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2. 3 . Chinesische Schrift als unvollendetete Alphabetschrift

Im Dokument Grammatologie der Schrift des Fremden (Seite 148-151)

Kapitel V: Der chinesische Weg zum Alphabet

V. 2. 3 . Chinesische Schrift als unvollendetete Alphabetschrift

Wie steht es nun aber mit der chinesischen Schrift, um die es hier eigentlich geht? Warburton ordnet sie ebenfalls einer Entwicklungsstufe der Schrift zu, und zwar als eine weitere Stufe der Abkürzung der Bilder. Während die Hieroglyphen als „eine Verbesserung einer vorhergehenden Mahlern Schrift“ die „charakteristische Kennzeichen mit den Bildern und Figuren verknüpfete“, ging die chinesische Schreibungsart nun „noch weiter, warf die Bilder weg, und behielte bloß die zusammengezogenen Zeichen, welche sie auf eine erstauende Anzahl vermehreten.“524 So besitzt die chinesische Schrift im Hinblick auf die allgemeine Historie des Schreibens, „von der Mahlerey an, bis auf die Buchstaben“525, eine mittlere Position zwischen Hieroglyphen und Buchstabenschrift. „Denn die chinesischen Zeichen, welche eines theils die Natur und Beschaffenheit der Egyptischen Hieroglyphen, und anderen Theils die Natur der Buchstaben an sich haben … sind von den eigentlichen Buchstaben nicht

523 Dieckmann 1970, S. 15.

524 Warburton 1738-1741, S. 16.

525 Warburton 1738-1741, S. 19.

mehr weit entfernet; indem ein Alphabet nichts anders ist, als eine zusammengezogene Abkürzung jener beschwerlichen Vielfältigkeit.“526

In dieser theologisch und teleologisch eingerichteten Geschichte der Schrift wurde die chinesische Schrift aufgrund ihrer Unfigürlichkeit in die Nähe des Alphabets gebracht, näher als die Hieroglyphen, weil sie abstrakter als diese ist. Da aber die Positionierung der chinesischen Schrift als Mittelglied in einer allgemeinen Entwicklung von den Hieroglyphen zum Alphabet erfolgt ist, einer Entwicklung, die die Verschiedenheit der Schriften aus einem notwendigen Fortschreiten von den anfänglichen, unbequemsten Bilderschriften bis zur Buchstabenschrift erklärt, stellt das chinesische Schriftsystem an sich noch keinen besonderen Fortschritt dar, weil sie noch nicht ans Ziel, nämlich das einer bildlosen Buchstabenschrift gelangt, vielmehr immer noch mit einer bedenklichen Bildlichkeit belastet ist. Warburtons Platzierung rückt daher die chinesische Schrift, die zuvor von J. Bouvet oder Leibniz als eine chiffrenähnliche Begriffsschrift ausgelegt worden war, wieder auf die Seite des Bildes, setzt sie somit erneuert dem ikonoklastischen Verdacht aus, worauf wir später zu sprechen kommen.

Um zu veranschaulichen, dass die chinesische Schrift trotz ihrer Verunstaltung immer noch die Spur der Bilder in sich trage, zieht Warburton die uns bereits vertraute Bildtabelle heran, die zuvor Athanasius Kircher in China Illustrata zu demselben Zweck verwendet hatte.

[Abbild 20] Zu dieser Bildtabelle schreibt Warburton: „Die Gestalten und Figuren dieser Zeichen, unerachtet sie jetzt ganz verunstaltet sind, so verraten sie noch ihren Ursprung, welchen sie aus der Malern und von den Bildern haben; wie der Leser leicht begreifen kann, wenn er seine Augen auf die Probe werfen will, welche uns Kircher davon gegeben.“527 Kirchers Bildtabelle wird hier dazu verwendet, dem Leser zu veranschaulichen, dass trotz der Nähe zum abstrakten Buchstabe der Ursprung der chinesischen Schrift in Bildern der Dinge liege. Eingeführt als ein unleugbares Beweismaterial, befestigt diese Bildtabelle das Dogma der Bildlichkeit chinesischer Schrift, das besagt, die chinesischen Schriftzeichen stammten eigentlich aus Dingfiguren, jenes Dogma also, von dem Warburtons Theorie der Universalgeschichte der Schrift ebenfalls ausgegangen ist.

Dieser Rückgriff auf Kirchers Bildtabelle zeigt, dass Warburton trotz seines kritischen Abstands zu Kircher dessen bildschriftliche Voreingenommenheit hinsichtlich der chinesischen Schrift aufnimmt, somit auch die negative Einstellung gegenüber dem Chinesischen. Denn es stellt sich heraus, dass für Warburton die chinesische Schrift als Mittelstation auf dem Weg zum Buchstaben nichts anderes als ein Beweis für eine ungünstige

526 Warburton 1738-1741, S. 20.

527 Warburton 1738-1741, S. 17.

Unterbrechung der Schriftentwicklung ist. Die chinesischen Schriftzeichen als

„zusammengezogene und künstlichere Hieroglyphen“ 528 werden nicht gänzlich den Buchstaben zugeordnet, unterscheiden sich aber doch als eine Übergangsform der notwendigen Entwicklung von den Hieroglyphen. Es handelt sich um ein Überbleibsel des Alten, gemischt mit den Sporen des Neuen. Für Warburton stellt sich der chinesische Mittelweg als eine Unterbrechung, ja als ein Aufgeben der weiteren Entwicklung dar, als eine Spur des gescheiterten Forschritts, die in diesem Zwischenzustand zu verbleiben verdammt ist. Diese negative Charakterisierung der chinesischen Schrift bei Warburton offenbart sich, wenn die folgende Frage gestellt wird: Wenn die Entwicklung der Schrift vom Bild zum Buchstaben ein notwendiger Vorgang ist, der allein dem natürlichen Verbesserungstrieb des Menschen folgt, warum haben die Chinesen dann ihre unbequeme Bilderschrift nicht zur Buchstabenschrift verbessert?

Dass die amerikanischen Ureinwohner sich mit ihrer primitiven Bilderschrift zufriedengaben, erklärt Warburton mit der relativ geringen historischen Dauer ihrer Kultur, die nämlich zu kurz gewesen sei, um die Bilderschrift zu Hieroglyphen, geschweige denn zu Buchstaben zu verbessern.529 Dagegen hatten die Chinesen mit ihrer tausendjährigen Geschichte doch genügend Zeit, um ihre Schrift zu Buchstaben weiterzuentwickeln. Aber warum bedienen sie sich immer noch der unvollendeten Buchstabenschrift? An einer Stelle verweist Warburton auf die Natur und das Temperament der Chinesen als Grund dafür, dass sie wie die Ägypter bei der figürlichen Art der Schrift geblieben sind: „Die Chineser, wie wir gesehen haben, bedienten sich dieser Art zu schreiben, so wohl als die Egypter … Ihre Schreibart, wie wir sehen, ist kurz und figürlich … Denn die Natur ist einförmig. Das kalte phlegmatische Temperament der Chineser macht ihre Schreibart kurz und laconisch, und den Gebrauch ihrer Hieroglyphen figürlich.“530 Doch der entscheidende Grund für ihr Festhalten am figürlichen Schreiben liegt weniger in ihrer natürlichen Umgebung als vielmehr im negativen Charakter des Volkes, nämlich im Mangel an Erneuerungssinn und in der geistigen Stagnation: „[D]as Chinesische, welches in einer gewaltiglangen Dauer die Mahlrerenschrift zu den Hieroglyphen und von den Hieroglyphen bis zu einfachen Zeichen gebracht, ist jetzt noch nicht, weil sie an Erfindungskraft arm sind, und den Umgang mit auswärtigen Völkern verabscheuen, im Stande gewesen, eine Abkürzung dieser Zeichen, vermittelt der Buchstaben, zu erfinden.“531 Die Chinesen, die mit ihrer Schrift zwar eine Stufe über die Hieroglyphen

528 Warburton 1738-1741, S. 17.

529 Warburton 1738-1741, S. 22-23.

530 Warburton 1738-1741, S. 134.

531 Warburton 1738-1741, S. 22-23.

hinausgegangen sind, seien gleichwohl dort stehen geblieben, und zwar wegen ihres Mangels an Erfindungskraft und ihrer notorischen Verschlossenheit. Chinesische Schrift als abgebrochenes Stadium der Entwicklung ist demnach ein Anzeichen für die chinesische Erfindungslosigkeit und den Mangel an Erneuerungssinn, der zur kulturellen Stagnation Chinas geführt haben soll.

Es zeigt sich hier noch einmal deutlich, dass die Auffassung und Bewertung der chinesischen Schrift mit der kulturellen Einschätzung Chinas stark korreliert. Die aus wissenschaftlicher Perspektive diagnostizierte Unterlegenheit des chinesischen Schriftsystems bezüglich seines Entwicklungsstands deckt sich mit dem negativen Chinabild, das seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts im Umlauf war532: Isolation und Stillstand in der Entwicklung.

Es wäre daher ratsam, hier einen Rückblick darauf zu werfen, auf welche Weise dieses negative Chinabild sich verfestigte.

V.2.4. Exkurs : Wandel im europäischen Chinabild :

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