererseits eine Gruppe von Klassen, in denen sich sprachliche Verständnisprobleme und finanzielle Schwierigkeiten bündeln, das heißt, jeweils mindestens ein Drittel (>33%) der Klasse betreffen. Die Unterschiede in der Zufriedenheit mit der Ausstattung der Schule im Bereich des Mathematik- und Sachunterrichts zwischen Lehrer/innen in Klassen von „Typ <1%“ und „Typ >33%“sind hoch und statistisch signifikant.

Dies lässt zwei Interpretationen zu: Zum Einen sind die Klassen sind je nach Zusammensetzung (sprachliche, finanzielle Schwierigkeiten, bzw. Bildungsherkunft) unterschiedlich gut mit Unterrichts-Materialien ausgestattet. Wenn man bedenkt, dass in Klassen bzw. Schulen Kinder ohne sprachliche und finanzielle Probleme aus sozioökonomisch gut gestellten Familien stammen, die zum Beispiel höhere

Elternvereinsbeiträge bezahlen können, wird die bessere Ausstattung dieser Schulen verständlich. Zum Anderen wird von Kolleg/innen beklagt, dass es an Ausstattung mit adäquaten Unterrichtsmaterialien für Klassen mangelt, in denen die Anteile von Kindern mit sprachlichen Verständnisschwierigkeiten, also oftmals nicht-deutscher Muttersprache, finanziellen Problemen und bildungsfernen Milieus hoch sind. Hier scheint die Ausstattung der Klassen nicht auf die jeweilige Klassenzusammensetzung und Problemlage abgestimmt zu sein. Dies ist ein weiterer Auftrag für das Fachdidaktikzentrum: Wie von den Lehrer/innen bereits an anderer Stelle gefordert (vgl. den Beitrag über Erwartungen an das Zentrum in diesem Band), wird es notwendig sein, auf vielfältige Weise diesem Mangel an geeignetem Material in Fortbildungsveranstaltungen für derartige Klasse gezielt entgegenzutreten.

Dies wird besonders Kindern aus „bildungsfernen“ Milieus entgegenkommen und sie in ihrem Lernprozess unterstützen und fördern. Auch wenn – wie eingangs ausgeführt – die in frühen Lern- und Entwicklungsphasen erzeugten Defizite nicht behoben werden können, so kann das Zentrum mit adäquaten Fortbildungsmaßnahmen die Kolleg/innen an den Wiener Volksschulen bei ihrer wertvollen und wichtigen Arbeit unterstützen, diese Defizite bei Kindern aus „bildungsfernen“ Familien abzumildern.

5.5. Überwiegend reproduzierendes Lernverhalten im