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Étienne Fourmonts Radikallehre

Im Dokument Grammatologie der Schrift des Fremden (Seite 128-135)

Kapitel IV: Chinesische Schrift und philosophische Ordnung. Gottfried Wilhelm Leibniz

IV.4. Protosinologische Variante

IV.4.2. Étienne Fourmonts Radikallehre

Ähnlich wie alle anderen Sinologen der Zeit war auch Etienne Fourmont (1683-1745) zunächst als Professor der Orientalistik (des Arabischen) im Collège Royal dazu übergegangen, sich mit der chinesischen Sprache und Schrift zu beschäftigen. Nachdem eine Reihe seiner Studien zur chinesischen Sprache und Schrift erfolgreich rezipiert worden waren, wurde er zum ersten europäischen Gelehrten, der einen öffentlichen Chinesischkurs, der am 3.

März 1733 begann445, im Collège Royal halten durfte, lange bevor die Sinologie 1815 mit dem berühmten Sinologen Abel Rémusat (1788-1832) einen regulären Lehrstuhl erhielt.

Insofern zählt er zur ersten Generation der europäischen Sinologie.

Seine Auseinandersetzung mit dem Chinesischen begann mit seiner Schrift Les conjectures sur la première langue du monde, die er im Rahmen der Debatte über die adamische Sprache in der Académie des Inscriptions vortrug. Unter Bezugnahme auf die Theorie der Spracheentwicklung behauptet Fourmont, dass die Beschaffenheit der ersten Sprache monosyllabisch gewesen sein müsse und sich erst auf dieser Grundlage komplexere mehrsilbige Wörter entwickelt hätten. Diesen Gedanken der Evolution der Sprache vom einsilbigen Wort zur komplexen Komposition begründet er durch einen Vergleich mit Naturprozessen: „[A]s Nature begins generally by something simple and less complex, one cannot doubt that the first language was very simple and without any composition.“446 Und das Chinesische betrachtet er demnach als eine der ersten Sprachen: aus dem Grund, weil es monosyllabisch ist und seine Zeichen aus der Kombination einfacher Elementarzeichen gebildet seien. 447

Das Chinesische wegen seiner Einsilbigkeit der ersten Sprache zuzuordnen, war im Rahmen des Universalsprachediskurses nicht selten. Da es unter Bezugnahme auf die Bibel (Gen 2,19-20) als Merkmal der von Gott gegebenen adamischen Sprache galt, dass sie „pure,

445 Leung 2002, S. 248.

446 Leung 2002, S. 170.

447 Leung 2002, S. 165.

exact and utterly simple“ gewesen sei, wurde das Chinesische mit seinen einsilbigen Wörtern und kompositorischen Zeichen häufig als mögliche Lingua Adamica betrachtet. 448 Auch Voltaire (1694-1778) stand in dieser Linie, als er 1756 bemerkte: „[D]ie Sprache sei dem Menschen nicht angeboren, sie habe sich aus Schreien und Gesten, zunächst imparfait et barbare, langsam gebildet, erst allmählich verfeinert. Die älteste Sprache war einsilbig; das Chinesische ist ein Beispiel dafür.“449 Selbst noch am Anfang des 19. Jahrhunderts bringt der italienische Sinologe Antonio Montucci (1742-1829) das Chinesische wegen seiner Einfachheit mit der ersten Sprache in Verbindung. In Remarques philologiques sur les voyages en Chine de M. de Guignes (Berlin 1809) schreibt er: „In truth, when one thinks of the extreme simplicity of this language, one must believe that it (this language) can but have its origin in God.“450

Anders allerdings als die Figuristen, die wir im letzten Kapitel behandelt haben, folgert Etienne Fourmont aus seiner Festlegung, das Chinesische sei eine der ersten Sprachen, nicht, in ihm sei eine urchristliche Wahrheit aufzusuchen. Solches von der antiken Theologie geprägte Denken ist in seiner Zeit allmählich dem historischen Denken gewichen. Fourmonts Thematisierungsweise ist eher anthropologisch als theologisch. Am 14. April 1722 hielt er einen kurzen Vortrag „sur la littérature chinoise“ bei einer Zusammenkunft der Académie des inscriptions et belles-lettres in Paris, der seiner Knappheit zum Trotz – der überlieferte Text umfasst nicht mehr als eine halbe Seite! – ihm den Ruf eines weltweit führenden Experten des Chinesischen einbrachte.451 Fourmont schwärmt hier nicht wie Andreas Müller, dass er eine wundertätige Clavis bieten könne, mit dem jeder in kurzer Zeit die chinesische Schrift beherrschen könne, sondern behauptet lediglich, dass es in den Schriftzeichen des Chinesischen eine Systematik gebe und er sie gefunden habe.452 Fourmont vertritt die These, dass die chinesische Schrift von einem antiken chinesischen Philosophen auf der Grundlage einer gelungenen Kategorisierung des Seins erfunden worden sei, um die Idee und die Sache sowie die Auswirkung der Objekte auf das Denken auszudrücken.453 Eine Zusammenfassung seines Vortrags liefert uns der Akademiesekretär: „The Chinese script system is immense;

there are 80,000 characters; each thing has its own character; in reality they are hieroglyphs.

But according to M. Fourmont, the beautiful order the Chinese keep in composing their characters is a philosophical and a geometrical order, more analogical than obtaining in any

448 Vgl. Mungello 1985, S. 175.

449 Borst 1961, S. 1438.

450 Leung 2002, S. 171.

451 Lundbaek 1986, S. 105.

452 Lundbaek 1986, S. 106.

453 Leung 2002, S. 181.

other language. Because of this order the difficulty felt at first in the face of the innumerable character is considerably reduced. M. Fourmont asserts that the composition of the Chinese characters is the noblest achievement (effort) of the human race; there is no system in physics (système physique) that approaches it in perfection.“454

Wie man daraus leicht entnehmen kann, handelt es sich hier wiederum um die Kompositionsstruktur der chinesischen Schrift, die Fourmont als eine „wundervolle Ordnung“

bezeichnet. Sie war es auch gewesen, die Leibniz zu der Hoffnung veranlasste, in der chinesischen Schrift das Prinzip einer Universalcharakteristik zu finden. Jedoch stand Leibniz kein hinreichendes Wissen über die chinesische Schirft zur Verfügung, mit dessen Hilfe er seine Idee hätte weiter folgen können. Nach Leibniz erweiterte sich indes der Wissensbestand über die Schrift und Sprache Chinas beträchtlich, so dass Fourmont seine Entdeckung der Ordnung in der chinesischen Schrift mit etwas mehr Rückhalt in zuverlässigen Tatbeständen behaupten konnte. Aus der Tatsache, dass Fourmont in seinem Vortrag von den Determinativen (Radikalen) in der chinesischen Schrift spricht und auch deren Zahl mit 214 angibt, lässt sich rückschließen, dass ihm zumindest bereits das ein oder andere aktuelle chinesische Zeichenlexikon bekannt war.

Bei den Radikalen handelt es sich um eine Anzahl von Schriftzeichen, nach denen man die Vielzahl der chinesischen Schriftzeichen lexikalisch anordnet, weshalb sie auch Klassenzeichen genannt werden. Entstanden aus dem Bedürfnis nach Übersicht und Klassifikation der Zeichen, war das System der Radikale zum erstenmal in dem klassischen Zeichenlexikon Shou wen jie Zi 說文解字 aus dem Jahr 121 von Xu shen 許愼 (ca. 58 – ca.

147) dargelegt, in dem insgesamt 9353 chinesische Schriftzeichen nach 540 Radikalen angeordnet sind. Doch seit Beginn der Ming-Zeit (Ende des 14. Jahrhunderts) hatte sich ein System von 214 Radikalen durchgesetzt, das bis heute in ganz Ostasien als Standard gilt.455 In chinesischen Zeichenlexika sind alle Zeichen nach der Ordnung der Radikale aufgeführt, die ihrerseits nach der Strichzahl (1-17 Striche) durchnummeriert sind, so dass ein Zeichen auffindbar ist, wenn Radikal und Strichzahl bekannt sind. Entstanden zum lexikalischen Zweck, hat dieses Ordnungssystem aber mit der etymologischen Wurzel des Zeichens wenig zu tun, wenn auch die irreführende Bezeichnung ‚Radikal’ fälschlich dies suggeriert, wie der Sinolog Bernhard Karlgren hinweist.456

454 Histoire de l’Académie royale des inscriptions et belles-lettres, Vol. V., S. 312-19, zit. in: Lundbaek 1986, S.

105.

455Vgl. Klopfenstein-Ari 1992, S. 21. Einige moderne chinesische Wörterbücher verwenden allerdings statt der traditionellen 214 Radikale eine Liste von 224 oder 227 Radikalen.

456 Bernhard Kargren 1962, S. 44.

Unter Bezugnahme auf das Radikal spricht jedoch Fourmont von den chinesischen Schriftzeichen als „generativen Charakteren“ (les characterés génériques), die auf die philosophische Kategorisierung des Seins aufgebaut seien. Da die Radikale bei der Zusammensetzung des Zeichens sinntragende Schriftelemente sind, scheint die folgende Bemerkung Fourmonts im ersten Blick richtig zu sein: „There are separate keys for the man, the woman, the father, the mother, the sons, the daughters, the Prince, the subjects, heaven, earth, air, water, wood …, for the body, for frequently used limbs (like the foot), for the house, the heart, the animal species (like the horse), horned beats, and so on. Besides the simple denominations of beings, one can see under each characters for their propriety, their accidents, and even for their metaphorical attributes: e.g. under the generic character of mouth, are found characters for silence, speech, expressions of joy, complaints; under the character for heart, are found characters meaning thought, stupidity, happiness, sadness, love, hate; under the character horse, are characters meaning its species and qualities, like rapidity, ferocity etc.“457

Was Fourmont hier vor Augen hat, ist die Reihe der Schriftzeichen, die nach demselben Radikal geordnet sind. Zum Beispiel gelten die Schriftzeichen ‚Denken‘ 思,

‚Faulheit‘ 怠, ‚Trauer(n)‘ 悲, ‚Hass‘ 惡 oder ‚Liebe‘ 愛 aufgrund des gemeinsamen Radikalzeichens ‚Herz‘心 als einer lexikalischen Klasse zugehörig. Auch die Zeichen

‚Schweigen‘ 含, ‚Spucken‘ 吐, ‚sich freuen‘喜, und ‚klagen/sich beschweren‘叱 werden demselben Radikal ‚Mund‘ 口 zugeordnet. Aus der Tatsache, dass die Zeichen durch die Kombination des Radikals (das Fourmont für die Angabe der Kategorie des Bezeichneten hielt) mit dem Restzeichen gebildet sind, schließt Fourmont, es handle sich um ein geniales philosophisches System, funktionierend durch die Kombination der Radikale, die zunächst auf die ontologische Kategorie des Bezeichneten verweisen, mit den Restzeichen, die dann dem Bezeichneten eine weitere Bestimmung geben: „These characters are such that the combination of the strokes and the radicals express not only l’etere designed by this character, but each component of this character indicates the different proprieties of this same being, to the extent of including the abstract and metaphysical proprieties, which enable us to comprehend the complex idea that the character means. This type of real philosophical

457 Leung 2002, S. 182.

writing is the true definition of Chinese writing.“458 „This is the function of what I call

‚generic characters (les characterés génériques)‘“.459

Doch diese Schlussfolgerung Fourmonts zeigt deutlich, dass seine Auffassung von der Kompositionaität chinesischer Schrift in derselben Linie steht wie von Leibniz und Bayer.

Denn wie bereits erläutert folgt die Zusammensetzung von neun Zehntel chinesischer Schriftzeichen dem phonetischen Prinzip. Insofern dabei die Radikale die sinntragenden Elemente sind, ist zwischen den Schriftzeichen einer Klasse, also den Schriftzeichen mit demselben Radikal, ein gewisser semantischer Zusammenhang zu vermuten, wie es bei den oben genannten Schriftzeichen der Fall ist. Doch der andere Teil des Zeichens, der mit dem Radikal verknüpft wird, nämlich der Lautangeber gibt weder eine nähere Bestimmung zur Bedeutung noch eine tiefgehende Konnotation des Inhalts an, sondern nur, wie das zusammengesetzte Zeichen ausgesprochen werden soll, und hat demnach an dessen Bedeutung keinen Anteil. Zum Beispiel haben bei den Zeichen ‚Trauer(n)‘ 悲, ‚Faulheit‘ 怠,

‚Hass‘ 惡‚ ‚Liebe‘ 愛 die jeweils mit dem Bedeutungsträger (Radikal) ‚Herz‘ 心 zusammengesetzten Zeichen ‚nicht‘非, ‚alt‘台, ‚zweite‘ 亞,und ‚geben‘ 受 nur einen phonetischen Wert, ebenso wie bei den Zeichen ‚Schweigen‘ 含 und ‚Sprechen’ 吐 die jeweiligen Lautzeichen ‚jetzt‘ 今 und ‚Erde‘土 nur eine phonetische Funktion haben.

Außerdem ist die Zuordnung der Zeichen zu einem Radikal in den meisten Fällen rein traditionell und ziemlich willkürlich, ist also nur aus der historischen Entwicklung der Zeichen nachvollziehbar, wie anhand der historischen Veränderung der Zahl der Radikale festzustellen ist.

Dennoch hindert dies den führenden Protosinologen nicht, die chinesische Schrift wie Leibniz als ‚ein philosophisches Schreibsystem‘ aufzufassen, und zwar aufgrund der Überzeugung, der Zusammensetzung der Zeichen liege eine gewisse philosophische Systematik zugrunde. Doch zwischen Fourmont und Leibniz gibt es einen Unterschied. Hatte Leibniz gehofft, aus der Entschlüsselung jener Ordnung eine Möglichkeit der Formalisierung des Denkens gewinnen zu können, ist für Fourmont die vermeintliche Ordnung der chinesischen Schrift wie ein archäologischer Fund, aus dem sowohl das Denken des ersten Philosophen des Volkes, der die Sprache erfunden haben soll, als auch die Evolution der Kultur dieses Volkes herauszulesen ist. Was er in der chinesischen Schrift gefunden zu haben

458 Leung 2002, S. 171.

459 Leung 2002, S. 181.

glaubte, war weder eine verborgene antike Weisheit wie bei Joachim Bouvet noch eine allgemeine Ordnung des Denkens wie bei Leibniz, sondern eine Einschreibung des Prozesses, durch den diese Schrift hervorgebracht wird.

Die Schrift On the Meaning of the Chinese keys, joined in Sentences in the Order that Chinese Philosophers assigned to them, and by means of which one can establish that the aim of the Philosophers was to imply a brief history of the first humans and of their progress in Arts (Sur les sens que presentent les clefs chinoises, jointes en phrases dans l’arrangement que les philosophes chinois leur ont donné ou l’on prouve que le But de ces philosophes a esté dy renfermer un abbregé de l’histoire des Premiers hominis et du progress des arts) war, wie der Titel bereits hinreichend deutlich anzeigt, der Versuch Fourmonts, anhand der 214 Radikale die Evolution der chinesischen Zivilisation zu erklären, und zwar auf der Grundlage der Überzeugung, dass „the Chinese keys contain these two points, the image of life of the first humans and the invention of their arts, and approximately the order the Annals assign to them. “460 Fourmonts zivilisationsgeschichtliche Auslegung der Radikale beginnt mit dem Zeichen 人, clavis hominis. „In this contemplation of beings, the human at rest and putting himself in the state of tranquility, what does he notice in the other beings: 冂 (clavis rerum omnino coopertarum) things completely wrapped up as if hidden. 冖 (clavis tegminis partialis) others partially covered氵(aquae in guttas se resolventis) some fluid, and flowing, 几 (clavis scammorum et fulcrorum) others firm and solid; 女 (clavis mulierum) nothing touches him more closely than his wife; 子 (clavis filiationis) and his children; 宀 (clavis culminum et rerum cum culmine coopertarum) he strove first to give them shelter and food;

寸 (clavis digitorum et hinc quasi decem punctorum ac proinde perfectionis et contentionis ac

perficiendum) then to discipline them and give them ideas of perfection; 糸 (clavis serici) having overcome poverty, thy begin to work on silk; 岳 (clavis vasorim argillaeceorum) to mold clay and make porcelain; 网 (clavis retium, fraenorum, omnium que rerum in retis modum textarum) to knit reeds and make nets; 羊 (clavis ovium et caprarum) how many benefits can they make out of small herds of sheep and goats from which wool is obtained; 羽

460 Leung 2002, S.179.

(clavis alarum plumarumque) bird’s feathers; Here is what seems to be contained in these 214 Chinese keys: a summary of the primitive state of humankind and their progress relatively to arts and civility. This is, at least, what can be found in the annals, as I have shown in my two papers.“461

461 Leung 2002, S.177-78.

Im Dokument Grammatologie der Schrift des Fremden (Seite 128-135)