• Keine Ergebnisse gefunden

Zeichentheoretischer Hintergrund

Im Dokument Grammatologie der Schrift des Fremden (Seite 110-113)

Kapitel IV: Chinesische Schrift und philosophische Ordnung. Gottfried Wilhelm Leibniz

IV.3. Chinesische Schriftzeichen als Universalcharakter? Leibniz und die

VI.3.2. Zeichentheoretischer Hintergrund

Leibniz’ Gedanke einer Universalcharakteristik und sein damit zusammenhängendes Interesse an der chinesischen Schrift basieren auf einem philosophischen Hintergrund, der in der Wendung des Zeichenverständnisses seiner Zeit zum Ausdruck kommt. Bei dieser Wendung in der Auffassung von Zeichen bzw. Symbolen, die Sybille Krämer als „Übergang von einem

‚ontologischen‘ zu einem ‚operativen Symbolismus‘“378nennt, handelt es sich um die Entstehung der Idee von der operativen Schrift, die ein anderes Verhältnis der Zeichen zu ihrer Bedeutung impliziert.

Der erste Schritt zu diesem „Umbruch im wissenschaftlichen Symbolgebrauch in der Neuzeit“379, wie Sybille Krämer sagt, gelang zunächst durch das Erkennen des arbiträren Charakters der Zeichen bzw. Symbole. Dies war u.a. in der Logik von Port-Royal zu beobachten, die Antoine Arnauld 1685 als Lehrbuch für seinen Orden verfasst hat und die das neue Zeichenverständnis repräsentativ vertritt. Hier wird vor allem auf den willkürlichen Charakter der Zeichen verwiesen. „(I)n der Tat ist es rein willkürlich, diese Idee an diesen Laut eher als an einen anderen zu heften.“380 Die Verbindung eines Lautzeichens, eines Wortes mit einer bestimmten Idee, etwa der des Denkens, sei eine ursprünglich willkürliche, durch Gewohnheit verfestigte Konvention. „Denn dieses Bild des Lautes ‚Denken‘, das wir in unserer Einbildungskraft erzeugen, ist keineswegs das Bild des Denkens selbst, sondern eben nur eines Schalls; und es dient nur dazu, das Sich-Vorstellen des Denkens zu bewerkstelligen, und zwar insofern, als auf Grund der Gewohnheit der Seele, sich beim Vorstellen dieses Lautes auch das Denken selbst vorzustellen, sie gleichzeitig eine rein geistige Idee des Denkens bildet, die mit der des Lautes nichts zu tun hat, die aber lediglich wegen der Gewohnheit mit ihm verbunden wird.“381

Dieser Gedanke, dass Wörter und Zeichen nur willkürliche Mittel sind, die wir an die Stelle der Sache gesetzt haben, impliziert bereits ein anderes Verhältnis des Zeichens zur

376 Leibniz an Bouvet , Juni (?) 1706, in: Widmaier 2006, S. 531.

377 Leibniz’ Anmerkungen zu Bourguets Brief, 1. Hälfte Dezember 1707, in: Widmaier 2006, S. 583.

378 Krämer 1997, S. 111.

379 Krämer 1997, S. 111.

380 Arnauld 1685, S. 31.

381 Arnauld 1685, S. 34.

Erkenntnis als zuvor. Im 16. Jahrhundert bestand das Erkennen darin, auf den Dingen niedergelegte Zeichen aufzudecken, somit „ihre Geheimnisse, ihre Natur oder ihre Kräfte an den Tag“ 382 zu bringen. Die Bedeutung der Zeichen verliehen die Dinge selbst, die unabhängig von Erkenntnis in der Welt aufgeteilt wurden; die Zeichen waren ihrerseits selber Teile der Dinge383 und eine Gestalt der Welt,384 die durch Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten verbunden war; sie konnten demnach nicht konventionell oder arbiträr sein, weil sie „im voraus von Gott selbst in der Welt aufgeteilte Sprache“385 waren, die „durch die festen und geheimnisvollen Bänder der Ähnlichkeit oder Affinität“386 die Dinge markierte. Nun, im klassischen Zeitalter, werden „die Zeichen … von dem ganzen Gewimmel der Welt befreit“.387 Sie sind nicht mehr eine materielle Schrift der Dinge oder eine Manifestation der Korrespondenz dessen, was zum Universum gehört, sondern eine Repräsentation.

Auch bei Leibniz, dessen Konzept von symbolischer Erkenntnis den Kern damaliger Zeichentheorie wiedergibt, bilden die Abwendung von der Beschaffenheit der Zeichen und die Zuwendung zur ihrer operativen Funktionalität den Zentralpunkt. Für den langjährigen Brieffreund von Antoine Arnauld stützt sich auch die Verknüpfung eines Zeichens mit einem Gegenstand bloß auf arbiträre Definition. Zwischen dem Zeichen und der dadurch bezeichneten Sache besteht keine notwendige Ähnlichkeit, wie Leibniz am Beispiel von Zahlen und geometrischen Figuren veranschaulicht. Beim Kreis auf dem Papier ist es „gar nicht vonnöten“, dass er eine bestimmte Ähnlichkeit mit dem wirklichen Kreis hat, „sondern es genügt, dass er für uns die Stelle des Kreises vertritt.“388 Ebensowenig ist es notwendig, dass eine Ähnlichkeit zwischen der Zehnzahl und dem Zeichen ‚10‘ besteht.389 Denn Zeichen sind bloß das geistige Werkzeug, mit dessen Hilfe wir zu einer Erkenntnis gelangen, wofür aber die Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten nicht notwendig ist. Man erreicht immer dasselbe Ergebnis, gleichgültig, ob man sich des Dezimal- oder des Duodezimalsystems bedient, wenn man nur den syntaktischen Ordnungsregeln richtig folgt. So folgert Leibniz, um zu einem richtigen Ergebnis zu gelangen, brauchten die dazu verwendeten Zeichen „keine Ähnlichkeit mit den Dingen zu haben“.390

Das Erkennen der reinen Willkürlichkeit der Symbole und Zeichen darf aber nicht so missverstanden werden, als hätten im Denken des 17. Jahrhunderts die Zeichen oder Symbole

382 Foucault 1966, S. 92.

383 Foucault 1966, S. 169f.

384 Foucault 1966, S. 92.

385 Foucault 1966, S. 92.

386 Foucault 1966, S. 92.

387 Foucault 1966, S. 83.

388 Leibniz 1677, S. 19.

389 Leibniz 1677, S. 19.

390 Leibniz 1677, S. 19.

keine wichtige Rolle gespielt. Ganz im Gegenteil. Die Wahrheitssuche in dieser Zeit war mehr denn je von den Zeichen abhängig, denn „der Begriff ‚operativer Symbolismus‘

akzentuiert … die Überzeugung, dass die sinnlich wahrnehmbaren Symbole gegenüber dem, was sie repräsentieren, primär sind, dass also die symbolisierten Gegenstände erst durch den Akt symbolischer Bezugnahme hervorgebracht werden … Nicht mehr verleihen die Dinge den Zeichen ihre Bedeutung, vielmehr konstituieren die Zeichen die Dinge überhaupt erst als epistemische Gegenstände.“391 Eine Erkenntnis gewinnt man erst durch Zeichenoperationen, in denen die Zeichen als Mittel oder Instrument verwendet werden, wie es in der Arithmetik, Geographie und generell in der Mathematik der Fall ist.

Wenn aber zwischen dem Zeichen und seinem Bezeichneten keine notwendige Verbindung besteht, wodurch soll dann die Gültigkeit einer Zeichenoperation wie des Rechnens gewährleistet sein? Durch das Verhältnis der Sache, das nicht in der arbiträren Zeichenfigur selbst, sondern in der „Verknüpfung und Anordnung der Charaktere“392 zum Ausdruck komme. „Wenngleich die Charaktere als solche willkürlich sind, so kommt dennoch in ihrer Anwendung und Verknüpfung etwas zur Geltung, was nicht mehr willkürlich ist; nämlich ein Verhältnis, das zwischen ihnen und den Dingen besteht, und damit auch bestimmte Beziehungen zwischen all den verschiedenen Charakteren, die zum Ausdruck derselben Dinge dienen. Und dieses Verhältnis, diese Beziehung ist die Grundlage der Wahrheit.“393

Mit dieser Verlagerung des Orts der Wahrheit von den Dingen oder der Beschaffenheit der Zeichen auf das Verhältnis und die Relation derselben entsteht eine andere Methode der Erkenntnis. Denn die Wahrheit kann nicht in Dingen oder in Zeichen selber angeschaut, sondern erst durch eine Operation der Zeichen ermittelt werden. Die Beziehung des Zeichens zu seinem Inhalt, die nunmehr zur ‚Grundlage der Wahrheit‘ erklärt wird, ist nicht in den Zeichen selbst im Voraus zu finden. Vielmehr konstituiert sich die Wahrheit erst durch den Akt der Erkenntnis und existiert nur in dessen Innerem. Erst im Akt des Erkennens entsteht das Verhältnis des Zeichens zu seinem Inhalt, nämlich eine Zeichenvorstellung und die Beziehung des Zeichens zu seinem Bezeichneten, indem eine Vorstellung einer Sache mit der Vorstellung einer anderen verbunden wird. Die Erkenntnis wird demnach als ein aktives Eingreifen des Geistes aufgefasst, der eine Sache durch symbolische Bezugnahme als epistemischen Gegenstand hervorbringt394; zunächst ist dabei die Sache in Zeichen zu

391 Krämer 1997, S. 111.

392 Leibniz 1667, S. 20.

393 Leibniz 1667, S. 19-20.

394 Krämer 1997, S. 111.

übersetzen, um diese hernach miteinander zu verbinden, auf verschiedene Weise zu kombinieren und zu analysieren. Erkenntnis ergibt sich als Resultat dieses Operierens mit Zeichen, wie es in der Mathematik oder Algebra der Fall ist. Dieser ‚operative Symbolismus‘

verband daher das Zeichen untrennbar mit der Methode der Analyse. Denn die Zeichen, die

„im Inneren der Repräsentation, im Zwischenraum der Idee, in jenem schmalen Raum“395 angesiedelt sind, werden durch Analyse, durch den diskursiven Akt der Erkenntnis396 erforscht, um die Wahrheit aus ihren Verhältnissen und Beziehungen zu gewinnen. Obwohl die Analysemethode, die Zerlegung des Zeichens in seine Teile, bereits seit langem praktiziert worden war,397 war es erst die neue Zeichenauffassung, die diesem Verfahren neuen Schwung gab, indem sie die Beliebigkeit der Zeichen erkannte und die Zeichen zum wichtigsten operativen Mittel des Erkennens erhob. So wurde die Analyse, die vorher nur „das pädagogische Übungsmodell zur Zerlegung vorbildlicher Texte in ihre Bestandteile, in die Regeln“398 gewesen war, erst seit dem 17. Jahrhundert zur dominierenden Methode der Wissenschaft.

Im Dokument Grammatologie der Schrift des Fremden (Seite 110-113)