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3 WISSEN UND WISSENSGENERIERUNG

3.2 Eine kurze Geschichte des Wissens

3.2.2 Die Informationsexplosion

Das Wissen des Mittelalters war eng gekoppelt an den Klerus und in der Hand der Kirche. Auch die Mittel zur Produktion, Reproduktion und Verbreitung von Wissen waren dort angesiedelt, insbesondere da die Vervielfältigung von Dokumenten fast ausschließlich in Handarbeit geschah.

Bücher, Karten und Informationen waren insofern nicht allgegenwärtig, sondern rar und meist nicht allgemein zugänglich. Zentrale Bildungsinstitutionen (Schulen, Universitäten oder Bibliotheken), die auch der Ausbildung von Staatsbediensteten dienten, waren selbstverständlich mit dem Klerus verbunden, der sowohl lesen als auch schreiben konnte.

Die Erfindung des Buchdrucks markiert den Beginn der Verfügbarkeit zentraler Infrastruktur, die Information und Wissen in ihrer Verbreitung und Generierung grundlegend verändert hat.

Oberflächlich betrachtet ermöglichte der Buchdruck zunächst, so wie auch Marshall McLuhan es beschrieb, die massenhafte und kostengünstige Verbreitung objektiver Informationen, die zuvor nur mühsam per Hand dupliziert werden konnten. Daraus ergaben sich laut Burke auch neue Karriereoptionen für Intellektuelle („clerisy“) in Bereichen wie Übersetzung, Korrekturlesen oder das Anfertigen von Indizes. Durch die stetig steigende Anzahl an Publikation wurde es notwendig, die Menge der Informationen navigierbar zu machen, es wurde also eine relevante Aufgabe Werkzeuge zu schaffen, um den Überblick zu behalten. Dies wurde zur Aufgabe der Männer des Lernens oder Männer der Buchstaben („men of learning/men of letters“, Burke 2000, Kap. 2, Continuities and Discontinuities), die in Abhängigkeit ihrer verschiedenen Ausbildungskontexte die neuen Möglichkeiten nutzten. Angesichts der steigenden Zahl an Schriftverkehr stiegen Berufe wie beispielsweise der des Sekretärs oder Assistenten in ihrer Relevanz enorm. Häufig wurden sie von Männern mit Universitätsabschluss ausgeübt, weshalb auch die Zahl der Studenten stieg.

Insbesondere in Frankreich etablierten sich Spezialisten, die einerseits Wissen in Form von Material sammelten und organisierten sowie andererseits Gelehrte miteinander bekannt machten, man könnte auch sagen miteinander vernetzten.

Auch die Institutionen des Lernens veränderten sich: die Kirche, die über lange Zeit ein Monopol auf Informationsproduktion und -reproduktion hatte, war nicht länger die einzige Quelle und säkulare Institutionen wie Bibliotheken und Universitäten etablierten sich zumindest in Europa relativ flächendeckend. Gleichzeitig wurden neuen Funktionen von Verwaltung etabliert, Kartografie wurde ein probates Mittel für Verhandlungen und immer häufiger wurden statistische Daten seitens der Herrscher erhoben (vgl. Burke 2000, Kap. 6). Mit der Vervielfältigung objektiver Informationen stellten sich zudem neue Fragen der Lagerung und Verarbeitung. Während Personen in offizieller Funktion ihre Korrespondenzen und Dokumente häufig zuhause bearbeitet hatten und als Privateigentum betrachteten (Dokumente wurden meist in der Familie vererbt), entstand mit der Sammlung von immer mehr Informationen auch die Notwendigkeit zur Archivierung und Zugänglichkeit, zumindest für die Verantwortlichen und Berechtigten des Staates. Denn mit der gestiegenen Relevanz von Informationen entwickelte sich auch das

Bewusstsein, dass mit Ihnen eine gewisse Macht einhergeht, weshalb der Zugang streng reglementiert und nur Wenigen vorbehalten war. Das Staatsmonopol auf bestimmte Arten von Information und der daraus abgeleitete Anspruch auf Zugangsbeschränkungen wurde erst mit dem Aufkommen von demokratischen Ideen wie beispielsweise während der französischen Revolution in Frage gestellt.25

Als weiterer Aspekt, der sich auch aus dieser Entwicklung speist, ist das Aufkommen von Zensur und Indizierung (vgl. ebd.). Insbesondere die katholische Kirche des 16. Jahrhunderts war daran interessiert dem Protestantismus durch Verbot entsprechender Bücher Einhalt zu gebieten, andere Gründe für ein komplexes System der Indizierung und Zensur waren moralische Bedenken.

Listen von verbotenen Themen oder auch Autoren wurden erstellt und verbreitet, allerdings auch oft erfolgreich missachtet:

„It was resisted by printers, booksellers and readers, often with success. It may have been counter-productive, encouraging the curiosity of the faithful. All the same, it did obstruct the circulation of knowledge in the Catholic World“ (ebd.).

Doch auch die protestantischen Kirchen und staatliche Institutionen übten sich in Zensur, wenn auch mit unterschiedlich starkem Erfolg. Bisweilen wurde, wie in England, das Drucken von Büchern nur für bestimmte eingetragene Pressen erlaubt oder später eine notwendige Kontrolle vor die Veröffentlichung von Büchern gestellt. Vor diesem Hintergrund stellt das geltende Zensurverbot z.B. in Deutschland ebenfalls eine Errungenschaft der demokratischen Gesellschaft dar. Im Gegenzug konnte auch das gezielte Verbreiten bestimmter Informationen für politische Ziele instrumentalisiert werden. Der Machtfaktor von Informationen konnte sich so in unterschiedlichen Formen auswirken.

Die Idee von geistigem Eigentum und Urheberrecht entwickelte sich ebenfalls parallel ab dem Ende des Mittelalters als nur eines von vielen Phänomenen, die zeigen, welches wirtschaftliche Interesse an Informationen hier entstand. Burke zeigt anhand mehrerer Beispiele, wie Wirtschaftszentren wie Venedig, Amsterdam oder London auch Informationszentren waren und inwiefern Gesetze dazu die Rahmenbedingungen schaffen konnten (ebd., Kap. 7).

Zusammenfassend spricht Burke von einer „commercialization of the book“ oder „consumer revolution“, die auch mit der Entstehung von kommerzieller Presse einhergeht. Die Verbreitung gedruckter Werke stieg damit stetig an und durchdrang die Kultur in vielerlei Hinsicht. Wenn McLuhan von der Buchkultur oder „print culture“ spricht, dann ist es dieser Entstehungsprozess der etwas leichtfertig unterschlagen zu werden scheint. Es ist jedoch auch in der Darstellung von Burke offenkundig, dass der Prozess sich regional qualitativ und quantitativ recht unterschiedlich gestaltete und insbesondere auch aufgrund unterschiedlicher kultureller Prägungen in

25 Man könnte mit McLuhan argumentieren, dass das Medium der Schrift und des Buches diese Entwicklung als strukturelle Eigenschaft mit vorangetrieben hat, zumal die Kosten der Vervielfältigung identischer Informationen massiv gesunken waren, ein Argument, dem wir in Bezug auf das Internet heute erneut begegnen und das ebenfalls zu Verschiebungen im Umgang mit öffentlichen Daten und Informationen geführt hat. Ein Beispiel dafür wären die Forderungen, dass öffentliche Daten auch flächendeckend der Öffentlichkeit zugänglich sein müssen.

unterschiedlicher Weise verlief (vgl. Burke 2000, Kap. 7 - Comparisons and Conclusions + Kap. 8 - Aquiring knowledge of other cultures).

Der westlich/europäische Buchdruck unterschied sich dabei auch technisch sehr grundlegend vom Buchdruck in Asien (wo er schon wesentlich früher entdeckt wurde). Hier wurden die Druckplatten seitenweise angefertigt und die große Anzahl Schriftzeichen erlaubte auch nicht die Nutzung beweglicher Lettern wie bei Gutenberg. In der muslimischen Welt wurde der Buchdruck hingegen während der gesamten Frühmoderne abgelehnt, die Reproduktion religiöser Bücher wurde als Sünde betrachtet und in der Konsequenz wurde das Drucken von Büchern zu Beginn des 16.

Jahrhunderts mit der Todesstrafe geahndet (vgl. Briggs & Burke 2009, S. 14 f.). Während die Verbreitung von Druckerpressen überall in Europa rasch voranschritt, ging Sie in Russland und anderen orthodox christlichen Regionen nur sehr langsam voran, auch weil Bildung hier zumeist in der Hand des Klerus lag. Dabei wurde die neue Technologie des Drucks durchaus nicht nur willkommen geheißen. Natürlich gab es auch zahlreiche Kritiker, deren Stimme bis in das 17.

Jahrhundert hinein immer wieder die neuen Formen der Publikation wie beispielsweise die Zeitung verdammten. Insbesondere für Regierungen schien die Informationsexplosion eher Probleme zu verursachen (ebd.). Doch die genauen Auswirkungen des Buchdrucks sind in der Tat auch historisch uneindeutig, insbesondere was die Konzepte Marshall McLuhans angeht stellen die Autoren fest:

„More adventurous and more speculative than the historians, Marshall McLuhan emphasized the shift from auditory to visual punctuation, on occasion going so far as to speak of ‚the print-made split between head and heart‘. Both the strength and the weakness of his approach is summed up in one of the many concepts he did much to launch, that of ‚print culture‘, which suggested links between the new invention and the cultural changes of the period, without always specifying what those links might be“ (ebd., S. 17).

Zusammenfassend stellen die Autoren –- bezugnehmend auf Arbeiten von der amerikanischen Historikerin Elizabeth Eisenstein – fest, dass der Einfluss der Technologie des Buchdrucks rückblickend womöglich etwas überschätzt wurde und führen dazu insbesondere zwei Gründe an:

Erstens seien die revolutionären Veränderungen über zwei bis drei Jahrhunderte aufgetreten. Es müsse also von einer „langen Revolution“ gesprochen werden. Zweitens würde der Fokus stark auf die Technologie als Agent gesetzt, womit die zahlreichen Praktiken ihrer Nutzung mit unterschiedlichen Zielen aus dem Blick gerate. Dies wird von den Autoren so ausgelegt, dass Medientechnologie zwar soziale Veränderungen befördere, aber nicht ursächlich ihr Auslöser sei.

Das Medium dürfe nicht isoliert betrachtet werden, wenn man seine Auswirkungen betrachten will. Gerade mit Blick auf McLuhan scheint diese Perspektive überaus anschlussfähig, denn auch wenn er von einer ‚print culture‘ spricht, wird klar, dass die Medien im Zusammenspiel untereinander und mit ihren Praktiken, nicht aber anhand ihrer Inhalte betrachtet werden und ihre jeweiligen Effekte kulturell und sozial jeweils anders ausgestaltet worden sind. Ferner steckt die kontinuierliche Weiterentwicklung von Medientechnologien und der hybride Charakter des

Mediums in McLuhans Medienbegriff. Insofern handelt es sich auch immer um einen kontinuierlichen Prozess, der zwar neue Praxen ermöglicht, aber auch keinesfalls erzwingt.

Nichtsdestotrotz scheint die Verkettung des westlichen Alphabets mit der gutenbergschen Drucktechnologie zu spezifischen Effekten, wie der explosionsartigen Verbreitung von Informationen über soziale Hierarchien hinweg, geführt zu haben. Zumindest muss man von einer notwendigen wenn auch nicht hinreichenden Bedingung ausgehen. Außerdem wird auf die Verknüpfung von Kommunikation mit physischen Kommunikationswegen verwiesen, ein weiteres Argument, dass auf das mcluhansche Medienverständnis verweist.

Seinen ersten Band schließt Burke mit einem Kapitel zum Vertrauen und Mißtrauen in (Allgemein-)Wissen ab und stellt darin fest:

„The reliability of knowledge cannot be taken for granted. In different cultures and different periods the criteria of reliability vary and change. One of the most important intellectual trends in early modern Europe was the rise of skepticism of various kinds concerning claims to knowledge.“

(Burke 2001, Kap. 9)

Wichtig scheint die Feststellung, dass aus der historischen Betrachtung heraus die Beschäftigung mit den Modi der Wissensproduktion sich als ein besonderer Fokus der frühen Moderne darstellt, der auch heute noch relevant ist und womöglich angesichts der digitalen Revolution wieder neue Brisanz erfährt. Wissen (auf der Ebene von Informationsproduktion, reproduktion und -verbreitung, aber auch im Prozess seiner Generierung durch das Subjekt) ist immer auch mit medialen Artefakten verknüpft und diese sind als solche immer auch kulturspezifische Phänomene.

Diese kurze historische Betrachtung zeigt einige Feststellungen auf, die schon im Kontext von McLuhan angeklungen sind: Medien sind offenbar nicht isoliert zu betrachten, sondern immer im Zusammenhang als Medienarchitekturen, die zeit- und kulturspezifisch sind. Es gibt ebenso eine Tendenz neue Medientechnologien aus unterschiedlichen Institutionen und gesellschaftlichen Zusammenhängen entweder mit Enthusiasmus und mit einer kritischen Haltung zu begegnen.

Dahinter verbirgt sich meist eine vermutete negative Auswirkung auf vorherrschende Machtverhältnisse und etablierte Wissensstrukturen. Zu guter Letzt sind den jeweils etablierten Institutionen und Organisationen immer Modi von Wissen und Information einbeschrieben, so dass Veränderungen in Organisationsstrukturen, Gründungen neuer Institutionen oder ähnliche Verschiebungen ein wichtiger Indikator für Veränderungen des Wissens und wissensgenerierende Prozesse sind.

Der nächste Abschnitt beschäftigt sich vor dieser Diagnose mit den Begriffen Wissensgesellschaft, Informationsgesellschaft und Netzwerkgesellschaft, die jeweils versuchen gesellschaftliche Veränderungen zu beschreiben, die in der postindustriellen Gesellschaft beobachtet werden und aus denen heraus argumentiert werden kann, dass sich die Rolle des Wissens transformiert oder verändert hat und – obwohl sie offenbar von zentraler Bedeutung auch für die vorindustrielle

Gesellschaft gewesen ist, wie dieses Kapitel versucht hat zu zeigen – an Relevanz noch weiter zugenommen hat.