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Desillusionierung

Im Dokument Grammatologie der Schrift des Fremden (Seite 117-121)

Kapitel IV: Chinesische Schrift und philosophische Ordnung. Gottfried Wilhelm Leibniz

IV.3. Chinesische Schriftzeichen als Universalcharakter? Leibniz und die

IV.3.4. Desillusionierung

Leibniz’ Interesse beschränkte sich aber nicht nur auf die Hexagramme. Es erweiterte sich auch auf die chinesischen Schriftzeichen. Denn obwohl die Hexagramme nicht mit den chinesischen Schriftzeichen gleichen, die die Chinesen in ihrer alltäglichen Kommunikation verwenden, ist er gleichwohl davon ausgegangen, dass diese beiden Schriftsysteme in einer tiefen Beziehung zueinander stehen müssten. Was das Verhältnis des Hexagramms zum chinesischen Schriftzeichen angeht, übernimmt Leibniz die Meinung von Bouvet, es handle sich bei der chinesischen Schrift um das entartete, seinem ursprünglichen Gesetz entfremdete Hexagramm.411 Diese im Grunde theologisch bedingte Ansicht Bouvets sieht Leibniz dadurch bestätigt, dass zwischen beiden Zeichensystemen eine wesentliche Analogie besteht, und zwar durch das kombinatorische Prinzip. Ebenso wie das Hexagramm durch Kombination zweier

408 Strasser 1988, S. 241.

409 Leibniz an Bouvet, 18. Mai 1703, in: Widmaier 2006, S. 413.

410 Holz 2000, S. 122.

411 Bouvet an Leibniz, 4. November 1707, in: Widmaier 2006, S. 341.

Elementarzeichen alle anderen Begriffe repräsentiert, dachte Leibniz, so leistet dies auch die chinesische Schrift, deren Zeichen durch die Kombination von Elementarzeichen gebildet werden. Daher erscheint Leibniz auch die chinesische Schrift mit ihrer angeblichen Kombinationsstruktur als eine Schrift, mit deren Hilfe man die Gedanken schriftlich formalisieren und auch operationalisieren kann. Denn sie scheint ihm eine Schrift zu sein,

„die – anders als die phonetische Schrift – auf Begriffe, also kognitive Gegenstände Bezug nimmt und mit diesen zugleich auch operiert, somit als Kalkül organisiert ist.“412

Trozt seiner zeichentheoretischen Grundlage taucht in Leibniz’ Vermutung, in der kompositorischen Zeichenbildung chinesischer Schrift eine mögliche Realisierung seiner Charakteristik finden zu können, die die komplexeren Idee oder Begriffe durch Kombination der fundamentalen Begriffe zu repräsentieren hat, der alte Ansatz wieder auf, der in der Kompositionalität chinesischer Schrift eine Art von Gedankenkomposition wahrgenommen zu haben glaubte: wie z.B. Athanasius Kircher in China Illustrata das Zeichen 悶 (Sorge) = 門 (Tor) + 心 (Herz) als „the gate of the heart is closed, so he feels fear, terror and affliction“, das Zeichen 全 (vollkommen) = 人(Mensch) + 王 (König) als „a king is the only perfect man“413 usw. auslegte und der Autor von Confucius Sinarum philosophus dieses Prinzip der Komposition mit der Formel von Form und Materie zu erklären versuchte.

Doch trotz seiner Erwartung, kam jedoch eine eingehende Auseinandersetzung mit der chinesischen Schrift im Hinblick auf die „geheime und geheiligte Charakteristik“ in Leibniz’

Lebenszeit nicht mehr zustande. Anders als seine Vorgänger wie A. Müller und J. Bouvet hat er sich nicht damit beschäftigt, chinesische Schriftzeichen analytisch in ihre Elementarzeichen zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen, was eigentlich die naheliegende Methode gewesen wäre, die verborgenen Gesetze des ‚wunderbaren Kalküls der Vernunft‘ in der grammatologischen Ordnung des chinesischen Zeichens aufzudecken – wenn auch nicht, um daraus, wie Bouvet, eine urchristliche Offenbarung herbeizuspekulieren. Warum? Vermutlich verfügte er nicht über dafür hinreichende Kenntnisse der chinesischen Schrift.

Wahrscheinlicher aber hängt seine Zurückhaltung damit zusammen, dass er nach anfänglicher Begeisterung langsam erkannte, dass das Studium der chinesischen Schrift zur Entwicklung seines Konzepts nichts beitragen werde.

Seine Anmerkung zu Bourguets Brief im Dezember 1707 zeigt Leibniz’

Desillusionierung über die chinesische Schrift deutlich. Dort schreibt Leibniz: „Ich glaube

412 Krämer 1997, S. 118.

413 Kircher 1987, S. 222.

nicht mehr dass – abgesehen von dieser allgemeinen Brauchbarkeit der binären Arithmetik und der Zeichen des Fuxi – irgendein wesentlicher Nutzen zur Erklärung oder zum Ausdruck des Wesens der Dinge daraus zu ziehen ist oder dass man in der Hoffnung darauf mit diesen Symbolen Zeit verlieren sollte. Die Zurückführung der Begriffe auf ein, wie ich es nenne, Alphabet der menschlichen Gedanken (Alphabetum cogitationum humanarum) bedient sich ganz anderer Kunstgriffe und sollte eher in einer gewissen Analogie zur Algebra erläutert werden. (Die sich dabei ergebenden Charaktere) wären aber auch zugleich grundlegend für eine universelle Sprache oder Schrift und jeglichen chinesischen Zeichen überlegen; sie wären nicht nur sehr leicht zu lernen und zu behalten, sondern würden auch eine Art Kalkül ermöglichen, so dass in dieser Sprache oder Schrift zu schlussfolgern rechnen hieße und Fehler desjenigen, der Schlüsse zieht, lediglich Rechenfehler wären. Dazu haben weder die Chinesen noch Wilkins oder andere, die universelle Charaktere entworfen haben, sich verstiegen.“414

Diese Feststellung Leibniz’ mag aus der Beschaffenheit der chinesischen Schriftzeichen selbst gekommen sein. Denn deren kompositorische Struktur, die auf eine gewisse syntaktische Ordnung hinzuweisen scheint, aus der Leibniz zunächst eine universale Ordnung des Denkens hoffte herausarbeiten zu können, folgt eben doch keinem regelrechten Prinzip, das man auf analytischem Wege feststellen könnte. Die etymologischen Zusammenhänge zwischen dem letztlich entstandenen Zeichen und dessen Komponenten bzw. Elementarzeichen sind weder zwingend noch klar, weil die Zusammensetzung der chinesischen Schriftzeichen entgegen Leibniz’ Annahme überwiegend nach Maßgabe des phonetischen Prinzips erfolgt.415 Bei den zusammengesetzten Schriftzeichen handelt es sich um eine Verbindung des Determinativen (Radikal) und des Lautzeichens (Phonetika). Dabei trägt die eigentliche Bedeutung des Lautzeichens zur Bedeutung des zusammengesetzten Endzeichens nichts bei. So wird z.B. das Zeichen ‚Arbeit工‘ mit verschiedenen sinntragenden Einheiten zusammengesetzt; die Kombination mit dem Zeichen ‚Zuschlagen‘ 夂 ergibt das Endzeichen ‚angreifen 攻‘, die Kombination mit ‚Kraft‘ 力 macht ‚Ergebnis/Wirkung‘ 功, mit dem Zeichen ‚Loch穴‘ ergibt sich ‚leer/hohl空‘, mit dem Zeichen ‚Holz‘ 木 Stock/Stange, mit dem Zeichen ‚Seide‘ 絲 das Zeichen ‚rot‘ 紅usw. Hierbei dient das Lautzeichen ‚Arbeit工

‘ aufgrund seines Lautwerts gong nur zur Bezeichnung des phonetischen Werts des

414 Leibniz’ Anmerkung zu Bourguets Brief, 1. Hälfte Dezember 1707, in: Widmaier 2006, S. 581.

415 Bernhard Karlgren 1962, S. 46.

zusammengesetzten Zeichens – da all diese Zeichen gleichermaßen gong ausgesprochen werden – ohne dessen Bedeutung zu berücksichtigen.416

Da die Komposition des Zeichens sich im Grunde phonetisch vollzieht, ist es nicht verwunderlich, dass, wer in der Kompositionsstruktur der chinesischen Schriftzeichen lediglich nach einer semantischen oder syntaktischen Ordnung sucht, über die Unregelmäßigkeit der chinesischen Zeichenbildung klagt. Das gilt zum Beispiel für John Wilkins, der in seinem 1668 erschienenen Buch Essays towards a Real Character and a philosophical Language eine philosophische Sprache entwirft, die auf dem logischen System der Klassifikation der Genera beruht. Er schließt die chinesische Schrift aus dem Kandidatenkreis für eine solche philosophische Sprache aus, weil er in ihr u.a. keine zuverlässige Regel der etymologischen Ableitung (Derivation) findet: „Besides the difficulty and perplexedness of these Characters, there doth not seem to be any kind of Analogy (so far as I am able to judge) between the shape of the Characters and the things represented by them, as to the Affinity or Opposition between them, nor any tolerable provision for necessary derivations.“417

Das Eigentümliche der abendländischen Rezeption der chinesischen Schrift war – und dies gilt analog für die europäische Hieroglyphenrezeption vor Champollions Entzifferung (1822) – die hartnäckige und systematische Ausblendung der phonetischen Dimension der Zeichenbildung. Auch Leibniz stellt hiervon keine Ausnahme dar. Geprägt von dem überlieferten Konzept, die chinesische Schrift sei ein sprachunabhängiges Zeichensystem, versuchten die Gelehrten sie als rein semantisches Schriftsystem ohne Spur von Phone auszulegen, genau im gleichen Gestus wie Athanasius Kircher, der die Hieroglyphenschrift in einer Kartusche rein semantisch gelesen hat, während sie in Wirklichkeit nur zur phonetischen Bezeichnung des Königsnamens diente. 418 Solche „interessierte Verblendung“419 in Hinblick auf die chinesische Schrift, wie Derrida sagt, besteht trotz der

416 Klopfenstein-Ari 1992.

417 John Wilkins: Essay 451, zit. in: Knowlson 1975, S. 26.

418 „So werden zum Beispiel auf Seite 557 des Obeliscus Pamphilius (1650) die Bilder in einer Kartusche, nummeriert von 20 bis 24, von Kircher wie folgt gelesen: ‚Der Verursacher aller Fruchtbarkeit und Vegetation ist Osiris, dessen Zeugungskraft den heiligen Mophtha vom Himmel herab in sein Reich bringt.‘ Dieselbe Figurengruppe liest Champollion – und zwar genau anhand der Zeichnungen Kirchers – wie folgt …:

’AOTKPTA [=Autokrat, Imperator] Sohn der Sonne und Herrscher der beiden Kronen [Kaisaros Domitianus Augustus]“. Auch „findet sich auf Seite 187 von Band III des Oedipus eine lange Analyse einer Kartusche, die auf dem Lateran-Obelisken erscheint, und Kircher liest daraus eine komplexe Argumentation über die Notwendigkeit, sich der Wohltaten des göttlichen Osiris und des Nils durch heilige Zeremonien zu versichern, indem man die Kette der mit den Tierkreiszeichen verbundenen Geister aktiviert. Die heutigen Ägyptologen lesen in der betreffenden Kartusche schlicht und einfach den Namen des Pharaos Apries.“418 Eco 1997, S. 166-167.

419 Derrida 1967, S. 142.

wissenschaftlichen Klärung des phonetischen Prinzips der chinesischen Zeichenbildung420 noch bis zum heutigen Tage in hohem Maße weiter. Sie „spielt im 20. Jahrhundert typischerweise, und gemäß der gleichen Einbildung, die Rolle eines bestätigenden Mythos und eines exotischen Pfandes, wie sie vor Champollion die ägyptische ‚Hieroglyphe‘ gespielt hatte.“421

In dieser Hinsicht betrachtet Derrida die Leibniz’schen Versuche, chinesische Schrift als Universalschrift zu konzeptualisieren, als eine Realisierung des ‚chinesischen‘ Vorurteils, das das abendländische Denken entwickelt hat. Die erste Dezentrierung des Logo- bzw., Phonozentrismus, die von der Entdeckung der anderen außereuropäischen Schriften ausgegangen war, „rezentriert sich auf einem a-historischen Boden, der, in analoger Weise, den logisch-philosophischen und den theologischen Gesichtspunkt miteinander versöhnt. (Die phonetische Schrift macht blind gegenüber der Bedingung des Logisch-Philosophischen.) Alle philosophischen Entwürfe zu einer Universalschrift und Universalsprache, die von Descartes geforderte, von Pater Kircher, Wilkins, Leibniz und anderen skizzierte Pasilalie, Polygraphie und Pasigraphie regten dazu an, in der damals entdeckten chinesischen Schrift ein Modell philosophischer und damit der Geschichte entzogener Sprache zu sehen: gerade darin besteht das ‚chinesische‘ Vorurteil.“422 Insofern stellt für Derrida „das Leibnizsche Projekt einer allgemeinen Charakteristik, die nicht ihrem Wesen nach phonetisch ist, keinen Bruch mit dem Logozentrismus dar. Im Gegenteil: es bestätigt ihn, entsteht in ihm und durch ihn.“423

IV.3.5. Die vergessene christliche Wahrheit in der chinesischen

Im Dokument Grammatologie der Schrift des Fremden (Seite 117-121)