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Die vergessene christliche Wahrheit in der chinesischen Schirft

Im Dokument Grammatologie der Schrift des Fremden (Seite 121-124)

Kapitel IV: Chinesische Schrift und philosophische Ordnung. Gottfried Wilhelm Leibniz

IV.3. Chinesische Schriftzeichen als Universalcharakter? Leibniz und die

IV.3.5. Die vergessene christliche Wahrheit in der chinesischen Schirft

Wie in den vorherigen Kapiteln festgestellt, war der Logozentrismus des abendländischen Denkens mit dem theologisch begründeten Eurozentrismus untrennbar verbunden. In Bezug auf die chinesische Schrift zeigte sich dies darin, dass einerseits ihre Berührung mit der urchristlichen Wahrheit anerkannt wurde, ihr andererseits aber die Fähigkeit abgesprochen wurde, jene Wahrheit zu formulieren. Die Wahrheit des Fremden sollte nur im Diskurs des Eigenen formulierbar sein.424 Bei dieser Wiederaneignung der Wahrheit des Fremden kam eine Logik des Verfalls zum Zuge, indem man behauptete, die eigentliche christliche

420 Friedrich 2003, S. 89-116.

421 Genette 2001, S. 402.

422 Derrida 1967, S. 134.

423 Derrida 1967, S. 139f.

424 Vgl. Böhme 1988, S. 41.

Wahrheit sei in China inzwischen verloren gegangen oder kontaminiert worden, so dass sie nur von abendländischer Seite wiederhergestellt werden könne. So enthielt der sinophile Gestus, wie wir bei den Figuristen wie Joachim Bouvet festgestellt haben, mit Blick auf die chinesische Schrift eine gewisse Ambivalenz.

Bei Leibniz vollzieht sich dies durch seine Rückführung des Hexagramms und der chinesischen Schrift auf denselben Ursprung. Die Tatsache, dass nicht jedes chinesische Schriftzeichen sich auf die von ihm erwartete Weise als eine Gedankenkombination erläutern lässt, was eigentlich daraus ergibt, dass die Zusammensetzung des Zeichens sich im Grunde phonetisch vollzieht, hätte Leibniz nicht besonderes gestört, weil er wie auch Bouvet davon ausgegangen ist, dass die ursprüngliche innere Logik, nach der die Zeichen aneinander verknüpft und angeordnet werden müssten, im Laufe der Zeit verloren gegangen sei. Die Hexagramme, von denen die gängigen chinesischen Schriftzeichen abstammen müssten,

„wären“, so spricht auch Leibniz etwa vorsichtiger, „im Laufe der Zeit … aber verfälscht worden, bedingt sowohl durch die Art, wie das Volk damit umgeht … als auch durch den Einfluss jener, die Ursachen [der Form] und System der Zeichen nicht mehr kannten und diese daher ihren spielerischen Assoziationen anpassten, die ihrerseits in Metaphern oder noch flüchtigeren Beziehungen begründet sind … Wahrscheinlich haben auch verschiedene Fürsten oder Philosophen mehrfach die Schriftzeichen reformiert, um sie zu verbessern. Da man dabei aber nicht immer sozusagen dieselben grammatischen oder etymologischen Gesetze beachtete, sind die Ursprünge [der Zeichen] zuletzt vollends verdunkelt worden, noch mehr als in den gebrochenen Linien des Fuxi, deren [richtiges] Verständnis man verloren hatte und das wir soeben wiederentdeckt haben.“425

Leibniz’ Entdeckung der Korrelation zwischen der binären Arithmetik und dem Prinzip des Hexagramms im Yijing führt ihn einerseits dazu, dem legendären Kaiser Fuxi, dem vermeintlichen Erfinder des Hexagramms, einen urchristlichen Status kosmogonischer Weisheit zu geben, der es ermöglichen sollte, sich der universalen Wahrheit der Dinge zu bemächtigen. Doch diese Zuerkennung einer chinesischen Urtheologie geht einher mit der Aberkennung der Fähigkeit des Chinesen, jene Wahrheit, die in seiner eigenen Kultur festgestellt wurde, zu erkennen. Die Urwahrheit, die sich sowohl im Hexagramm als auch in der chinesischen Schrift als dessen entarteter Form verbergen soll, wird von den Chinesen selbst nicht verstanden : „I think the substance of the ancient theology of the Chinese is intact and, purged of additional errors, can be harnessed to the great truths of the Christian religion.

Fohi, the most ancient prince and philosopher of the Chinese, had understood the origin of

425 Leibniz an Joachim Bouvet, 18. Mai 1703. In Rita Widmaier 2006, S. 413.

things from unity and nothing, i.e. his mysterious figures reveal something of an analogy to Creation, containing the binary arithmetic (and yet hinting at great things) that I rediscovered after so many thousands of years, where all numbers are written by only two notations, 0 and 1 … The figure of Fohi also signify two, four, eight, sixteen, thirty-two, sixty-four … which all the Chinese until now did not understand, but which the Reverend Father Bouvet correctly noticed corresponds to my binary arithmetic.“426

Leibniz’ Feststellungen in Hinsicht auf die chinesische Philosophie, dass den antiken Chinesen der wahre Gott, den sie mit dem Wort Shangdi bezeichneten, bekannt gewesen sei427, dass ihr Begriff von Li als dem Grund aller Dinge mit der Gottheit des Christentums übereinstimme 428 und sich daher die chinesische Philosophie insgesamt als reinem Christentum zuordnen lasse429, schließlich auch seine Bewertung, dass die antiken Chinesen

‚sowohl in der Moralität als auch in der Wissenschaft den Zeitgenossen weit überlegen waren‘430, gelten nicht für das gegenwärtige, faktisch vorhandene chinesische Reich, von dem behauptet wurde, all die alte Seligkeit und wundersame Weisheit sei entweder verloren oder verdunkelt worden. Ebenso seien auch die arithmetischen Gesetze, die dem Hexagramm und infolgedessen auch der chinesischen Schrift zugrunde gelegen haben mussten, so Leibniz, verloren gegangen, und „later Chinese have not taken care to think of them in this (arithmetical) way and they have made of these characters of Fohi some kind of symbols and Hieroglyphs, as one customarily does when one had strayed from the true meaning.“431

Es muss daher die Aufgabe der europäischen Christen sein, sich darum zu bemühen, das so vergessene, verlorengegangene, seinem Ursprung nach christliche Geheimnis in der chinesischen Schrift wie im Hexagramm mit Hilfe europäischer Wissenschaft zu entschlüsseln, um dadurch die Rückkehr der Chinesen zu ihrem eigenen christlichen Ursprung vorzubereiten. So beteuert Leibniz, „(d)as wäre ein großartiges Mittel, die Chinesen an dieser Erfindung Geschmack finden zu lassen und an dieser geheimnisvollen Art Schrift, die vielleicht das beste erdenkliche Mittel wäre, um die Wahrheit des Christentums mit Hilfe der Vernunft zu erweisen.“432 Im selben Gestus ermutigt Leibniz im Brief vom 18. Mai 1703 den China-Missionar Joachim Bouvet: „Wenn Sie feststellen, dass die Chinesen von heute keinerlei Kenntnis von diesem Kalkül haben, werden Euer Ehrwürden sich beim Kaiser selbst und den wichtigsten chinesischen Gelehrten getrost selbst das Verdienst zuschreiben dürfen,

426 Leibniz 1708, S.72-73.

427 Leibniz 1715-1716, S.102-103.

428 Leibniz 1716, S.89.

429 Leibniz 1715-1716, S.105.

430 Leibniz 1715-1716, S. 133-134.

431 Leibniz 1715-1716, S. 133-134.

432 Leibniz an Bouvet, 15. Februar 1701, in: Widmaier 2006, S. 317-319.

das wahre Verständnis der Figur des Fuxi und seiner gebrochenen Linien entschlüsselt zu haben, mit Hilfe einer neuen Entdeckung aus Europa über die Art, mit 0 und 1 zu rechnen.

Das sollte meiner Meinung nach nicht wenig Eindruck machen und bei den Chinesen mit der Wertschätzung der europäischen Wissenschaft auch die unserer Religion heben. Eben dieser Umstand sollte sie in gespannte Erwartung der noch verborgenen Geheimnisse versetzen, deren Entdeckung noch aussteht, und wird uns sogar freie Bahn schaffen, eine neue Charakteristik zu ersinnen, die als Fortführung derjenigen des Fuxi erscheinen und den Anfang der Analyse der Ideen liefern wird und des von mir geplanten wunderbaren Kalküls der Vernunft. Diese geheime und geheiligte Charakteristik würde es uns auch ermöglichen, den Chinesen die wichtigsten Wahrheiten der Philosophie und der natürlichen Theologie nahezubringen, um ihnen den Weg zur geoffenbarten Wahrheit zu bahnen.“433

Im Dokument Grammatologie der Schrift des Fremden (Seite 121-124)