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5 STRUKTURMERKMALE DES NETZES UND DEREN BEDEUTUNG FÜR WISSEN UND BILDUNG

5.3 Beispiele für Wissenstypen anhand digitaler Phänomene

5.3.2 Beispiel 2: Quora

wurde.75 Dabei wurde die entsprechende Änderung zum Sterbedatum trotz Bestätigung der Familie wieder zurückgenommen, weil es einer unabhängigen Quelle aus dritter Hand bedarf, um den Tod einer Person in Wikipedia zu vermerken. Das mag im Einzelfall irritierende Konsequenzen haben (erst nach Monaten konnte ein öffentlich verfügbares Dokument den tatsächlichen Tod belegen), zeigt aber, dass die Zuverlässigkeit von Informationen in der Wikipedia ein hohes Gut ist und dass dem Spezialwissen, so es nicht plausibel belegbar ist, dabei nicht aus sich selbst heraus höhere Verlässlichkeit zugebilligt wird. Expertenwissen traditioneller Art ist im Aushandlungsprozess der Wikipedia nicht besonders präsent oder relevant. Der komplexe Algorithmus zur Findung und Anwendung von Relevanzkriterien wird ständig wiederholt beziehungsweise zumindest regelmäßig in Frage gestellt. Pragmatisch betrachtet handelt es sich dabei aber immer noch um Rezeptwissen, welches lediglich nachjustiert werden kann, um ein gewisses Ergebnis zu produzieren. Die Frage, inwiefern aber die angelegten Kriterien selbst akzeptabel sind, kommt dabei nicht auf, weil sie auf einer anderen Ebene – der Ebene der Quellen – verhandelt wird.

Ein sehr klares Gegenbeispiel zum Umgang der Wikipedia mit verschiedenen Wissensformen als Quelle für Informationen soll im zweiten Abschnitt gemacht werden, wenn es um das Frage-und-Antwort-Netzwerk Quora geht.

bei Quora nicht ausschließlich um objektive Fakten und Informationen. Fragen wie „Wie ist die aktuelle Situation im Irak Syrien?“,79 „Ist globale Erwärmung eine These oder eine Theorie?“80 oder

„Welche Tipps für Produktivität gibt es in unterschiedlichen Professionen?“81 finden sich daher auf der Plattform genauso wie die Fragen „Wie finde ich den G-Punkt meiner Freundin?“,82 „Wie kann ich selbstbewusster wirken, wenn ich mit Leuten spreche?“83 oder auch „Was inspirierte Andy Weir dazu das Buch Der Marsianer zu schreiben?“.84 Die Mischung der Fragen erstreckt sich also von faktenbasierten Fragen, über erfahrungsorientierte Fragen bis hin zu subjektiven Meinungsfragen. Eine Besonderheit ist, dass Quora sich bemüht, Experten aus den jeweiligen Themen zu Antworten zu bewegen. So gibt es zur letztgenannten Frage nur eine einzige Antwort, die aber stammt von Autor Andy Weir selbst.

Quora besteht aus den zwei Hauptkategorien „Read“ und „Answer“. Jede Frage wird thematischen Kategorien zugewiesen und mit Schlagworten versehen. Man kann diesen als Nutzer auch folgen, um neue Fragen eines Themas in der Timeline angezeigt zu bekommen. Ferner können Nutzer einer Frage folgen und sie werden dann über Antworten informiert, sobald neue verfasst werden.

Natürlich können sich auch Nutzer untereinander folgen, Antworten können kommentiert und sowohl auf- als auch abgewertet werden. Besonders oft aufgewertete Antworten tauchen in der Übersicht an höherer Stelle auf, so soll also eine gewisse Relevanz der Antwort kenntlich gemacht werden. Auf Basis der eigenen Lesegewohnheiten, der abonnierten Themen und anderer Faktoren werden den Nutzern sowohl Fragen zum Lesen als auch zum Beantworten vorgeschlagen. Dabei können Fragen öffentlich sichtbar oder auch anonym beantwortet werden. Ist der Antwortende sichtbar, kann er eine Kurzbiografie angeben, die beispielsweise erklärt, warum jemand kompetent auf die Frage antworten zu können glaubt. Diese Kurzbiografie kann für den jeweiligen Themenkomplex spezifisch sein. Außerdem kann man um Antworten bitten, also einem anderen Nutzer eine Frage zur Beantwortung vorschlagen. Ebenso kann man die Überarbeitung einer Antwort vorschlagen.

Aus diesen überschaubaren Grundfunktionen entsteht eine Datenbank von verschiedenen Frage-Antwort-Kombinationen, aber offenkundig verschwimmen auch hier die Grenzen zwischen Information, Wissen und Meinungen. Es gibt keine objektiven Qualitätskriterien was eine gute Antwort ausmacht. Lediglich die Bewertung der Antworten lässt darauf Rückschlüsse zu. Eine Frage, die nach subjektiven Meinungen sucht, wird nicht anders dargeboten als eine Frage, die objektiv anhand von Fakten beantwortet werden kann. Lediglich anhand der Kategorien kann man teilweise die unterschiedlichen Fragentypen differenzieren.

Quora unterscheidet nicht systematisch zwischen verschiedenen Quellen für Informationen, eine Information kann also rein anekdotisch oder mit Fakten hinterlegt sein. Damit kann eine Antwort ausschließlich auf Erfahrungen oder ausschließlich auf Fakten basieren, es kann sich aber auch um

79https://www.quora.com/Iraq-in-2015/What-is-the-current-situation-in-Syria-and-Iraq

80https://www.quora.com/Is-global-warming-a-hypothesis-or-theory

81https://www.quora.com/What-are-some-productivity-tips-from-various-professions

82https://www.quora.com/What-is-the-best-way-to-find-G-Spot-inside-my-girlfriend

83https://www.quora.com/How-do-I-become-more-confident-while-talking-to-people

84https://www.quora.com/What-inspired-Andy-Weir-to-write-The-Martian

eine Mischung aus beidem handeln. Vergleicht man das mit dem klar anders fokussierten enzyklopädischen Anspruch der Wikipedia, wird klar, dass formal nicht zwischen diesen Wissensformen als Quellen unterschieden wird oder werden kann.

Für jede Antwort stehen dieselben Möglichkeiten zur Bewertung zur Verfügung: Man kann die Antwort auf- oder abwerten, man kann seinen Dank für eine Antwort ausdrücken („Thank“), ein Lesezeichen setzen oder Änderungen vorschlagen. Im Falle von Regelverstößen kann man einen Beitrag melden. Man kann auch das sogenannte Log einsehen, also eine Übersicht über Bearbeitungen oder sonstige Interaktionen mit einem Beitrag. Man kann ebenso einen Kommentar hinterlassen. Es gibt also verschiedene Ebenen von Rückmeldungen und Möglichkeiten, die Qualität einer Antwort im System zu beeinflussen. Quora selbst verweist auf diese Funktionen und seine Algorithmen dahinter in einer Übersicht. Für ein Verständnis von Wissen bedeutet dies jedoch, dass wiederum eine Unterscheidung verschiedener Qualitäten und zugrunde liegender Wissenstypen dem Leser überlassen wird. Ob eine Antwort glaubwürdig, plausibel oder überhaupt belegt ist, wird vom System gar nicht erfasst oder sichtbar gemacht. Was zählt ist allein, ob Leser die Antwort entsprechend als zuverlässig oder korrekt einschätzen. So drückt ein Aufwerten einer Antwort gegebenenfalls Zustimmung aus, oder auch, dass die Fakten korrekt sind (nicht aber, wie sie überprüft wurden). Die eher unpräzise Denotation von „Upvotes“

ist also „Ich mag die Antwort“ oder „Ich mag die Antwort nicht“. Genauere Aussagen kann man höchstens den Kommentaren entnehmen.

Es muss also zunächst vermutet werden, dass unterschiedliche Wissensquellen für Information als gleichwertig angenommen werden. Genaueres gilt es empirisch zu untersuchen. So könnte man die Frage stellen, welche Bewertungskriterien die Leser im Zuge ihrer „Upvotes“ und „Downvotes“

zugrunde legen.

Erfahrungswissen, Faktenwissen, Alltagswissen

Für die Nutzer von Quora sind diese Kriterien jedoch in jedem Fall nicht systematisch zugänglich.85 Während die Kriterien der Wikipedia nicht nur recht präzise, sondern auch gut dokumentiert sind, kann man sie bei Quora im besten Fall als unscharf bezeichnen.

Gleiches gilt im Grunde für Alltagswissen, also Wissen, dass allgemein zugänglich ist und größtenteils auf Erfahrung basiert. Auch hier werden darauf basierende Informationen in keiner Weise differenziert behandelt. Während bei Wikipedia dem Spezialwissen besonderer Raum eingeräumt wird (wenn auch nicht notwendigerweise im Sinn von Expertenwissen), kann man dies aus der Struktur bei Quora erstmal nicht ableiten. Natürlich können Nutzer ihren Expertenstatus für ein jeweiliges Themengebiet formulieren, aber es ist nicht ersichtlich, dass dies auf die Qualitätsbewertung auf der algorithmischen Seite von Quora einen Einfluss hat.

Demnach muss man annehmen: Wenn Informationen den sozio-technologischen Prozess des Filters bei Quora durchlaufen haben und von den Lesern entsprechend markiert und bewertet

85 Dies bezieht sich auf die Bewertungskriterien der anderen Nutzer, die Regeln und Konventionen sind natürlich dokumentiert (vgl. https://www.quora.com/What-are-the-major-policies-and-guidelines-on-Quora/answer/Quora-Official-Account)

werden (wobei sicherlich auch die Zahl der Aufrufe und Interaktionen eine Rolle spielt), dann werden die Antworten vom System als „gute“ Antworten hervorgehoben und meist prominent platziert, insofern es um Suchanfragen oder Lesevorschläge geht. Es ist nun leicht denkbar, dass eine problematische Antwort (sei es in Form einer umstrittenen Meinung, eines Erfahrungsberichts oder schwer überprüfbarer Fakten) prominent als gute Antwort platziert werden kann, wenn genug Menschen der Ansicht sind, es handele sich um eine gute Antwort. Es handelt sich also immer und ausschließlich um eine relative Bewertung. Während in einer wissenschaftlichen Diskussion dafür konkrete Kriterien angelegt werden würden, über die in aller Regel Einigkeit herrscht und die objektiv nachprüfbar sein müssen, gibt es diese Ebene bei Quora quasi „by Design“ gar nicht. Die Kriterien sind unklar, eine grundsätzliche Notwendigkeit Fakten zu belegen besteht kaum. Nur durch entsprechende Bewertungen und Anfragen zur Überarbeitung können Leser dem Antwortschreiber zurückmelden, dass die Antwort nicht ihren Ansprüchen genügt, aber auch diese sind keineswegs transparent.

Quora stellt also mithin nicht nur kein transparentes System in Bezug auf Wissensgenerierung dar, es ist scheinbar absichtlich auch nicht so angelegt, dass auf technischer Ebene ein Zuverlässigkeitskriterium von Informationen existiert. Für Alltagswissen mag das noch funktionieren, weil eine Form von Konsens möglich ist, wenn eine hinreichend große Anzahl an Personen eine Antwort bewertet hat und es gegebenenfalls auch gar nicht auf objektive Fakten ankommt. Insbesondere Erfahrungswissen können wir problemlos als vorsätzlich subjektiv geprägt einordnen. Je spezifischer Antworten und Informationen allerdings sind, desto schwieriger wird es auf formaler Ebene eine Differenzierung vorzunehmen und subjektive von objektiven Einschätzungen zu unterscheiden. Und da Quora wie ein soziales Netzwerk funktioniert, mag die Glaubwürdigkeit von Antworten auch verstärkt vom Status eines Mitglieds in der Gemeinschaft abhängen, von Anerkennung und den geknüpften Beziehungen. Vor den schon genannten Theoriekonzepten der Netzwerkgesellschaft schafft das eine neue Qualität von validen Informationen, eine Neugewichtung der verschiedenen Wissenstypen, wie bei Stehr beschrieben, sowie einen schwer zu durchschauenden Einfluss von Algorithmen, die eine Masse an Informationen sortieren, in Beziehung setzen und präsentieren. Anders als bei Wikipedia stellt sich Quora als eine Plattform zur Aushandlung von Wissen dar, insbesondere auch zur Aushandlung dessen, was Wissen ist. Trotz klassischer deterministischer Algorithmen wird durch das Regelwerk sowie die beschriebenen Instrumente viel Interpretations- und Deutungsspielraum gegeben.

Zudem ist Quora eben nicht auf einen bestimmten Typus Informationen festgelegt, sondern operiert über sein Frage-Antwort-Schema sowohl mit Faktenwissen als auch mit Alltags- und Erfahrungswissen. Die Kriterien, die eine akzeptable Antwort charakterisieren, muss folglich jeder Leser selbst festlegen. Wie in einer mündlichen Face-to-Face-Kommunikation hat er die Aussagen einzelner Antworten zu bewerten. Hier besteht zumindest theoretisch Potenzial für Reflexion der eigenen Bewertung und der eigenen Kriterien.

Betrachtet man das hier entstehende komplexe Informationsgeflecht selbst als eine Form von Wissen (weil es eben nicht vollständig algorithmisierbar ist, sondern sich vielmehr als soziale Näherung darbietet), so ist die Frage, ob dieser soeben beschriebene Generierungsprozess vom

Subjekt überhaupt reflektiert werden kann. Es sollte jedoch deutlich werden, dass ohne eine entsprechende Reflexion kaum nachvollziehbar ist, wie zuverlässig Informationen bei Quora sein können. Die Tatsache, dass sie oberflächlich betrachtet in sachlichen Artikeln formatiert werden, mag dabei, nimmt man McLuhans Diskussion der geschriebenen im Vergleich zur gesprochenen Sprache ernst und setzt sie mit dem kritischen Blick auf digitalen Text in Beziehung, ebenfalls eine zentrale Rolle spielen. Eine andere Vermutung könnte lauten, dass Quora damit ein Beispiel für die Tendenz digitaler Medien ist, dass die logische Herangehensweise der linken Gehirnhälfte durch eher emotionale, intuitive Prozesse der rechten Gehirnhälfte abgelöst werden kann. Dies wäre eine im Spätwerk McLuhans geäußerte Vermutung mit Blick auf elektrische Medien (vgl. Krotz 2001b, S. 74; McLuhan & Powers 1989, S. 99 f., 102 f.). Ferner könnte man die Vermutung äußern, dass die kleinen Erzählungen, das mythische Wissen als Grundlage für Informationen mehr Bedeutung erfahren. Zumindest wird, wie mehrfach erwähnt, in der Darstellung solcher Antworten bei Quora nicht differenziert. Eine Unterscheidung findet – wenn überhaupt – nur beim Lesenden statt.

Dies soll, wie eingangs ausgeführt, nur als Beispiel dafür dienen, wie konkrete Dienste implizit andere Modi von Information verarbeiten und unterschiedliche Wissensbegriffe dafür als Ursprung annehmen. Die jeweils von Freiwilligen gefüllte Wikipedia-Datenbank und die Frage-und-Antwort-Datenbank von Quora stellen jeweils innerhalb ihres Kontextes Informationen zur Verfügung, Wikipedia vermischt dabei die unterschiedlichen Wissenskontexte ihrer Autoren zu einem an objektiven Kriterien logisch zu messenden Beitrag, während Quora Fragen und Antworten ihren jeweiligen Nutzern zuordnet und jede Antwort als eine subjektive Gesamtheit erhalten bleibt und dabei nur wenigen Relevanzkriterien unterworfen ist. Wie argumentiert wurde, bietet Quora damit die Möglichkeit unterschiedliche Wissensbestände als Quelle zu verwenden und nicht nur deklaratives Faktenwissen. Eine Antwort muss trotzdem überzeugend sein, aber logische Argumentation oder objektive Kriterien haben dabei nicht die oberste Priorität, vielmehr legt jeder Leser dies selbst fest.

Die beiden dargestellten Dienste stellen als Plattformen jeweils abgeschlossene, durch technische Rahmen klar abgegrenzte Phänomene dar. Als letztes Beispiel soll ein eher soziales Phänomen betrachtet werden, welches sich über diverse Medien hinweg und besonders prominent auch im Internet abspielt, aber gerade nicht auf einen bestimmten Dienst begrenzt ist, sondern vom Netzwerkcharakter des Internets Gebrauch macht.