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4 DAS MEDIUM INTERNET

4.2 Das Netz als Medium - Theorien und Strukturmerkmale

4.2.3 Digitale Medieneffekte in 100 Dimensionen

Und jenseits des WWW eröffnet sich die ganze Welt der digitalen Unterhaltungssoftware und ihrer virtuellen Welten, die alles andere als textlastig sind und von denen eine Tendenz zur Immersion ausgeht, die zweifelsfrei eine Involvierung oder Inklusion im Sinne kalter Medien freisetzt. Man beachte in diesem Zusammenhang auch die Idee unterschiedlicher Räume bei McLuhan, insbesondere den Gegensatz des visuellen Raumes der Schriftkultur und des akustischen Raumes einer elektrifizierten (und damit digitalisierten) Kultur (vgl. Cavell 2008, S. 274 f.).

Die Diskussion um die Temperatur von Multimedia und dem Internet zeigt zumindest die Komplexität der Digitalen Medialität auf, eindeutige Antworten vermag sie nicht zu leisten, was nicht gänzlich überraschen kann. Man kann daraus die Unzulänglichkeit der Theorie McLuhans schlussfolgern, andererseits kann man dies auch als Hinweis darauf lesen, wie grundlegend sich das Medium Internet durch seine Möglichkeit zur Simulation verschiedener Materialitäten von vorherigen Medien unterscheidet. Um sich diesem Aspekt auf andere Art zu nähern, steht aber mit der Tetrade der Medieneffekte noch ein weiteres Werkzeug aus dem mcluhanschen Inventar zur Verfügung.

Form von Gemeinschaft von gleichrangigen Bürgern, in der alle Aushandlungsprozesse transparent sind (oder sein sollten). Genau wie dem Forum und der Polis liegen dem Internet bestimmte inhärente Ungleichheiten in Nutzung und Zugang zugrunde. Frauen und Sklaven waren keine Bürger und hatten insofern nicht die gleichen Bürgerrechte, in Bezug auf das Netz können sich soziale Ungleichheiten, ungleiche technische Zugänge sowie Unterschiede in Kompetenzen und Bildung in ähnlicher Weise auswirken.

Nichtsdestotrotz schafft das Netz an vielen Stellen Räume für gleichberechtigten Austausch und für Vergemeinschaftung jenseits von etablierten sozialen Normen.

Öffentliche Diskurse sind nicht länger auf unidirektionale Massenmedien beschränkt und somit dem antiken Forum nicht unähnlich.

• Wie wird das Medium umgekehrt, wenn es an seine Grenzen gebracht wird?

Gedankenlosigkeit, Vereinzelung oder Fragmentierung scheinen beobachtbare Phänomene zu sein. Das Ziel und die Idee des Internets und des frühen WWW war ein gemeinsamer öffentlicher Raum (primär im akademischen Kontext), an dem jeder in gleichem Maße partizipieren konnte. Tatsächlich haben wir es in der heutigen Form des Netzes aber mit Teilöffentlichkeiten, Filterblasen (vgl. Pariser 2011) und immer stärkerer Unterteilung, z.B. auch in unterschiedliche Substrukturen und Dienste zu tun. Der Trend geht scheinbar dahin, dass jedes Individuum potentiell sein eigenes personalisiertes Netz generiert. Der universale und homogene Cyberspace existiert nicht und hat es vielleicht nie. Insofern ist das Netz ebenso heterogen wie die restliche Welt und neigt vielleicht sogar stärker zur Fragmentierung, weil es jeweils vom Nutzer aus neu aufgespannt wird. Es ist dabei nicht garantiert, dass diese individuellen Netze untereinander Berührungspunkte haben müssen.

Wie schon erwähnt stellt das natürlich nur eine mögliche Lesart dar, andere Tetraden sind ohne weiteres möglich. Insbesondere wird aber auch die Vorläufigkeit der Natur des Mediums deutlich, denn mit jeder zusätzlichen Schicht verändert sich diese und damit auch die möglichen Praktiken und Effekte. Je konkreter man die Dienste betrachtet, desto detaillierter können diese beschrieben werden. Gleichsam neigt das Modell der Tetrade dazu, Beziehungen zwischen existierenden Medien herzustellen, insbesondere auch neue Medien mit den Effekten der alten in Verbindung zu setzen. Das bedeutet, dass eine Art der Vernetzung zwischen Medien deutlich wird, die komplexer ist als die ursprünglich von McLuhan formulierte Variante, dass der Inhalt jeden Mediums immer ein anderes Medium sei. Die Beziehungen können offenkundig spannende Phänomene hervorbringen und außerdem werden Effekte aus vorherigen Generationen womöglich wieder aktuell. Dies lässt sich auch anhand eines Vergleiches von Kommunikationsmedien aufzeigen. Das Internet ermöglicht abstrakten Datenaustausch nach bestimmten Regeln, aber bleibt vorerst unkonkret. Es eröffnet Möglichkeiten. Wie diese Möglichkeiten konkret aussehen, zeigen uns die Dienste, wie beispielsweise das WWW.

Es liegt daher nahe, dass Tetradenprinzip auch für weitere Dienste beziehungsweise Digitale Medien zu erproben, exemplarisch soll dies für das World Wide Web getestet werden. Das WWW steht im engen Zusammenhang mit dem Internet und ist der wohl aktuell dominanteste Dienst.

Eine mögliche Tetrade ergibt sich wie folgt:

• Was wird verstärkt? Beziehungen und Vernetzung. Die Kernfunktion des WWW ist der Hyperlink, er verknüpft digitale Artefakte unidirektional miteinander, das Subjekt steht im Zentrum, von ihm geht das Web aus. Ähnlich wurde es zuvor für das Internet formuliert, wenn es an seine Grenzen gebracht wird. Es entsteht jedoch hier die eher zwanglose, nicht unbedingt zielgerichtete Navigationspraxis des assoziativen Browsens oder Surfens. Die Zahl der Links (und ihrer Kontexte) bestimmt die Relevanz von Angeboten, ein erster Schritt in Richtung Sozialer Netzwerke.

• Was wird obsolet? Reproduzierte Linearität, also die vorgegebene Reihenfolge einer Sequenz (z.B. eines Dokumentes) sowie vorgegeben Pfade. Durch den Link werden neuen Sequenzen und auch Rekontextualisierungen möglich. Die Kenntnis dezidierter Orte im Internet (z.B. Domänennamen oder IPs) ist nicht mehr notwendig, solange ein Link zu Ihnen führt. Relevanz wird über Beziehungen hergestellt. Der Aufruf einer beliebigen Website führt in der Regel im Hintergrund zu diversen weiteren Aufrufen von Dienstleistern, Werbepartnern oder verteilten Anfragen, die dem Nutzer verborgen bleiben. Dadurch ist aber auch unklar, wohin man sich eigentlich verbinde.

• Was wird zurückgewonnen? Assoziatives und bildhaftes Denken, nicht-schriftliche Kommunikation (Videos, Videochat, Podcasts oder auch haptische Kommunikation) ermöglicht andere Formen des Denkens und damit ganzheitliche Wahrnehmungsmodi, McLuhan spricht mit Blick auf elektrische Medien von einem akustischen Raum. Selbst textbasierte Kommunikationsdienste wie beispielsweise Twitter verweisen auf Zusammenhänge mit den jeweiligen individuellen Sinneswelten. Ein Beispiel ist das Foto-Phänomen „Foodporn“ (vgl. Rousseau 2014): Ein Foto von einer Mahlzeit transportiert eine Sinnesebene von Riechen und Schmecken, die beim Publikum gegebenenfalls Erinnerungen wachruft, beinhaltet also mehr als nur die objektive und profane Information, was jemand wann und gegebenenfalls wo gegessen hat. Selfies, also inszenierte Selbstbilder, kommunizieren in ähnlicher Weise Bedürfnisse nach Validierung, Zugehörigkeit und Selbstverständnis. Beides sind keine ursächlich digitalen Phänomene, sie wurden lediglich digitalisiert und dadurch massentauglich.

• Wie wird das Medium umgekehrt? Zentralisierung und virtuelle Orte: Obwohl das Internet diese nicht bevorzugt erzeugt, scheint der Großteil der Dienste im WWW einem zentralistischen Prinzip zu folgen, weil sie von einer Organisation auf deren Servern

‚zentral‘ angeboten werden. Auch wenn es sich um verteilte Server und Serverfarmen handeln kann, konstituieren sie einen scheinbar festen Ort im WWW (z.B. unter einer Domäne). Einige wenige große Dienste und Organisationen akkumulieren eine wachsende Menge an Daten, um ihre Effizienz zu steigern. Tatsächliche Konkurrenz entsteht kaum,

eher gibt es eine Tendenz zur Monopolisierung. Das in der technischen Infrastruktur des Internets angelegte Potential zur Dezentralisierung wird scheinbar umgekehrt. Schon in der frühen Phase des Netzes waren zentralisierte Dienste wie Geocities (persönliche Homepage), AOL, Yahoo etc. (für die Suche beziehungsweise als Portal) oder Ebay und Amazon (für Shopping) die erfolgreichsten Websites.

Auch hier sind weitere Effekte denkbar, gleichzeitig wird klar, dass man die Tetrade auch für weitere Dienste ermitteln kann und gegebenenfalls damit eine Evolution des Netzes sowie dessen Bandbreite deutlich wird. So zeigt sich beispielsweise, dass ein Trend existiert, der ausgehend vom Internet, das als ein gemeinsamer Raum zum Austausch von Daten geschaffen wurde, offenbar ein World Wide Web entstanden ist, das virtuelle Räume aufspannt, die gerade das Gegenteil fördern.

Strukturmerkmale und ihre Effekte im Sinne McLuhans scheinen insofern deutlicher sichtbar, je konkreter der Kontext wird. Unabhängig davon, zu welchem Grad dies zutrifft oder nicht, zeigt sich aber die Veränderung recht deutlich. Wer ernsthaft über das Internet Aussagen treffen will, muss sich zunächst dieser Dynamik und den potentiellen Verschiebungen bewusstwerden. Dann wird auch deutlich, warum sich bestimmte Hoffnungen, die lange mit dem Medium Internet verbunden waren, so nicht erfüllt haben. An dieser Stelle sollen keine weiteren Dienste anhand der Medientetrade betrachtet werden, jedoch wäre dies ein spannendes Anschlussprojekt und im Kontext der Strukturalen Medienbildung eine zu entwickelnde Methode zur Analyse. Die Ergebnisse dieser Betrachtung sollen später noch Gegenstand der abschließenden Diskussion sein.