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3 WISSEN UND WISSENSGENERIERUNG

3.1 Systematik des Wissensbegriffs / Typen von Wissen in der Moderne

3.1.6 Wissen als Orientierung

Der Begriff des Orientierungswissens scheint in zweierlei Hinsicht relevant: Einerseits ist es einer der zentralen Wissensbegriffe der Strukturalen Medienbildung (Jörissen & Marotzki 2009, S. 29 sowie 38 ff.), weil er als zentrale Qualität des Umgangs mit Pluralität und Unbestimmtheit gelten kann. Andererseits scheint er deutliche Überschneidungen zu einem impliziten Erfahrungswissen zu haben und damit eine Qualität, die Orientierungswissen zunächst als latent unverfügbar und nur als durch Reflexion zugänglich charakterisierbar macht. Die Unterscheidung zwischen Verfügungswissen und Orientierungswissen (vgl. Mittelstraß 2001, S. 44, 65 f.) zielt auf die Unterscheidung zwischen einem Wissen, wie etwas gemacht wird (welches auch teilweise erfahrungsbasiert ist und nicht pauschal als bloße Daten oder Information verstanden werden

kann) und einem Wissen um die Angemessenheit einer gewissen Handlungsweise ab. Es geht um die Frage, ob und welche Handlung situationsbedingt vollzogen werden sollte. Angesichts der definierten Grundbegriffe scheinen beide Wissenstypen erfahrungsabhängig, wobei Orientierungswissen eher dem impliziten Wissen zuzuordnen ist, da wir nicht immer erklären können, warum wir in gewissen Situationen bestimmte Handlungen vollziehen beziehungsweise was die konkreten Annahmen sind, die zu einer Orientierung führen.

Wie auch Willke in seiner Einführung erläutert, verschwimmen selbst in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung die Definitionen zwischen den Begriffen regelmäßig. Eine klare Trennung von Information und Wissen wird häufig nicht vorgenommen, die Informationsübertragung oder der Wissenstransfer als trivial angenommen (vgl. Willke 1998, S. 9 ff.). Im Folgenden muss daher eine Trennung zwischen den Begrifflichkeiten einzelner Autoren, auf die hier Bezug genommen wird, und der von Willke übernommenen Definition, die für eine Systematisierung überaus hilfreich und trennscharf erscheint, erfolgen. Für die späteren Betrachtungen weniger von Interesse sind die Gedanken von Willke zum Lernen von Organisationen, die für Konzepte einer Wissensgesellschaft zwar relevant scheinen, für eine Konzeption der Strukturalen Medienbildung aber erstmal nicht im Fokus stehen. Jenseits des zuvor eingeführten systemischen Wissensbegriffes nach Willke wird Wissen im Kontext einer Wissensgesellschaft häufig als Black Box angenommen. Das bedeutet, dass eigentlich nicht klar ist, wie sich Wissen konstituiert, welchen Rahmenbedingungen es gegebenenfalls folgt und welche Funktionen es übernimmt. Gerade das ist aber nötig, wenn man verstehen will, worin nun die Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft (und gegebenenfalls auch darüber hinaus) eigentlich besteht. Das Konzept der krisenhaften Moderne und die Notwendigkeit zur Orientierung beinhalten die Forderung nach einem Fokus auf die orientierende Kraft von Wissen und die Annahme, dass Wissen eine neue Funktion übernehmen muss. Die Frage stellt sich insbesondere, weil auch schon in der Industriegesellschaft und auch den vorherigen Epochen Informationen und Wissen essentielle Bedeutungen für Gesellschaftsstrukturen innehatten, meist auch mit einer Form von Macht assoziiert war und der Zugang zu Informationen häufig bestimmten Regeln unterworfen war, die unter Punkt 3.2 noch in einem historischen Rückblick deutlich gemacht werden sollen. Es stellt sich ebenfalls die Frage nach einer Systematik des Wissens, also welche Formen von Wissen es gibt und in welcher Weise sie für gesellschaftliche Funktionen relevant sind.

Das Konzept von Orientierung- und Verfügungswissen von Mittelstraß (2001) schließt an diese Überlegungen fruchtbar an. Wie schon einführend erläutert, wird dabei die Unterscheidung zwischen einem Wissen um das Wie oder Was von einem Wissen um das Ob vorgenommen. Im Kontext der Ausführungen von Lyotard zum wissenschaftlichen Wissen kam die Verknüpfung einer Verbreitung von Rationalität innerhalb von Kultur in Abhängigkeit von einer wissenschaftlichen Rationalität zur Sprache. Mittelstraß sieht in dieser, der wissenschaftlichen Rationalität, ebenfalls die Grundlage für moderne Kulturen und begründet damit die Bedeutung der Wissenschaft in diesen beiden Wissensdimensionen.

„Mit anderen Worten: Wenn Rationalität ein wesentlicher, sie geradezu definierender Bestandteil moderner Kulturen ist und den Kern dieser Rationalität die wissenschaftliche Rationalität bildet, dann ist auch Wissenschaft modernen Kulturen nichts Äußerliches, dann gehört auch Wissenschaft nicht nur unter Gesichtspunkten eines Verfügungswissens, d.h. eines Wissens um Ursachen, Wirkungen und Mittel, sondern auch unter Gesichtspunkten eines Orientierungswissens, d.h. eines Wissens um Ziele und Zwecke, zu den konstitutiven Elementen dieser Kulturen. Schließlich dient Rationalität nicht nur der Aneignung der Welt, sondern auch der Orientierung in der Welt“

(Mittelstraß 2001, S. 16).

In diesem Sinne sei die moderne Welt ein Produkt sowohl von verfügender als auch von orientierender Rationalität, welche sich wiederum aus dem epistemischen Wesen des Menschen ableiten lasse. Aufgrund dieses epistemischen Wesens seien dem Menschen die Wissensbildungsprozesse nicht äußerlich. „Sie bilden vielmehr das Medium, in dem sich der Mensch orientiert, und zwar in Alltags- und in Wissenschaftsform“ (ebd.). Auf der Ebene des

„herstellenden Tuns“ stelle sich das epistemische Wesen Mensch als technisches Wesen dar, welches sich eigene Werkzeuge schaffe und auf sie angewiesen sei und er erweitere seine Organe zur Interaktion mit der Welt durch „künstliche“ Organe. Interessant ist hier auch die Wahl des Begriffs Medium, dem sich der zweite Teil dieses Kapitels widmet. Es sei hier nur vorausgeschickt, dass damit eine enge Verknüpfung zwischen Wissen und Medium angedeutet wird.

Die zuvor gesammelten Wissenstypen nach Stehr beziehungsweise die Diskussion darum deuten auf eine Unklarheit hin, inwiefern Wissenschaft als Grundlage oder Bezugspunkt anderer Wissenstypen gesehen werden kann oder muss. In Bezug auf die Frage, welche Rolle Wissenschaft daher in Orientierungsprozessen spiele, spricht Mittelstraß von einer falschen Klarheit:

„Wenn Wissenschaft Teil, und zwar wesentlicher Teil, der Rationalitätsstruktur der modernen Welt ist, dann hat sie auch teil an den Orientierungsfunktionen von Rationalität, teil am Orientierungsprofil rationaler Kulturen bzw. an gesellschaftlichen Rationalitäten. Doch diese Klarheit täuscht“ (ebd., S. 17).

Vielmehr entstehe seiner Ansicht nach neben einem erkenntnisversprechenden Pluralismus der Theorien in der Wissenschaft auch ein „Pluralismus in Sachen wissenschaftlicher Rationalität“

(ebd., S. 19). Daraus ergebe sich, dass die Orientierungsfunktion der Wissenschaft „heute bereits durch wissenschaftstheoretische, in diesem Sinne innerwissenschaftliche Unklarheiten belastet ist“ (ebd.). Es soll an dieser Stelle gar nicht auf die eigentliche Argumentation zur Qualität und gesellschaftlichen Funktion der Wissenschaft und der Funktion von Universität sowie die Frage nach einer Wissenschaftsethik eingegangen werden, mit der sich Mittelstraß beschäftigt. Vielmehr soll zunächst deutlich werden, dass sowohl Mittelstraß als auch Stehr die Rationalität der Wissenschaft als zentralen Bestandteil oder Ausgangspunkt von kultureller Rationalität sehen und damit nahegelegt wird, dass Wissen und Wissensstrukturen nach diesem Vorbild entstehen oder entstanden sind. Ferner geht damit gleichzeitig eine inhärente Unsicherheit einher, eine Kontingenz des Wissens, welche laut Stehr in zweifacher Weise wirkt und die sich aus der prinzipiellen Vorläufigkeit wissenschaftlichen Wissens ergibt, die aber für den Alltagsgebrauch

schlicht nicht funktional ist. Durch den Umgang mit Informationen und Wissen hervorgegangene Institutionen geben eben diesem Wissen eine Verbindlichkeit, indem sie es für die Alltäglichkeit verfügbar machen, gleichzeitig aber auch die Kontingenz lediglich zu maskieren scheinen, die ihm ebenso notwendigerweise innewohnt. Es scheint also klar, dass mit einer sich verändernden Wissensbasis, egal ob wissenschaftliche oder kulturell, auch die Institutionen sich entweder wandeln müssen oder ihre Legitimation verlieren können. Mittelstraß argumentiert hier spezifisch im Kontext der Bildungsinstitutionen, allen voran der Universität. Generell scheint die These aber nicht auf das institutionalisierte Bildungswesen beschränkt.

Mit dem Wechsel in eine sogenannte Wissensgesellschaft, wenn man dieser unterstellt, dem Wissen und den es hervorbringenden Strukturen eine gesteigerte Bedeutung zuzuweisen, scheint der genannte Mechanismus mittels dessen Wissen kulturell institutionalisiert wird aber zu versagen. Die Kontingenz als Phänomen der Moderne wirkt sich in der Weise aus, dass Wissensstrukturen nicht länger oder nicht unmittelbar genug die notwendige Verbindlichkeit herstellen können. Die Frage, inwiefern dieser Entwicklung anhand sich verändernder medialer Technologien nachgegangen werden kann, ist die Kernfrage dieser Arbeit. Es lassen sich aber offenbar schon aus den hier skizzierten theoretischen Überlegungen bestimmte Aspekte ableiten.

Mittelstraß verweist beispielsweise auf das Konzept von Wissen als Ware, wodurch das Wissen sich jenseits einer Idee der Metaphysik zu einem Gut entwickelt, welches sich Marktmechanismen unterworfen sieht. „Wissen ist heute in der Tat für große Teile der Gesellschaft etwas geworden, mit dem man umgeht, das man aber nicht selbst mehr betreibt. Das Zauberwort lautet Wissensmanagement“ (Mittelstraß 2001, S. 39). Er kritisiert dabei, dass zwar mit Wissen umgegangen und hantiert wird, es aber, wie von einem Fan einer bestimmten Sportart, nicht länger aktiv ausgeübt wird. Es entstehe so eine Distanz zwischen Wissen und Wissendem. Der Wissende sehe sich nicht länger als Teil des Prozesses. Somit verliere das Wissen als Ware sein

„eigentliches Wesen, nämlich Ausdruck des epistemischen Wesens des Menschen zu sein […].“

(ebd., S. 39 f.) und er konstatiert, dass damit eine veränderte Wahrnehmung und ein anderer Umgang mit Wissen einhergehe.

Dieser allgemeine Trend zeige sich laut Mittelstraß besonders deutlich am Verhältnis der Begriffe Wissen und Information: „Information macht dem Wissen und der Gesellschaft Beine, aber sie ist damit noch nicht, wie sie selbst vorgibt, das bessere Wissen“ (ebd., S. 41).

Die Kritik könnte, auch vor dem Hintergrund des Informations- und Wissensbegriffs nach Willke, als Informatisierung des Wissens betitelt werden, wobei Mittelstraß primär kritisiert, dass Wissensarbeiter nur mit dem vorhandenen Wissen umzugehen verstehen, aber dem „Meer des Wissens“ selbst nichts hinzufügen (vgl. Mittelstraß 2001, S. 39 ff.).

Er führt weiter aus: „Es entsteht der irreführende Eindruck, daß sich das Wissen selbst in Informationsform bildet, daß mit dem Informationsbegriff ein neuer Wissensbegriff entstanden ist, und zwar, gegenüber älteren Wissensbegriffen, der einzig richtige“ (ebd., S. 42). Wissen wird hier auch als Wahrheit aufgefasst, und nicht alles, was mittels Informationen verbreitet werde, sei demnach auch wahrhaftig und führe zu korrektem Faktenwissen. Vielmehr sei unter dem Wissen

in Warenform auch „das Oberflächliche und Ungeprüfte, das Halbgare und das Verdorbene, sogar (gelegentlich) Täuschung und Lüge“ (ebd., S. 43) zu finden. Mittelstraß spricht von einem – offenbar unhinterfragten – Vertrauen darin, dass die Information „stimme“. Darin sieht er die essentielle Veränderung im Konzept von Wissen, das Individuum sei eben nicht mehr in der Lage zu prüfen, ob es sich tatsächlich um Wissen handele: „Wissen kann man sich nur als Wissender aneignen, Wissen setzt den Wissenden voraus, Wissen heißt lehren können“ (ebd.). Ferner seien im „Medium der Information“ Wissen und Meinung ununterscheidbar, beides artikuliere sich identisch und „der ‚Informierte‘ selbst weiß nicht, ob er in einer Wissenswelt oder in einer Meinungswelt lebt“ (ebd.). Er bezeichnet die sich daraus ergebende Maskierung als „neue Dummheit“. Die so beschriebene „Krise des Wissens“ wird offenkundig einerseits auf Veränderungen in den Institutionen des Wissens – allen voran der Wissenschaft – begründet, andererseits aber auch mit der nicht näher spezifizierten Beziehung zwischen Wissen und Medien, wie sich insbesondere im Blick auf das Wissen als Ware zeigt. Es scheint lohnenswert, zu diesem Aspekt später in der Argumentation zurückzukehren. Zunächst soll aber noch ein Blick auf den Typus des Erfahrungswissens geworfen werden.