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3 WISSEN UND WISSENSGENERIERUNG

3.1 Systematik des Wissensbegriffs / Typen von Wissen in der Moderne

3.1.2 Die Idee vom postmodernen Wissen

Lyotard formuliert unter dem Titel „Das Postmoderne Wissen“ die These, dass in der postindustriellen Gesellschaft und in der damit verbundenen seiner Ansicht nach postmodernen Kultur „das Wissen sein Statut wechsele“ (Lyotard 2015, S. 19 f.) und begründet dies mit der technologischen Entwicklung und nimmt dabei Wissen primär als wissenschaftliches Wissen an.

Wissenschaftliches Wissen gilt als moderne Form des Wissens, dass einer Legitimation bedarf;

vorher herrschte primär das traditionelle narrative Wissen in Geschichten, das nicht legitimiert werden musste. Als Prämisse formuliert er folglich:

„Die Auswirkung dieser technologischen Transformationen auf das Wissen scheint erheblich sein zu müssen. Es ist davon in seinen beiden hauptsächlichen Funktionen betroffen oder wird es werden:

in der Forschung und in der Übermittlung der Erkenntnisse“ (ebd., S. 21).

Die Position Lyotards ist dabei anscheinend auch eine technologiegebundene, denn er argumentiert, dass Wissen nur dann relevant bleiben könne, wenn es „in Informationsquantitäten übersetzt“ (ebd., S. 23) und damit über die neuen Kanäle verbreitet werden würde. Er sieht darin sogar grundsätzlich ein Bildungsphänomen:

„Das alte Prinzip, wonach der Wissenserwerb unauflösbar mit der Bildung19 des Geistes und selbst der Person verbunden ist, verfällt mehr und mehr. […] Das Wissen ist und wird für seinen Verkauf geschaffen werden, und es wird für seine Verwertung in einer neuen Produktion konsumiert und konsumiert werden: in beiden Fällen, um getauscht zu werden“ (ebd., S. 24).

Lyotard spricht hier auch von einer „Merkantilisierung des Wissens“ (ebd., S. 26), also dessen Reduktion auf seinen Marktwert nach dem Prinzip der Nützlichkeit. Darüber hinaus sieht er auch eine Machtdimension und vermutet, dass der Kampf um Informationen (man beachte hier die offenkundige Gleichsetzung der Begriffe Wissen und Information) zwischen Nationalstaaten ähnlich ausgetragen werden könne wie der Kampf um Territorien und die Verfügbarkeit von Rohstoffen. Ferner würde der Fortschritt von Gesellschaft von einer kommunikativen Transparenz abhängig gemacht, der der Staat als öffentliche Institution eher entgegenstehe. Die Sorge gilt also möglichen Informationsmonopolen, die dem Staat möglicherweise nicht mehr zugänglich sein könnten:

„Die Veränderung der Natur des Wissens (Hervorhebung d. Autors) kann also auf die etablierten öffentlichen Gewalten solcherart zurückwirken, daß sie diese nötigt, ihre rechtlichen und faktischen Beziehungen zu den großen Unternehmungen und, allgemeiner, zur bürgerlichen Gesellschaft erneut zu überdenken“ (ebd., S. 9).

Es wird davon ausgegangen, dass also, wer die Kontrolle über die „Erkenntnisströme“ erlangt und damit den Zugang zu Erkenntnisse regeln kann, für eine neue gesellschaftliche Spaltung verantwortlich sein wird, die nicht länger an Wissen und Nichtwissen gekoppelt ist, sondern an

„Zahlungserkenntnisse/Investitionserkenntnisse“ vs. „Erkenntniskredite“. (vgl. Lyotard 2015, S.

29). Daran schließt sich auch ein neues Problem der Legitimation des Wissens an, zumindest dem hier gemeinten wissenschaftlichen Wissen. Dieses sieht Lyotard als Gegenmodell des narrativen Wissens, welches im konstanten Konflikt mit dem wissenschaftlichen Wissen stünde. Dieses

19im Original auf Deutsch

Gleichgewicht könne nun neu ausgehandelt werden, wenn ein wissenschaftliches Wissen durch

„Veräußerlichung“ und „Entfremdung“ sich wieder von seinen Nutzern entferne. Die Legitimation des Wissens, die Übereinkunft, dass wissenschaftliche Methoden Wissen begründen, stehe damit in Gefahr:

„Seit Platon ist die Frage der Legitimation der Wissenschaft unauflösbar mit jener der Legitimation des Gesetzgebers verbunden. In dieser Perspektive ist das Recht, darüber zu entscheiden, was wahr ist, nicht unabhängig von dem Recht, darüber zu entscheiden, was gerecht ist, auch wenn die jeweils der einen oder der anderen Autorität untergeordneten Aussagen unterschiedlicher Natur sind“ (ebd., S. 34).

Hieran schließt Lyotard in Anlehnung an Wittgenstein eine Einführung in das Verständnis der Sprachspiele an, welche für seine Betrachtung näher untersucht werden sollen (ebd., S. 55 ff.).

Hierauf stützt er letztendlich seine gesamte Analyse. Schlussendlich ist seine Diagnose eine pessimistische: Vor dem Hintergrund eines Verschwindens der großen Erzählungen (er bezieht sich damit auf Argumentationsfiguren der Theorien nach Kant und Hegel) ist das wissenschaftliche Wissen in der Notwendigkeit neu legitimiert zu werden. Die etablierten gesellschaftlichen Institutionen dazu drohen allerdings angesichts technologischer Transformationen, die die Gesellschaft als Ganze erfassen, ebenso an Relevanz zu verlieren. Wissen als Hauptkategorie sei aber nun nicht reduzierbar auf wissenschaftliches Wissen, es gebe eben auch weitere (narrative) Wissensbestände, die nicht legitimiert werden müssen aber ebenso relevant sein können. Vor diesem Bedeutungsverlust stellt sich das narrative Wissen für Lyotard als untersuchungswürdig heraus, hier zeige sich wie Wissen (freilich eher in oral geprägten Gesellschaften) narrativ entsteht und weitergegeben werde:

„Es Iäßt klar erkennen, wie die Tradition der Erzählungen gleichzeitig jene von Kriterien ist, die eine dreifache Kompetenz definieren, Sagen-Können, Hören-Können, Machen- Können, in der sich die Beziehungen der Gemeinschaft zu sich selbst und zu ihrer Umgebung einspielen“ (ebd., S. 71 f.).

Für das narrative Wissen sei nicht nur die Bedeutung der Geschichten, die weitergegeben werden sollen, relevant, es ist auch der „Akt des Vortrags“ (ebd., S. 74). Damit gebe es für das narrative Wissen keine Notwendigkeit, legitimiert zu werden, ganz im Gegensatz zum wissenschaftlichen Wissen, dessen Legitimation aber unklar sei oder zumindest immer unklarer werde.

Unabhängig von den politischen Implikationen, die Lyotard ebenfalls thematisiert, zeichnet sich ein Problem des Wissens der Postmoderne ab. Wenn das wissenschaftliche Wissen als gesellschaftlich legitimierter Konsens diese Legitimation verliert, tritt an seine Stelle womöglich (wieder) das narrative Wissen, das nicht aus den „großen Erzählungen“, die nach Lyotard ja allesamt gescheitert seien, besteht, sondern aus einer Vielzahl Erzählungen, die sich gegebenenfalls auch widersprechen können. Und am Schluss kommt er auch auf eine Unterscheidung zu sprechen, die uns später noch unter den Begriffen Verfügungs- und Orientierungswissen wieder begegnen wird: Es geht nicht ausschließlich darum „vom Wahren

abhängige denotative Aussagen“ zu legitimieren, sondern auch und vielleicht vor allem darum zu entscheiden, ob etwas richtig ist und gemacht werden sollte: “Das Wissen ist nicht mehr das Subjekt, es dient diesem; seine einzige, aber beträchtliche Legitimität besteht darin, der Moralität zu erlauben, Realität zu werden“ (ebd., S. 108).

Das hier von Lyotard formulierte Konzept von Postmoderne scheint zunächst für die Fragestellung sekundär, es soll daher nicht weiter Gegenstand sein. Interessant ist aber die Diagnose der Veränderung des Wissensbegriffs, auf die im Verlauf dieser Arbeit wiederholt Bezug genommen wird. Es zeigt sich in der ersten Betrachtung, dass die erkenntnistheoretische Definition Wissen an Wahrheit knüpft, woraus sich ein Wissen als Faktenwissen schließen lässt. Die Definition einer wahren und gerechtfertigten Überzeugung ist als theoretisches Ideal plausibel, pragmatisch betrachtet haben wir es aber – und das zeigt eben genau der postmoderne Wissensbegriff – vordergründig mit einem sozialen Phänomen der Aushandlung zu tun. Was wahr oder was falsch ist, wird meist über gesellschaftliche Aushandlung unter Einbeziehung von institutionellen Kontexten festgelegt und verändert sich in Abhängigkeit vom historischen und kulturellen Kontext.

Und aus bildungstheoretischer Sicht wird es gar erst dann besonders interessant, wenn Fragen zu beantworten sind, bei denen Fakten nicht weiterhelfen und bei denen es kein klares Richtig oder Falsch gibt. Daher gibt es ferner offenbar die Notwendigkeit unterschiedliche Modi, Dimensionen oder Typen von Wissen zu unterscheiden, weil diese jeweils unterschiedlich konstituiert und diskutiert werden. Ein postmoderner Wissensbegriff zeigt dies anhand von Sprachspielen auf, was im Kontext eines Basismediums Sprache besonders relevant ist. Es deutet sich hier also schon ein Zusammenhang zwischen Medialität, Sozialität und Wissen an, den es zu untersuchen gilt. Das Problem der Moderne bleibt weiter erhalten, die Frage der Legitimierung von Wissen und von gerechtfertigtem Handeln scheint anhand von deklarativem Faktenwissen nicht zu klären zu sein.

Das postmoderne Wissen ist eine spannende Diagnose, verhilft an dieser Stelle aber zu keinem für die folgende Argumentation hilfreichen Wissensbegriff. Sie führt wohl aber zu der Feststellung, dass das Individuum „auf sich selbst zurückgeworfen“ und gleichzeitig „in einem Gefüge von Relationen“ gefangen, also eben gerade nicht unabhängig sei (Lyotard 2015, S. 54 f.). Diese Diagnose stellt sich in Bezug auf die zu Beginn formulierte Theorie der Krise der Moderne als anschlussfähig dar.

Im Folgenden soll nun ein anderer Wissensbegriff eingeführt werden, der einerseits eine klarere Abgrenzung in der Struktur von Wissen ermöglichen soll, andererseits aber auch einen Zugang zu verschiedenen Typen von Wissen ermöglicht und damit eventuell Möglichkeiten einer Systematisierung eröffnet.