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Ostasien : Kindesalter der Geschichte

Im Dokument Grammatologie der Schrift des Fremden (Seite 174-183)

Kapitel V: Der chinesische Weg zum Alphabet

V. 2. 6 . Alphabet und Monotheismus

VI.3. Ostasien : Kindesalter der Geschichte

Dass Hegel die orientalische Welt auf die erste Stufe im Stufengang der Weltgeschichte stellt, kann nur von dieser Voraussetzung seiner Geschichtsphilosophie her verstanden werden. Die Weltgeschichte, die nach diesem Prinzip der Geistesentwicklung vorgeht, fängt in der orientalischen Welt an, was so viel bedeutet, dass sie sich auf der Schwelle zwischen Natur und Geschichte befindet und dementsprechend charakterisiert wird. Im Hinblick auf die

626 Hegel 1822-1830, S. 149.

627 Hegel 1822-1830, S. 150.

628 Hegel 1822-1830, S. 150.

629 Hegel 1822-1830, S. 151.

630 Hegel 1822-1830, S. 152.

631 Hegel 1822-1830, S. 162.

632 Hegel 1822-1830, S. 161-162.

Entwicklung des Geistes wird die orientalische Welt der ersten Stufe des Geistes zugeordnet, dem natürlichen Geist, der von Hegel mit dem Geist des Kindes verglichen wird. „Das erste Zeitalter also, worin wir den Geist betrachten, ist mit dem Kindesgeiste zu vergleichen. Da herrscht die sogenannte Einheit des Geistes mit der Natur, die wir in der orientalischen Welt finden. Dieser natürliche Geist ist der, welcher noch bei der Natur ist, nicht bei sich selber, der also noch nicht frei ist, den Prozess der Freiheit noch nicht bestanden hat. Auch in diesem Stande des Geistes haben wir Staaten, Künste, Anfänge der Wissenschaften; aber alle diese sind auf dem Boden der Natur. In dieser ersten patriarchalischen Welt ist das Geistige ein Substanzielles, an dem das Individuum nur als Akzidens hinzukommt. Zu dem Willen des Einen gehören die anderen als Kinder, als Untergeordnete.“633

Als „das Kindesalter der Geschichte“634 bildet die orientalische Welt, vor allem Asien, den Anfang der Weltgeschichte, deren Fortgang letztendlich in der christlichen, westeuropäischen Welt zu dem „höchsten Prinzip, das Wissen des Geistes von sich und seiner Tiefe“635 gelangt. Zur Beschreibung des Vorgangs der Weltgeschichte transformiert Hegel die topographischen Bezeichnungen Osten und Westen in Bezeichnungen des Entwicklungsstufengangs von Vorher und Nachher nach dem Modell des Sonnenaufgangs, was auf das nachfolgende Asienbild einen starken Einfluss ausüben sollte. Wie die Sonne von Osten nach Westen geht, läuft auch „(d)ie Weltgeschichte … von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang … denn obgleich die Erde eine Kugel bildet, so macht die Geschichte doch keinen Kreis um sie herum, sondern sie hat vielmehr einen bestimmten Osten, und das ist Asien. Hier geht die äußerliche physische Sonne auf, und im Westen geht sie unter: dafür steigt aber hier die innere Sonne des Selbstbewusstseins auf, die einen höheren Glanz verbreitet. Die Weltgeschichte ist die Zucht von der Unbändigkeit des natürlichen Willens zum Allgemeinen und zur subjektiven Freiheit.“636

In Europa waren der Orient und der Osten – bzw. Ostasien – schon länger auf die idealisierte Vorstellung der Natur oder gar des irdischen Paradieses bezogen gewesen. In mittelalterlichen Weltkarten, auf denen den jeweiligen Kontinenten – Europa, Asien und Afrika – ein Platz innerhalb der ökumenischen Weltordnung zugewiesen war, wurde Asien meistens im Osten und zugleich oben gelegen dargestellt, was bedeutete, dass „Asien sich in

633 Hegel 1822, S. 133-34.

634 Hegel 1822, S. 135.

635 Hegel 1822-1830, S. 154.

636 Hegel 1822, S. 133-34.

unmittelbarem Bezug zur Gottheit befinde. Diese Aussage konnte bestärkt werden durch die sich aus der Tradition der Bibelexegese ergebende Lokalisierung des irdischen Paradieses in Asien. Lag in der T-O Karte der Osten Asiens in nächster Nähe zur Gottheit, folgte die Lokalisierung des irdischen Paradieses auf einer der Ökumene im östlichen Ozean vorgelagerten Insel oder an der Ostküste Asiens.“637 Daraufhin wurde diese paradiesische Vorstellung von Asien in manchen europäischen Reiseberichten aufgenommen, wie z.B. von Marco Polo, der in seinem China-Reisebericht im 13. Jahrhundert „nach Hörensagen die von ihm vor der Ostküste Asiens vermutete Insel Zipangu in den Farben des Paradieses“638 schilderte. Dass die Vorstellung von Ostasien als irdischem Paradies der Anlass für die historische Expedition von Colón639 war, ist ebenfalls eine bekannte Tatsache.

Dieses paradiesisch geprägte Ostasienbild findet sich bis in die frühe Neuzeit, und zwar in den Schriften der Jesuitenmissionare. Im 1656 erschienenen Buch Flora Sinensis wird China als ein Ort geschildert, dem der natürliche Reichtum der mütterlichen Erde innewohnt:

„Dieses chinesische Reich ist der Überschluss der Welt, oder die goldenen Ringe [d.i. ein Zeichen des Adels], das ist, wie man richtig sagt, das Juwel der Welt, in dem man vielleicht mehr Wert & Dinge findet als in der übrigen, ja wie ich sagen möchte, der ganzen Welt … Es muss überhaupt gesagt werden, was immer man anderswo in Teilen findet, hier findet man alles zugleich, so dass man um so richtiger von diese Reiche sagen kann als vom römischen Lande Properz: Alle Wunder der Welt weichen dem Chinesischen. Die Natur hat hier gegeben, was immer es wo auch immer gegeben hat.“640 Dieser Passus mag damals keinen Europäer überrascht haben. Der polnische Jesuit Michael Boym bestätigt nur die langjährige Vorstellung von China als irdischem Paradies, wo die Natur sich durch wundersame Fruchtbarkeit auszeichnet. Während in Europa nur noch aus den Zweigen die Blätter, dann die Blüten, und schließlich die Frucht kommt, „erzeugen in China gewisse Bäume mit sehr großen Blättern am Stamm Blüten, und sogar ohne Blüten Früchte, oft eine, zuweilen zwei so große, dass fast ein Mann nötig ist, um eine einzelne wegzuschaffen.“641 Der sehr fruchtbare Boden und die Größe des Landes sorgen dafür, so Boym, dass man in China jede Art von Blüten und Früchten, die in Europa nur an verschiedensten Orten und zu einer bestimmten Jahreszeit zu finden sind, während des ganzen Jahres im Überfluss genießen kann.

Auch Athanasius Kircher, der sonst den europäischen Phantasmen über angebliche chinesische Wunder und der chinesischen Abgötterei kritisch begegnete, versäumt es nicht,

637 Kleinschmidt 2003, S. 7-9.

638 Kleinschmidt 2003, S. 10.

639 Todorov 1985, S. 25.

640 Zitat in Walravens 1987, S. 60.

641 Zitat in Walravens 1987, S. 58.

den Reichtum der chinesischen Natur zu bewundern: „China is with good reason in their language called Chunghoa or Chunque, which means ‚The Middle Kingdom‘ … The term also means the ‚Middle Garden‘ or ‚The Flower Garden‘, due to the richness of all the necessities of human life. All over the empire many streams and rivers rush down from the western mountains. Lakes and rivers water everything inland so that there is not an unirrigated field … the whole Tarar-Chinese empire is so large from south to north that it contains both the tropics and the cold and frozen northern zones … Therefore, all types of fruits, incense, wood, nuts, trees, and animals from every zone and climate are found in this empire and can be brought together and collected in one place.“642

Nun gewinnt eine solche Vorstellung, dass sich China durch paradiesischen Reichtum und Fruchbarkeit der Natur auszeichne, durch Hegels Bestimmung der Natur als unfreien Zustandes des Geistes wesentlich negative Konnotationen. Die Verortung Ostasiens auf der Seite der Natur bleibt auch bei Hegel unverändert, doch sie wird mit der Vorstellung der Geisteslosigkeit, Unfreiheit, schließlich der Unzivilisiertheit verknüpft. Worauf Ostasien verwiesen wird, ist bei Hegel nun ein mangelhafter Ort der Vor-Geschichte, wo der Geist sich noch im Status seiner Natürlichkeit, daher des Außer-sich-Seins befindet. Der asiatische Geist bleibt in seiner Einheit mit der Natur befangen, und zwar ohne Bewusstsein von seinem Anderssein; daher steht er unter der Macht der Substantialität. Daraus leiten sich Bestimmungen wie Naturhaftigkeit sowie Unselbständigkeit und Geschichtslosigkeit ab, die nun Ostasien charakterisieren sollen.

VI.3.1. Geschichtslosigkeit und Naturhaftigkeit

Die Geschichte, in der die Veränderung sich im Medium des Geistes vollzieht, wird erst möglich, wenn der Geist das Fürsichsein hat, nämlich der Geist seiner Innerlichkeit und Subjektivität bewusst wird und sie gegenüber dem äußerlichen und objektiven An-sich-Sein zu behaupten weiß, damit er schließlich zum Selbstbewusstsein seiner Freiheit kommt. Wo solches Fürsichsein fehlt, wo der Geist in Einheit mit seinem Nicht-Sein sich seines Fürsichseins nicht bewusst ist, besteht keine Geschichte im Sinne eines Fortgangs zweckmäßiger Veränderungen. Nach Hegel ist dies genau der Fall in der orientalischen Welt.

„Weil der Geist im Aufgang eben noch nicht das Fürsichsein, die Freiheit, Innerlichkeit erlangt hat, so zeigt er sich überhaupt nur als natürliche Geistigkeit, so ist das Innere und Äußere, Geistige und Natürliche noch nicht getrennt. Der Geist tritt also in Gestalt natürlicher

642 Kircher 1667, S. 159.

Wirklichkeit auf.“643 Besonders in China, das Hegel als „ganz eigentümlich orientalisch“ 644 bezeichnet, fehlt „der Gegensatz von objektivem Sein und subjektiver Daranbewegung“645, was Unveränderlichkeit sowie Geschichtslosigkeit zur Folge hat, woraus Hegel die berühmte Charakterisierung Chinas als „das Statarische“ ableitet: „denn da der Gegensatz von objektivem Sein und subjektiver Daranbewegung noch fehlt, so ist jede Veränderlichkeit ausgeschlossen, und das Statarische, das ewig wieder erscheint, ersetzt das, was wir das Geschichtliche nennen würden. China und Indien liegen gleichsam noch außer der Weltgeschichte … Es ist in China wie in Indien kein Fortgang zu anderem … Solange die Welt steht, haben sich diese Reiche nur in sich entwickeln können. In der Idee sind sie die ersten und zugleich die ruhenden.“646

Obwohl es auch in China selbstverständlich historische Veränderungen wie z.B.

Kriege, Machtwechsel oder Eroberungen usw. gab, gelten diese für Hegel nicht als Geschichte im Sinne eines Fortschritts, der sich auf dem geistigen Boden vollzieht, daher etwas Neues und Besseres produziert, sondern als bloße Veränderungen wie in der Natur, die,

„so unendlich mannigfaltig [die Veränderungen] sind“, „nur einen Kreislauf“ zeigt, „der sich immer wiederholt“. Hier geschieht „nichts Neues unter der Sonne“, und deshalb „führt das so vielformige Spiel ihrer Gestaltungen eine Langeweile mit sich.“647 „Als die gleichförmige Wiederholung derselben Weise der Existenz“648 hat die Entwicklung Chinas nur noch in sich selbst stattgefunden, wie es in der belebten Natur z.B. zur Erhaltung der Gattung geschieht.

Insofern hat China eigentlich keine Geschichte. „China hat dies Eigentümliche, dass es sich in sich selbst entwickelt hat. Soweit die Geschichte geht, insofern es als ein Reich angesehen werden kann, hat es für sich bestanden. Es ist immer geblieben, was es gewesen ist … Unter allen Verhältnissen hat China seinen Charakter immer behalten; kein Volk von einem anderen geistigen Prinzip hat sich an die Stelle des alten gesetzt. Insofern hat China eigentlich keine Geschichte. Wie es jetzt ist, so ist es das Resultat seiner Geschichte; wir sprechen hier nicht bloß von einem vergangenen, sondern auch von einem noch gegenwärtigen Reiche, und indem wir von seiner ältesten Geschichte sprechen, zugleich von seiner Gegenwart. Dies ist das Prinzip des chinesischen Staates … Wenn wir also mit China anfangen, so haben wir vor

643 Hegel 1822-1830a, S. 269.

644 Hegel 1822 S. 145.

645 Hegel 1822 S. 147.

646 Hegel 1822-1830a, S. 276.

647 Hegel 1822-1830, S. 149.

648 Hegel 1822-1830, S. 153.

uns den ältesten Staat und doch keine Vergangenheit, sondern einen Staat, der ebenso heute existiert, wie wir ihn in alten Zeiten kennen lernen.“649

Hier merken wir ganz deutlich, wie radikal die europäische Auffassung von chinesischer Geschichte sich in der Zwischenzeit geändert hat. Während bis zur ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Altertümlichkeit der chinesischen Geschichte sowie die Unveränderlichkeit Chinas als Nähe zum ursprünglichen Zustand der Welt aufgefasst wurden, weswegen auch das Chinesische als mögliche Ursprache des Menschen angesehen worden war, tritt China im 19. Jahrhundert bei Hegel als ein ‚statarisches‘ Land des sich wiederholenden Gleichen in Erscheinung, wo das Älteste mit dem Gegenwärtigen und die Gegenwart mit dem Vergangenen so verflochten ist, dass weder Fortschritt noch Entwicklung möglich ist. Ein radikaler Perspektivwechsel, der bereits seit dem 18. Jahrhundert begann, verwandelt die gelobte Unveränderlichkeit Chinas in die abzuwertende Geschichtslosigkeit.

VI.3.2. Unfreiheit des Geistes und Despotismus

Dieser Perspektivwechsel offenbart sich auch da, wo Hegel auf die chinesische Form des Regierens zu sprechen kommt. Hegel weiß, dass die europäischen Gelehrten der Aufklärung wie Leibniz oder Voltaire gerade zur Verherrlichung des chinesischen Regierens nach moralischen Prinzipien übergegangen sind. So „ist oft der chinesische Statt als ein Ideal aufgestellt worden, das uns sogar zum Muster dienen sollte“650. Doch für Hegel ist diese Ansicht ein bedauerlicher Irrtum jener Gelehrter, der daraus entstanden ist, dass sie die lediglich „absolute Gleichheit“ von China gesehen haben, ohne dabei zu bemerken, dass „in China Gleichheit, aber keine Freiheit herrscht“, daher „der Despotismus die notwendig gegebene Regierungsweise“651 ist. In Europa sind „die Menschen nur vor dem Gesetz und in der Beziehung gleich, dass sie Eigentum haben; außerdem haben sie noch viele Interessen und viele Besonderheiten, die garantiert werden müssen, wenn Freiheit für uns vorhanden sein soll. Im chinesischen Reich sind aber diese besonderen Interessen nicht für sich berechtigt, und die Regierung geht lediglich vom Kaiser aus, der sie als eine Hierarchie von Beamten oder Mandarinen betätigt.“652

Die Unfreiheit sowie die Unterwerfung des Menschen unter die zwangsmäßige, äußere Willkür des Despotismus ist die politische Konsequenz des natürlichen Geistes, der seines Fürsichseins nicht bewusst ist. Denn hier „befinden sich die Subjekte … mit den Kindern

649 Hegel 1822-1830a, S. 278.

650 Hegel 1822, S. 157.

651 Hegel 1822, S. 157.

652 Hegel 1822, S. 158.

gleich, die ohne eigenen Willen und ohne eigene Einsicht den Eltern gehorchen“653. So besteht das Sittliche in China „nicht als Gesinnung des Subjektes, sondern als Despotie des Oberhauptes“.654 Während in Europa das Sittliche „nicht allein im Zwange, sondern im Gemüte und in der Mitempfindung“ 655 aufgenommen wird, kann die unentwickelte Subjektivität in China die Gesetze, die Bestimmungen der Sittlichkeit nur noch äußerlich und durch Zwang auf sich nehmen. „Die sittlichen Bestimmungen sind als Gesetze ausgesprochen, aber so, dass der subjektive Wille von den Gesetzen als von einer äußerlichen Macht regiert wird, dass alles Innerliche, Gesinnung, Gewissen, formelle Freiheit nicht vorhanden ist und dass insofern die Gesetze nur auf eine äußerliche Weise ausgeübt werden und nur als Zwangsrecht bestehen.“656

Dies ist auch der Grund, warum in China „die Strafen meist körperliche Züchtigungen sind“.657 Die körperliche Züchtigung, die beim Europäer als schwer entehrend aufgefasst würde, ist in China nicht entehrend, weil dort wegen der fehlenden Subjektivität „das Gefühl der Ehre noch nicht ist.“658 „Die Chinesen aber kennen die Subjektivität der Ehre nicht; sie unterliegen mehr der Zucht als der Strafe, wie bei uns die Kinder; denn Zucht geht auf Besserung, Strafe involviert eine eigentliche Imputabilität. Bei der Züchtigung ist der Abhaltungsgrund nur Furcht vor der Strafe, nicht die Innerlichkeit des Unrechts, denn es ist hier noch nicht die Reflexion über die Natur der Handlung selbst vorauszusetzen.“659 Als ein Beispiel fehlenden Ehrgefühls nennt Hegel eine Legende, nach der ein Chinese als Racheakt statt seinen Gegner eher sich selbst tötet, und zwar deshalb, weil im Falle der Ermordung des Gegners seine ganze Familie hingerichtet würde. Hegel kommentiert dazu: „Dies ist das fürchterliche Verhältnis bei der Imputation oder Nichtimputation, dass alle subjektive Freiheit und moralische Gegenwart bei einer Handlung negiert wird.“660 Das fehlende Ehrgefühl führe die Chinesen nicht nur zur Selbsterniedrigung, sondern auch zu großer Immoralität, wie etwa die Chinesen für häufiges Betrügen bekannt seien. „Indem keine Ehre vorhanden ist und keiner ein besonderes Recht vor dem anderen hat, so wird das Bewusstsein der Erniedrigung vorherrschend, das selbst leicht in ein Bewusstsein der Verworfenheit übergeht. Mit dieser Verworfenheit hängt die große Immoralität der Chinesen zusammen. Sie sind dafür bekannt,

653 Hegel 1822, S. 135.

654 Hegel 1822, S. 29.

655 Hegel 1822, S. 142.

656 Hegel 1822, S. 142.

657 Hegel 1822, S. 162.

658 Hegel 1822, S. 162.

659 Hegel 1822, S. 162.

660 Hegel 1822, S. 164.

zu betrügen, wo sie nur irgend können: der Freund betrügt den Freund, und keiner nimmt es dem andern übel, wenn etwa der Betrug nicht gelang oder zu seiner Kenntnis kommt.“661

VI.3.3. Undifferenziertheit

Eine unmittelbare Folge der Unentwickeltheit des Geistes offenbart sich auch im politischen Leben Chinas darin, dass Religion und Staat nicht getrennt sind. „Wie Äußerliches und Innerliches, Gesetz und Einsicht noch eins sind, so sind es auch Religion und Staat. Der Unterschied zwischen der Geistigkeit als solcher und einem weltlichen Reiche tritt … noch nicht ein … Das Reich Gottes ist auch weltliches Reich, und das weltliche Reich ist auch Gottes Reich.“662 Die Trennung des Innerlichen einer Person von der Weltlichkeit des Staates, die nach Hegel die wichtigste Bedingung für Religion ist, besteht in China nicht, was man auch an dem Umstand bestätigt finden könne, dass in China nicht Gott, sondern der Kaiser, der „das einzelne Selbstbewusstsein als substantielles“ 663 ist, „Chef der Religion“ ist.

Demnach spricht Hegel der chinesischen Religion den wahren Glauben ab. „Denn uns ist dieselbe [Religion] die Innerlichkeit des Geistes in sich, indem er sich in sich, was sein innerstes Wesen ist, vorstellt. In diesen Sphären ist also der Mensch auch dem Staatsverhältnis entzogen und vermag in die Innerlichkeit hineinflüchtend sich der Gewalt weltlichen Regiments zu entwinden. Auf dieser Stufe aber steht die Religion in China nicht, denn der wahre Glaube wird erst da möglich, wo die Individuen in sich selbst; für sich unabhängig von einer äußeren treibenden Gewalt sind. In China hat das Individuum keine Seite dieser Unabhängigkeit; es ist daher auch in der Religion abhängig, und zwar von Naturwesen, von welchen das Höchste der Himmel ist.“664

Mit Blick hierauf spricht Hegel von der seit Matteo Ricci von den Jesuiten-Missionaren behaupteten Identität des chinesischen Himmels „Tien“ mit dem christlichen Gott. Anders als die figuristischen Jesuiten des 17. Jahrhunderts ist Hegel aber der Ansicht, das Wort „Tien“ habe in China „nur die Bedeutung der Natur“665, dürfe daher keineswegs wie der christliche Gottesname „in der Bedeutung des Herrn der Natur genommen werden“666. In diesem Punkt stimmt der Protestant Hegel mit dem katholischen Papst überein. „Die Jesuiten gaben zwar in China nach, den christlichen Gott Himmel, Tien, zu nennen, sie wurden aber

661 Hegel 1822, S. 165.

662 Hegel 1822-1830a, S. 269.

663 Hegel 1822, S. 166.

664 Hegel 1822, S. 166.

665 Hegel 1822, S. 166.

666 Hegel 1822, S. 166.

deshalb beim Papst von anderen christlichen Orden verklagt … und ein Bischof, der nachgeschickt wurde, verordnete, statt Himmel solle Herr des Himmels gesagt werden.“667

Diese negative Einstellung Hegels gegenüber dem Chinesischen offenbart sich auch bei seiner Auslegung des chinesischen Buchs I-Ching, das zunächst von Bouvet, danach auch von Leibniz als wichtigstes Dokument des chinesischen Geistes entgegengenommen wurde und beweisen sollte, dass die chinesische Philosophie mit der jüdisch-christlichen Uroffenbarung im Einklang gewesen sei. Für Hegel dient das Kombinationsprinzip in I-Ching nur noch dem geistlosen Aberglauben, der „die Unselbständigkeit des Inneren und … das Gegenteil von der Freiheit des Geistes“ 668 beim Chinesen erkennen lässt. „Im Yi-King [I-Ching] sind gewisse Linien angegeben, die die Grundformen und Grundkategorien bezeichnen, weshalb dieses Buch auch das Buch der Schicksale genannt wird. Der Kombination von solchen Linien wird eine gewisse Bedeutung zugeschrieben und die Prophezeiung dieser Grundlage entnommen. Oder eine Anzahl von Stäbchen wird in die Luft geworfen und aus der Art, wie sie fallen, das Schicksal vorherbestimmt. Was uns als zufällig gilt, als natürlicher Zusammenhang, das suchen die Chinesen durch Zauberei abzuleiten oder zu erreichen, und so spricht sich auch hier ihre Geistlosigkeit aus.“669

VI.3.4. Mangelnde Innerlichkeit

Der „Mangel eigentümlicher Innerlichkeit“670 von Chinesen hat auch negative Folgen für die Entwicklung der chinesischen Wissenschaft. Obwohl einerseits die Wissenschaft in China

„aufs höchste geehrt und gepflegt scheinen, so fehlt ihnen auf der andern Seite gerade jener freie Boden der Innerlichkeit und das eigentliche wissenschaftliche Interesse, das sie zu einer theoretischen Beschäftigung macht. Ein freies, ideelles Reich des Geistes hat hier nicht Platz,

„aufs höchste geehrt und gepflegt scheinen, so fehlt ihnen auf der andern Seite gerade jener freie Boden der Innerlichkeit und das eigentliche wissenschaftliche Interesse, das sie zu einer theoretischen Beschäftigung macht. Ein freies, ideelles Reich des Geistes hat hier nicht Platz,

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