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Abwertung der chinesischen Schrift

Im Dokument Grammatologie der Schrift des Fremden (Seite 190-196)

Kapitel V: Der chinesische Weg zum Alphabet

V. 2. 6 . Alphabet und Monotheismus

VI.4. Hegels Theorie über die chinesische Schrift

VI.4.4. Abwertung der chinesischen Schrift

In dieser phonozentrischen Gegenüberstellung von Sprache und Schrift ist Hegels Position hinsichtlich der Nicht-Buchstabenschrift wie der Hieroglyphen und der chinesischen Schrift bereits vorgezeichnet. Denn „[d]iese aufhebende, geistige und ideale Vorzüglichkeit der Phonie hat zur Folge, dass jede Raumsprache – und allgemein jede Verräumlichung – minderwertig und äußerlich bleibt“711, wie Derrida zu Recht bemerkt. Das Privileg des Tons gegenüber den räumlichen Zeichen impliziert unmittelbar den Vorrang „der phonetischen Schrift gegenüber jedem anderen System der Einschreibung, im besonderen gegenüber der hieroglyphischen oder ideographischen, aber auch gegenüber der mathematischen Schrift, gegenüber allen formalen Symbolen, den Algebren, Pasisgraphien und sonstigen Projekten vom Leibnizschen Typus, gegenüber all dem, was … nicht ‚auf die Stimme – oder auf das Wort (vox) – Bezug zu nehmen‘ braucht.“712 Wir betrachten im Folgenden Hegels Abwertung und Kritik der Nicht-Buchstabenschrift unter zwei Aspekten: dem des Verhältnisses der Schrift zur Sprache und dem des Zusammenhangs des Denkens mit der Schrift. Da die Herabsetzung der Nicht-Buchstabenschrift eine notwendige Geste der Privilegierung der Buchstabenschrift ist, tritt sie immer in Gestalt eines Vergleichs in Erscheinung.

VI.4.4.1. Missverhältnis zur Sprache

Die Buchstabenschrift, so Hegel, bezeichnet die Töne. Da die Töne selbst schon (zeitliches) Zeichen sind, nennt Hegel die Buchstabenschrift „Zeichen der Zeichen“. 713 Sie bezeichnet

707 Hegel 1830, § 459.

708 Hegel 1830, § 459.

709 Hegel 1830, § 459.

710 Hegel 1830, § 459.

711 Derrida 1988, S. 106.

712 Derrida 1988, S. 101.

713 Hegel 1830, § 459. Diesen Begriff „Zeichen des Zeichens“ sowie den wesentlichen Gedanken in Hinsicht auf die chinesische Schrift und deren Vergleich mit der Buchstabenschrift übernahm Hegel sehr wahrscheinlich von Wilhelm von Humboldt, der 1824 einen Vortrag „Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit

„die konkreten Zeichen der Tonsprache, die Worte“, und zwar indem sie sie „in ihre einfachen Elemente auflöst“.714 Indem die Buchstabenschrift die Elemente der Tonsprache sichtbar macht, trägt sie zur „Bestimmtheit und Reinheit ihrer Artikulation“715 bei. So verhält sich die Buchstabenschrift positiv und fördernd zur Tonsprache, wie Hegel schreibt, denn „die Ausbildung der Tonsprache hängt zugleich aufs genaueste mit der Gewohnheit der Buchstabenschrift zusammen“716. Ganz anders ist es aber bei der chinesischen Schrift, die Hegel mit verwirrenden Namen wie ‚Hieroglyphensprache‘, ‚hieroglyphische Schrift‘,

‚Hieroglyphenschrift‘ belegt. Hier besteht jene optimale Wirkung der Schrift auf die Sprache nicht, weil die chinesische Schrift Hegel zufolge nicht die Töne, sondern die Vorstellungen bezeichnet. Hegel sieht darin den Grund der ‚Unvollkommenheit chinesischer Tonsprache‘717:

„Denn unsere Tonsprache bildet sich vornehmlich dadurch zur Bestimmtheit aus, dass die Schrift für die einzelnen Laute Zeichen finden muss, die wir durchs Lesen bestimmt aussprechen lernen. Die Chinesen, welchen ein solches Bildungsmittel der Tonsprache fehlt, bilden deshalb die Modifikationen der Laute nicht zu bestimmten, durch Buchstaben und Silben darstellbaren Tönen aus. Ihre Tonsprache besteht aus einer nicht beträchtlichen Menge von einsilbigen Worten, welche für mehr als eine Bedeutung gebraucht werden. Der Unterschied nun der Bedeutung wird allein teils durch den Zusammenhang, teils durch den Akzent, schnelles oder langsames, leiseres oder lauteres Aussprechen bewirkt.“718

Kurz vor Hegel hatte bereits ein bedeutender deutscher Literat und Philosoph eine gleichartige Kritik an der chinesischen Tonsprache geübt. In seiner Vorlesung über die Philosophie der Geschichte im Jahr 1828 erwähnte Friedrich Schlegel ebenso dieses asymmetrische Verhältnis der chinesischen Sprache zur Schrift als einen Beweis für die

„Unnatur, kindische Eitelkeit, übertriebne Verkünstlung“ der chinesischen Kultur. Denn er meint: „Für eine Sprache von … nach dem neuesten kritischen Forscher nicht mehr als 272 einsilbigen Grundworten ohne alle Grammatik, wo die oft nicht bloß ganz verschiedenen, sondern in gar keiner Verbindung stehenden Bedeutungen desselben und völlig gleichlautenden Wortes, zunächst bloß durch die abweichende Modulation der Stimme, nach einer vierfach verschiedenen Betonung, demnächst aber und ganz vollständig erst durch die Schriftcharaktere bezeichnet werden, beläuft sich nun die ungeheure Anzahl dieser

dem Sprachbau“ in der Akademie der Wissenschaft gehalten hatte. Vgl. Wilhelm von Humboldt 1824, S. 74-88.

Dazu im Kapitel V.

714 Hegel 1830, § 459.

715 Hegel 1830, § 459.

716 Hegel 1830, § 459.

717 Hegel 1830, § 459.

718 Hegel 1822, S. 170.

Schriftcharaktere auf 80,000; während die Anzahl der ägyptischen Hieroglyphen sich nur etwa auf 800 beläuft; und ist dieses chinesische Schriftsystem das künstlichste auf der ganzen Erde.“719 „Da die Bedeutung, besonders der mehr komplizierten Begriffe, oder abstrakten Gedanken erst durch diese künstlichen Chiffren völlig fixiert und genau bestimmt wird; so beruht die Sprache weit mehr in diesen Schriftcharakteren, als in dem lebendigen Laut, da ohnehin ein und derselbe Laut oft durch 160 verschiedene Schriftcharaktere bezeichnet werden kann, oder auch ebenso viele Bedeutungen hat. Es tritt nicht selten der Fall ein, dass Chinesen, wenn sie sich im Gespräch nicht recht verstehen, oder sich nicht ganz verständlich machen können, zu der Schrift ihre Zuflucht nehmen, und erst im Schreiben dieser Chiffern einer den andern vollkommen erraten, und sich gegenseitig deutlich werden können.“720 Diese Unbequemlichkeit ist, wie Schlegel feststellt, der Grund dafür, dass „in der Grundlage von aller intellektuellen Bildung, in der Sprache, oder vielmehr in der Schrift der Chinesen, … sich dieser Charakter einer über alles Maß hinaus getriebenen und allen Begriff übersteigenden Künstlichkeit (findet), wobei doch von der anderen Seite eine große innere Armut oder geistige Dürftigkeit zum Grunde liegt.“721

Dass die beiden Zeitgenossen trotz ihres unterschiedlichen geschichtsphilosophischen Ausgangspunktes hinsichtlich der chinesischen Schrift und Sprache doch zu demselben Ergebnis gelangt sind, liegt einerseits daran, dass sie beide die gleiche Informationsquelle über die chinesische Sprache und Schrift verwendet haben: Jean Pierre Abel-Rémusat (1778-1832), Sinologie-Professor am Collège de France, Nachfolger von Etienne Fourmont. „Der berühmte französische Gelehrte“, wie Friedrich Schlegel ihn nennt, „welcher zu unsrer Zeit in das ganze chinesische Studium ein neues Leben, besonders aber auch weit mehr Klarheit gebracht hat, als sonst darin gefunden wurde“722, vertritt nämlich die Ansicht, dass der monosyllabische Charakter der chinesischen Sprache eine Folge der Rückwirkung der chinesischen Schrift sei.723 Da Abel-Rémusat von der ursprünglichen Einheit der Sprachen ausgegangen ist, erscheint ihm die chinesische Schrift als Ursache der Verstellung des ursprünglichen Zustandes der chinesischen Sprache, eine bekannte Ansicht, die sowohl Schlegel als auch Hegel724 aufgenommen hat. Andererseits aber ist die Einstimmigkeit beider Philosophen auf die gemeinsame negative Bewertung der chinesischen Kultur zurückzuführen, über die wir noch mehr erfahren werden.

719 Schlegel 1828, S. 64-65.

720 Schlegel 1828, S. 65.

721 Schlegel 1828, S. 64.

722 Schlegel 1828, S. 70.

723 Messling 2008, S. 197

724 Hegel verweist in einer Fußnoten auf den Namen Abel Rémusat mit der Bemerkung, dass er „in der chinesischen Literatur … die verdienstvollsten Untersuchungen angestellt“ hat. Hegel 1822-1830, S. 159.

VI.4.4.2. Hindernis des Denkens

Laut Hegel weist die chinesische Schrift neben dem Missverhältnis der Schrift zur Tonsprache noch einen schwerer wiegenden Mangel auf, der sich aus ihrem nicht-phonetischen Charakter ergibt, daraus also, dass sie statt Töne die Vorstellungen bezeichnet;

eine Äußerlichkeit und Sinnlichkeit, die den Bedürfnissen des Denkens widerspricht. Diese Folgerung Hegels hinsichtlich der chinesischen Schrift äußert sich in seiner bewussten Auseinandersetzung mit dem Leibniz’schen Konzept des symbolischen Erkennens. Für Leibniz war ja die Eigenschaft der chinesischen Schrift, nicht die Sprache, sondern die Vorstellungen durch kombinatorische Zusammensetzung der Zeichen zu bezeichnen, der Anlass gewesen, sie als Modell eines universellen und philosophischen Schriftsystems zu konzipieren. Hegel schreibt dazu: „Bekanntlich haben sie [die Chinesen] neben der Tonsprache eine solche Schriftsprache, welche nicht wie bei uns die einzelnen Töne bezeichnet, nicht die gesprochenen Worte vor das Auge hinstellt, sondern die Vorstellungen selbst durch Zeichen. Das scheint nun zunächst ein großer Vorzug zu sein und hat vielen großen Männern, unter anderen auch Leibniz, imponiert.“ 725 Was Leibniz dazu „verführt hat, diese [die chinesische Schrift] für vorzüglicher zu halten als die Buchstabenschrift“ 726, war die „analytische Bezeichnung der Vorstellung“ durch die chinesische Schrift, „woraus dann leicht der Gedanke gefasst wird, dass alle Vorstellungen auf ihre Elemente, auf die einfachen logischen Bestimmungen zurückgeführt werden könnten, so dass aus den hierfür gewählten Elementarzeichen … durch ihre Zusammensetzung die Hieroglyphensprache erzeugt würde.“727 Doch Hegel sagt hierzu sehr deutlich, dies sei „gerade das Gegenteil von einem Vorzug.“728

Worin unterscheidet sich Hegels Methode des Denkens von Leibniz’ operativem Symbolismus? Leibniz sah die Zeichen, z.B. Zahlen oder Linien als „Beziehungen, die ewige Wahrheiten enthalten, nach denen sich die Erscheinungen der Natur richten“729, weshalb sie

„mit dem Wesen bzw. mit den Ideen übereinstimmen und die Möglichkeit der Dinge enthalten“. 730 Aufgrund der Voraussetzung, das Denken sei nichts anderes als die Verknüpfung der Ideen und die Zeichen brächten gerade die Relationen der Ideen zum Ausdruck, war Leibniz davon überzeugt, dass man das Denken durch Zeichenoperationen effektiver und genauer durchführen könne. Im Gegensatz dazu war es Hegels

725 Hegel 1822, S. 169-70.

726 Hegel 1830, § 459.

727 Hegel 1830, § 459.

728 Hegel 1822, S. 169-70.

729 Zingari 1993, S. 131.

730 Zingari 1993, S. 112.

Grundüberzeugung, dass zum Denken überhaupt keine Zeichen oder Symbole benötigt würden, weswegen er davor warnte, auf die Philosophie, das Werk des Denkens, die Methode der reinen Mathematik oder Geometrie anzuwenden.731 Denn die Zahlen oder Symbole in der Arithmetik oder Geometrie sind zwar „aller empirischen sinnlichen Mannigfaltigkeit entledigt, rein von jedem bestimmten sinnlichen Inhalt“, behalten aber dennoch laut Hegel noch „von dem Sinnlichen … die abstrakte Bestimmung der Äußerlichkeit“ und stehen insofern in einer analogischen Beziehung zur natürlichen Sinnlichkeit wie Symbol, „in dem

‚die Wahrheit durch das sinnliche Elemente noch getrübt und verhüllt‘ ist.“ 732

Womit das Denken sich beschäftigt, ist Hegel zufolge nur der Begriff, das von allen äußeren sinnlichen Elementen befreite Seiende, ein In-sich-selbst-Sein des Denkens. „Dem Denken bewegt sich der Gegenstand nicht in Vorstellungen oder Gestalten, sondern in Begriffen, das heißt in einem unterschiedenen An-sich-sein, welches unmittelbar für das Bewusstsein kein unterschiednes von ihm ist. Das Vorgestellte, Gestaltete, Seiende, als solches, hat die Form, etwas anders zu sein als das Bewusstsein; ein Begriff aber ist zugleich ein Seiendes … aber darin, daß dieser Inhalt ein begriffener zugleich ist, bleibt es sich seiner Einheit mit diesem bestimmten und unterschiedenen Seienden unmittelbar bewußt; nicht wie bei der Vorstellung, worin es erst noch besonderes sich zu erinnern hat, daß dies seine Vorstellung sei; sondern der Begriff ist mir unmittelbar mein Begriff. Im Denken bin ich frei, weil ich nicht in einem Andern bin, sondern schlechthin bei mir selbst bleibe, und der Gegenstand, der mit das Wesen ist, in ungetrennter Einheit mein Für-mich-sein ist; und meine Bewegung in Begriffen ist eine Bewegung in mir selbst.“733

Solange das Denken sich wesentlich nur mit seinem Eigenen, also mit dem Begriff beschäftigt und nur dadurch frei wird, würde der Versuch, mit Hilfe von Zeichenoperationen zu denken, nicht nur das Wesen des Denkens verfremden, sondern auch die Freiheit des Denkens durch das überflüssige Sinnliche des Zeichens verhindern. So erscheint Hegel der Versuch, den Begriff „durch Raumfiguren und algebraische Zeichen zum Behufe des äußeren Auges und einer begrifflosen, mechanischen Behandlungsweise, eines Kalküls, festhalten zu wollen“, allgemeiner gesprochen, „durch Linie, Figuren und ähnliches den Verhältnissen geistiger Bestimmungen Bezeichnungen zuzuschreiben“ 734 , ebenso verfälschend wie vergeblich. Denn „[d]ie Philosophie hat es nach Hegel nicht nötig, sich solcher symbolischer Hilfe zu bedienen, die aus der sinnlichen Welt und aus der vorstellenden Einbildungskraft

731 Vgl. Zingari 1993, S. 131.

732 Derrida 1967, S. 117.

733 Hegel 1807, S. 156.

734 Zingari 1993, S. 132.

oder aus Sphären ihres dem spekulativen Denken untergeordneten eigentümlichen Bodens stammen. Die Zeichen sind keinesfalls in der Lage, den Verlauf und die dialektische Entwicklung des Begriffs auszudrücken.“735

Insofern wird eine Nicht-Buchstabenschrift wie die chinesische dem Anspruch des Denkens nicht gerecht, weil sie „die Vorstellungen durch räumliche Figuren“736 bezeichnet.

Obwohl die chinesische Schrift eine größere Abstraktheit und daher ein weiteres Abstandnehmen „gegenüber dem Sinnlichen und dem naturhaften Symbol“ aufweist als die Hieroglyphen, weshalb Leibniz sie für ‚philosophischer und geistiger‘ als diese hielt,737 stellt sie für Hegel gleichwohl keinen Fortschritt des Geistes dar. Denn im Vergleich zur Buchstabenschrift, die „den Geist von dem sinnlich Konkreten zu der Aufmerksamkeit auf das Formellere, das tönende Wort und dessen abstrakte Elemente bringt“ und dadurch um

„den Boden der Innerlichkeit im Subjekte zu begründen und rein zu machen ein Wesentliches tut“738, bleibt die chinesische Schrift wie die geometrischen Zeichen doch noch dem Sinnlichen verhaftet und ist daher dem Denken äußerlich. Infolge dieser Äußerlichkeit und dieser Sinnlichkeit sei die chinesische Schrift nicht in der Lage, die durch „Fortgang der Gedankenbildung, die fortschreitende logische Entwicklung veränderte[n] Ansichten“ des Geistes in das Schreibsystem aufzunehmen.

Dagegen kommt die Buchstabenschrift dem Bedürfnis des Denkens fördernd entgegen und ist daher „an und für sich die intelligentere“ 739, denn „in ihr ist das Wort, die der Intelligenz eigentümliche würdigste Art der Äußerung ihrer Vorstellungen, zum Bewußtsein gebracht, zum Gegenstande der Reflexion gemacht. Es wird in dieser Beschäftigung der Intelligenz mit demselben analysiert, d.i. dies Zeichenmachen wird auf seine einfachen, wenigen Elemente (die Urgebärden des Artikulierens) reduziert; sie sind das Sinnliche der Rede, auf die Form der Allgemeinheit gebracht, welches in dieser elementarischen Weise zugleich völlige Bestimmtheit und Reinheit erlangt.“740 So ist auch für Hegel in Analogie zu Humboldts phonozentrischer Auffassung, die wir schon kennenlernten741, die Buchstabenschrift „die beste Schrift, die Schrift des Geistes: ihr Verschwinden vor der Stimme, womit sie die ideelle Innerlichkeit der lautlichen Signifikanten respektiert, all das, wodurch sie Raum und Sehen sublimiert, macht sie zur Schrift der

735 Zingari 1993, S. 133.

736 Hegel 1830, § 459.

737 Vgl. Kapitel IV.

738 Hegel 1830, § 459.

739 Hegel 1830, § 459.

740 Hegel 1830, § 459.

741 Vgl. Kapitel V.

Geschichte, das heißt zur Schrift des unendlichen Geistes, der in seiner Entwicklung (discours) und in seiner Bildung sich auf sich selbst bezieht.“742

Die dem abendländischen Diskurs eigentümliche Korrelation zwischen der Auffassung der chinesischen Schrift und der kulturellen Einschätzung Chinas fehlt auch bei Hegel nicht, insofern er nämlich die so festgestellte Unfähigkeit der chinesischen Schrift, mit der fortschreitenden Entwicklung des Geistes Schritt zu halten, mit seiner Bestimmung chinesischer Geistesbildung verbindet. „Nur dem Statarischen der chinesischen Geistesbildung ist die hieroglyphische Schriftsprache dieses Volkes angemessen.“743 „Eine hieroglyphische Schriftsprache erforderte eine ebenso statarische Philosophie, als es die Bildung der Chinesen überhaupt ist.“ 744 Hier offenbart sich deutlich, dass Hegels Charakterisierung des chinesischen Geistes durch die Attribute Geschichtslosigkeit, Äußerlichkeit und Naturhaftigkeit sich in seiner Ansicht der chinesischen Schrift widerspiegelt; sein Bild der chinesischen Schrift entspricht seiner These von der Substantialität der chinesischen Kultur, in der der Geist noch nicht gänzlich von der Bestimmtheit der Natur befreit ist. Die in der chinesischen Kultur noch nicht gewonnene Idealität spiegelt sich gerade in ihrer sichtbaren Schrift, in der das Zeichen in einem Stadium geblieben ist, wo es noch der sinnlichen Anschauung anhaftet, nicht, wie bei der alphabetischen Schrift, sie aufhebt und von einer den Sinnen gegebenen Materie sich abhebt.

Die chinesische Schrift ist ein Produkt des Geistes im Kindesalter, der sich noch im Anderssein des Natürlichen befindet, indem er nicht vermag, sein Anderssein zu negieren, um sich selbst als Geist anzueignen. Der fehlenden Subjektivität des chinesischen Geistes, die erst durch das Negieren des Objektiven, des Natürlichen entstehen sollte, entspricht die fehlende Negativität chinesischer Schriftzeichen, das Fehlen der Aufhebung der Äußerlichkeit. Hegels Semiologie in Hinblick auf die chinesische Schrift hängt mit seiner Anthropologie eng zusammen.

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