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Historisch-anthropologische Perspektive im Sprachdenken

Im Dokument Grammatologie der Schrift des Fremden (Seite 138-141)

Kapitel V: Der chinesische Weg zum Alphabet

V.1. Die Entstehung des modernen historischen Denkens

V.1.2. Historisch-anthropologische Perspektive im Sprachdenken

Bezug auf das Sprachdenken zeigt sich unter anderem darin, dass die Sprache nicht mehr gedacht wird, als sei sie von Gott oder von der Natur in Vollkommenheit gegeben, sondern als etwas Geschichtliches, das sich im Prozess gegenseitiger Wechselwirkung von Empfindung und Denken entwickelt. Während im 17. Jahrhundert die Sprache „nach universalen Denkprinzipien, die die Welt zeitlos ordneten und erklärten“ 479, untersucht wurde, entwickelt sich nun eine Betrachtungsweise, die Sprache bzw. Schrift nicht als gegeben, sondern als etwas historisch Erworbenes sieht. Diese Veränderung lässt sich mit Jürgen Trabant als Wandel des Ortes der Sprache bezeichnen; der Ort der Sprache, der vorher in der Natur war, hat sich nun in die Kultur verschoben. 480 Die Sprache, die zuvor als Natur, daher keiner Geschichte bedürftig und daher an sich ahistorisch gedacht worden war, wird nun mit der Historizität beladen.

Der Weg zum historischen Denken der Sprache wurde u.a. von der sensualistischen Sprachauffassung eröffnet, für die der berühmte Essay von John Locke (1632-1704) An Essay concerning Human Understanding (1690) schon den Weg bereitet hatte. Ausgehend von dem empirischen Standpunkt, die Quelle der Ideen seien die menschlichen Sinne (sensation), womit Locke die cartesianische These der angeborenen Idee ablehnt, plädiert er für die

475 Lepenies 1976, S. 26f. und Lepenies 1982, S. 286-287.

476 Lepenies 1976, S. 50.

477 Lepenies 1976, S. 26.

478 Lepenies 1982, S. 286-287.

479 Borst 1960, S. 1263.

480 Vgl. Trabant 1998, S. 15 f.

individuelle, ja im Prinzip willkürliche Zuordnung von Wort und Bedeutung. Obwohl Locke immer noch behauptet, dass Gott dem Menschen die Sprache gab (furnished), „da aber nur das Sprachvermögen, nicht die sprachliche Form von Gott kommt, verkündet die Sprache keine ewigen oder angeborenen Ideen; der Mensch hat sie sich selbst gemacht, die Dinge nach Belieben mit willkürlich gewählten Zeichen seiner Vorstellungen benannt und kann von ihr daher keine Offenbarungen erwarten.“481 Im Gegensatz zu der Vorstellung, dass Sprachen nur Nomenklaturen für universell identische Konzepte seien482, vertritt daher Locke die Ansicht, dass die verschiedenen Sprachen die Idee jeweils auf verschiedene Art und Weise konzeptualisieren und sogar die Wörter, „die in verschiedenen Sprachen völlig gleich zu sein scheinen …, doch in den verschiedenen Sprachen verschiedene Bedeutungen haben.“483

Sprache hat keine angeborene, apriorische Genesis, sondern sie entsteht vielmehr in einem diachronischen Prozess unter Zusammenwirkung der sinnlichen Erfahrungen. Dieser empirische Ansatz wird von Etienne Bonnot de Condillac (1715-1780) in seinem sehr erfolgreichen Essai über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis aus dem Jahre 1746 bis zu vollen Konsequenz radikalisiert. Für ihn sind die Sinnesempfindungen die einzige Quelle der menschlichen Erkenntnisse. Der menschliche Geist entwickelt sich durch den Prozess der gegenseitigen Wechselwirkung der Empfindung mit dem Denken, wobei die Sprache, genauer aber das Zeichen ein unentbehrliches Mittel ist, das Gedachte festzuhalten und die Operation des Denkens zu unterstützen. Ohne Sprache oder Zeichen ist eine höhere Entfaltung des Denkens nicht möglich, gleichzeitig entfalten sich Arten und Formen der Sprache auch mit der Entwicklung des Denkens. So wird die Sprache bzw. werden die Zeichen bei Condillac systematisch in die Entwicklung des Geistes, im „Vergeistigungsprozess“ integriert, „an dessen Ende die Vernunft steht.“484

Damit ist der wichtige Punkt angesprochen, der das Sprachdenken des 18.

Jahrhunderts von dem früheren wesentlich unterscheidet: Historizität der Sprache und Sprache als Ausdruck des menschlichen Geistes. In dem Maße, wie die Sprache mit der Entwicklung des Geistes in Verbindung gebracht und demnach wesentlich als etwas Historisches gedacht wird, verschwindet die alte Vorstellung einer ersten adamischen Sprache des Menschen. Im 18. Jahrhundert wich die Fragestellung, welche Sprache als Ursprache identifiziert werden könne, der sprachvergleichenden Untersuchung, in der es darum geht, die Verschiedenheit der Sprachen als historisches Faktum anzunehmen und aus ihnen jeweils den

481 Borst 1961, S. 1396-97.

482 Trabant 2003, S. 164.

483 Trabant 2003, S. 163.

484 Trabant 2003, S. 170.

Charakter und die Entwicklung des Volksgeistes abzulesen. Für die Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie ist dies ein wichtiger Wendepunkt, denn dadurch wird der bis dahin nie bezweifelte Grundsatz, „dass alles Ältere und Ursprungsnähere einen höheren Wahrheitsanspruch besitzt gegenüber dem Jüngeren und Abgeleiteten“ 485 durch die anthropologisch geprägte komparative Methode ersetzt. Dass die Sprache nicht von Gott oder der Natur in einer vollkommenen Form gegeben sei, sondern sich aufgrund der Wechselwirkung der Empfindungen des Menschen mit dem Denken allmählich durch die Praxis vieler Generationen entwickelt haben müsse, bedeutet, dass die primitive Sprache des Menschen weder in sich vollkommen noch für die Wahrheit tauglich ist, sondern vielmehr einfach und primitiv. Die im 17. Jahrhundert mit großem Eifer gesuchte Ursprache erweist sich im historischen Sprachdenken des 18. Jahrhunderts als die primitivste Sprache, die weit davon entfernt ist, die vollkommenste zu sein. Sie ist im Gegenteil die rohste und einfachste.

Eine mögliche erste Sprache, die nichts anderes als die ältere Sprache ist, wäre lediglich eine anfängliche, daher noch unentwickelte Sprache, aus der die nachfolgende, bessere sich entwickelt hat. Damit wurde die Anfänglichkeit der Sprache bzw. der Schrift von deren Perfektheit oder Vollkommenheit getrennt.

Der untrennbare Zusammenhang zwischen Sprache bzw. Zeichen und der Entwicklung des Geistes, der bei Condillac angesprochen wird, eröffnet auch eine Perspektive, in der die Verschiedenheit der Sprachen, die man zuvor nur für die unterschiedlichen Bezeichnungen des universell gleichen Denkens hielt, auf die unterschiedliche Beschaffenheit des Geistes zu beziehen ist. Die Verschiedenheit der Sprachen wird demnach auf die Verschiedenheit der Lebensweisen der Völker zurückgeführt, die unter ihren jeweiligen natürlichen und geschichtlichen Bedingungen ihre Sprache entwickelt haben sollen.486 Ihre Unterschiede reflektieren also die Verschiedenheit der geschichtlichen Erfahrungen der Völker, die in ihren Sprachen eingeprägt sein müssen. „Die Gründe für die Verschiedenheit der Sprachgeister werden übrigens in den natürlichen (Klima) und in den historisch-sozialen Umständen (gouvernement) gesucht, die den ‚Charakter eines Volkes‘ prägen, der sich dann seinerseits im génie seiner Sprache manifestiere. Die Verbindung zwischen der ‚Mentalität‘ eines Volkes und seiner Sprache wird hier etabliert.“487

485 Assmann 1997, S. 134.

486 Borst 1961, S. 1397.

487 Trabant 2003, S. 176.

Im Dokument Grammatologie der Schrift des Fremden (Seite 138-141)