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Leibniz’ Begegnung mit dem chinesischen Hexagramm

Im Dokument Grammatologie der Schrift des Fremden (Seite 113-117)

Kapitel IV: Chinesische Schrift und philosophische Ordnung. Gottfried Wilhelm Leibniz

IV.3. Chinesische Schriftzeichen als Universalcharakter? Leibniz und die

IV.3.3. Leibniz’ Begegnung mit dem chinesischen Hexagramm

Leibniz war sich darüber im Klaren, dass die chinesische Schrift keineswegs eine Bilderschrift nach Art der Hieroglyphen ist. Die figürliche Abstraktheit, die ohnehin Anlass war, sie von hieroglyphischer Bilderschrift zu unterscheiden, sowie die kompositorische Struktur, die eine Zergliederung der Zeichen in Elementarzeichen und ein Wiederzusammensetzen zulässt, was dem Konzept des operativen Symbolismus perfekt zu entsprechen schien, führten Leibniz zu der Einsicht, dass sich die chinesische Schrift ihrem Wesen nach von den Hieroglyphen unterscheidet. In diesem Punkt spricht Leibniz sich deutlich gegen die verbreitete Auffassung Kirchers aus, die die chinesische Schrift als eine Art von hieroglyphischer Bilderschrift sieht. Im Gegensatz dazu war er der Ansicht, dass die chinesische Schrift philosophischer sei als die Hieroglyphen: „Ich weiß nicht, was ich zu den ägyptischen Hieroglyphen sagen soll, und ich kann kaum glauben, dass sie in irgendeiner Hinsicht mit denen der Chinesen übereinstimmen. Denn mir scheint, dass die ägyptischen Schriftzeichen volkstümlicher sind und sich zu sehr an der Ähnlichkeit mit sinnlich wahrnehmbaren Dingen, wie Tieren und dergleichen, orientieren und somit allegorischer Natur sind, während die chinesischen Zeichen vielleicht stärker philosophisch ausgerichtet

395 Foucault 1966, S. 102.

396 Foucault 1966, S. 93.

397 Sieh. Kapitel III.

398 Danneberg 2003, S. 181.

sind und auf geistigeren Betrachtungen aufbauen, so wie sie die Zahlen, die Reihenfolge und die Verhältnisse liefern … Ich weiß, dass etliche Gelehrte geglaubt haben, die Chinesen wären (Angehörige einer) Kolonie der Ägypter, wobei sie sich auf die angebliche Übereinstimmung der Schriftzeichen stützen, doch ist das wenig plausibel.“399

Zu dieser Auffassung der chinesischen Schrift – sie sei stärker philosophisch ausgerichtet und wie die Zahlen auf geistige Betrachtungen aufgebaut – gelangte Leibniz u.a.

durch seine Briefkorrespondenz mit dem Jesuiten Missionar Joachim Bouvet, der, wie gesehen, vom urchristlichen Ursprung der chinesischen Schriftzeichen überzeugt war und sich voller Eifer mit der christologischen Auslegung beschäftigte. Durch den Briefkontakt kannte Leibniz die religiöse Exegese des Jesuiten, doch im Vergleich zu ihm richtete sich sein Interesse eher auf das Verfahren der Verknüpfung und Zusammensetzung von Schriftzeichen selbst, als dass er sie für eine Signatur der Uroffenbarung gehalten hätte. Während Bouvets Auslegung chinesischer Schriftzeichen sich noch im alten pansemiotischen Denken bewegte, betrachtete Leibniz sie unter dem Gesichtspunkt des operativen Symbolismus, in dem die Zeichen als solche nicht als Träger der Wahrheit, sondern als operatives Erkenntnismittel verstanden werden. Bei ihm ist das Zeichen nicht an sich selbst die Sinnquelle, die durch den Entschlüsselungsversuch dechiffriert werden soll, sondern das operative Mittel, das durch Verknüpfung und Anordnung die Idee repräsentiert. Es geht bei ihm um die mögliche operative Funktionalität chinesischer Schriftzeichen, die er in deren Kompositionsstruktur sah, wie ein Brief belegt, den Leibniz im Jahr 1698 an den Jesuiten Antoine Verjus (1632-1706) schrieb: „Von Jugend auf habe ich über eine neue Charakteristik nachgedacht, die … die Möglichkeit eröffnen sollte, viele Dinge exakt zu bestimmen, die bisher nur Gegenstand unscharfer Überlegungen sind. Ich hatte in diesem Zusammenhang schon einen gewissen Erfolg mit meiner neuen Infinitesimalrechnung, die eine bessere Verbindung zwischen Geometrie und Physik herstellen soll … Ich habe aber vor, noch deutlich darüber hinaus zu kommen, wenn Gott mir ausreichend Lebenszeit verleiht und genügend Muße oder Hilfe dabei angedeihen lässt. Ich glaube nicht, dass irgendetwas mehr der menschlichen Vernunft zu dienen vermag, als eine vollendete Charakteristik. Nun hofft P. Bouvet, wie er mir schreibt, gewisse alte, von den Chinesen verehrte Zeichen zu entziffern, von denen er glaubt, dass sie mit unserer Philosophie zusammenhängen; die könnte man auf Grund dieses Zusammenhangs den Chinesen nahe bringen, um damit unserer Theologie Vorschub zu leisten. Da habe ich mir gedacht, dass man eines Tages diese Zeichen dazu einrichten könnte (sowie man über sie gut Bescheid wüsste), nicht nur Dinge darzustellen, wie es Zeichen

399 Leibniz an Bouvet, 18. Mai 1703, in: Widmaier 2006, S. 423-425.

gewöhnlich tun, sondern sogar damit zu rechnen, Vorstellungskraft und Denken zu unterstützen und auf diese Weise den Geist dieser Völker in Erstaunen zu versetzen und ein neues Hilfsmittel zu gewinnen, sie zu unterrichten und für uns einzunehmen …“400

In dem Brief vom 15. Februar 1701 an Bouvet macht Leibniz seine Position deutlich und fragt, ob die chinesische Schrift in einer möglichen Verbindung mit seiner Idee von Charakteristik stehe, eine Frage, die Leibniz sich seit Müllers Clavis wiederholt gestellt hatte:

„Ich erinnere mich, Ihnen von einem ganz außerordentlichen Plan erzählt zu haben, eine ars characteristica zu entwickeln. Damit gäbe es ein Mittel, nicht das Wort, sondern die Gedanken abzubilden, so wie es mit der Algebra in der Mathematik geschieht. Indem man die Gedankengänge durch die Zeichen ausdrückte, würde man rechnen und beweisen, indem man argumentiert, und ich glaube, es ließen sich Mittel und Weg finden, diese mit den alten Schriftzeichen der Chinesen in Verbindung zu bringen, über die Sie schon nachgedacht haben.“401

Darauf antwortet Bouvet am 4. November desselben Jahres mit dem Hinweis auf das Hexagramm im chinesischen Orakelbuch Yijing 易經 (Buch der Wandlung), das Bouvet, wie gesehen, für das wichtigste Dokument des Urchristentums hielt: „Ich will Ihnen gestehen, dass die Übereinstimmung Ihrer Erfindung mit diesem alten System, die ich in wissenschaftlicher Hinsicht mehr als alles auf der Welt schätze, meine zuvor schon hohe Meinung von Ihrer Person noch sehr gesteigert hat … Angesichts der von Ihnen verfolgten Prinzipien bin ich keineswegs erstaunt … über Ihr Vorhaben, eine Charakteristik zu entwerfen, um die Gedanken auf eine Weise abzubilden (peindre), dass die Zeichen selbst zugleich zum Rechnen taugen und durch Argumentieren zu Beweisen zu gelangen usw. In dieser Art Schrift scheint mir nämlich der tiefere Sinn der alten Hieroglyphen und der hebräischen Kabbala ebenso wie der Zeichen des Fuxi beschlossen zu sein. Fuxi gilt in China als erster Schöpfer der Schriftzeichen oder Hieroglyphen dieses Volkes … Der kürzeste Weg, diese alte Charakteristik, deren Grundidee jener der Ihnen recht ähnlich zu sein scheint, wäre also meines Erachtens, erstens das System des Fuxi wiederherzustellen und wie er die geometrische Progression darauf zu verwenden, eine natürliche Metaphysik zu erarbeiten und in einer sehr einfachen und sehr natürlichen Anordnung alle Ideen auf ihre Gattungen und ihre Arten zurückzuführen, die ihrerseits nach mehr oder minder universalen Rangstufen wie in einem Stammbaum geordnet wären. Alle Teilungen und Unterteilungen der Äste dieses

400 Leibniz an Verjus, Ende 1698, in: Widmaier 2006, S. 195-197.

401 Leibniz an Bouvet, 15. Februar 1701, in: Widmaier 2006, S. 317-319.

Stammbaums, vom Stamm bis zu den letzten Zweigen, wären nach dieser geometrischen Progression angelegt.“402

Bei dem chinesischen Hexagramm (八卦) handelt es sich um die verschiedenen Kombinationen, die sich aus jeweils drei entweder durchgezogenen (Yáng) oder durchbrochenen (Yīn) Linien zusammensetzen lassen. Es ergeben sich acht Kombinationsmöglichkeiten, die oft in Form eines Kreises dargestellt werden. [Abbild 17] Im Buch der Wandlungen ist jedes Hexagramm mit seiner Bedeutung versehen, nämlich Wasser, Wind, Feuer, Erde, Himmel, Berg, Donner und Sumpf, denen jeweils eine Himmelsrichtung entspricht. Nach chinesischer Überlieferung soll das Hexagramm den Aufbau des Kosmos wie die Ordnung der Dinge repräsentieren, weswegen es zu magischen Zwecken oder als Orakel, etwa für Ratschläge bei den wichtigen Entscheidungen des alltäglichen Lebens oder zur Voraussage zukünftiger Ereignisse verwendet wurde.

Wie im letzten Kapitel dargestellt, sah Bouvet darin die kosmischen Zeichen, die von dem legendären Kaiser Fuxi aufgrund der Beobachtung der Gestirne niedergeschrieben worden sein sollen. Leibniz aber fasste die Hexagramme nach Prüfung des von Bouvet gesendeten Holzschnitts, der deren Anordnung zeigt,403 mit großem Erstaunen als eine parallele Darstellung der Progression der binären Arithmetik auf, die er erst 1679 in Summum Calculi Analytica Fastigium per calculum algorithmicum selbst entwickelt hatte.404 Diese überraschende Entdeckung erfolgt dadurch, dass Leibniz Yang mit 1 (Eins), Yin mit 0 (Null) übersetzt und so die Abfolge der Hexagramme schließlich in seine Nomenklatur transformiert.405 Was ihn am meisten beeindruckte, war die Grundstruktur des Hexagramms, die es ermöglicht, die unterschiedlichen Begriffe nur noch durch verschiedene Kombinationen zweier Linien (durchgezogen und durchbrochen) auszudrücken. „[D]ass es seit alters eine Formalisierung eines Grundbestandes an lebensweltlichen Begriffen gab“406, sah Leibniz wie eine Erleuchtung. Voller Zuversicht, das arithmetische Prinzip des Hexagramms als Grundlage seiner Charakteristik verwenden zu können, schreibt Leibniz an Bouvet: „[W]e have discovered the secret of Fohi’s characters, we will be able to invent a new caracteristique which will appear to be a continuation of Fohi’s and which will provide the beginning of the analysis of ideas and of that marvellous calculus of reason that I am planning.“407

402 Bouvet an Leibniz, 4. November 1701, in: Widmaier 2006, S. 339-341.

403 Eco 1997, S. 291.

404 Bae 2001, S. 58.

405 Holz 2000, S. 107.

406 Holz 2000, S. 112.

407 Walker 1972, S. 223.

Die Formalisierbarkeit der Gedanken mittels Zeichenzusammensetzung, die Leibniz in Hexagramme gefunden zu haben glaubte, lässt sich am besten in Bezug auf seinen eigenen Entwurf einer Characteristica universalis veranschaulichen. Im April 1679 schlägt Leibniz vor, logische Gedankenkompositionen mittels arithmetischer Multiplikation zu erzeugen. „Als Beispiel wählt Leibniz den Begriff animal, den er mit der Primzahl 2 (oder dem Buchstaben a) belegt. Wenn dem Begriff rationalis 3 oder r zugeordnet werden, dann ergibt die Kombination (sprich Multiplikation) dieser beiden Faktoren den zusammengesetzten Begriff

‚rationales Wesen‘: 2 x 3 = 6, oder a x p = h, wobei Leibniz h für homo setzt; das Ergebnis solch einer Verbindung ist also ‚Mensch‘.“408 Der Hoffnung Leibniz’, auf der Grundlage des Hexagramms könnte man die ersehnte Charakteristik erfinden und entwickeln, lag seine Auffassung zugrunde, dass das chinesische Hexagramm Begriffe in einer Art von Zahlen repräsentiere, da ja die unterschiedliche Kombination von zwei Grundbegriffen „Yin“ und

„Yang“ alle anderen Begriffe wie Wasser, Feuer, Himmel, Berg usw. ergebe: „Ich vermute, dass Fuxi die 64 Zahlen (einfach oder zu 128 verdoppelt oder darüber hinaus) Begriffen zugewiesen hat, die er als die fundamentalsten ansah, und dass er jedem dieser Begriffe sein Zeichen gegeben hat, das zugleich dessen Zahl oder Rang bezeichnete.“409 So glaubte Leibniz

„im System des Yijing [I-Ching] ein Analogon zur binären Rechenmethode gefunden haben, nämlich die Art und Weise, wie ein Begriffsinhalt über einem Zeichensystem aus zwei Grundwerten her entwickelt wird.“410

Im Dokument Grammatologie der Schrift des Fremden (Seite 113-117)