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6 FAZIT

6.1 Schlussfolgerungen

6.1.1 Was ist also nun digitales Wissen?

Ein Blick zurück bringt die Argumentation von Mittelstraß in Erinnerung, dass durch die

„Informatisierung schon ein neuer Wissensbegriff entstanden sei, der aber qualitativ damit nichts zu tun habe“ (Mittelstraß 2001, S. 42) und dass der Begriff des Wissens sich generell in einer Krise befände. Dieser Vermutung wurde anhand der genannten Strukturanalyse des Internets nachgegangen und es konnten in der Tat Veränderungen gezeigt werden, die aber nicht nur im Sinne einer Informatisierung des Wissensbegriffs zu interpretieren sind. Mittelstraß befürchtet ebenso, dass mit dem Wechsel in die Wissensgesellschaft „paradoxerweise der Wissensbegriff verloren zu gehen“ (Mittelstraß 2002, S. 157 ff.) scheine. Ziel dieser Arbeit war es zu zeigen, dass dies nicht notwendigerweise zutrifft, sondern dass vielmehr ein Begriff von Wissen und Wissensgenerierung entwickelt werden kann, der einerseits das Subjekt und Medialität als Ausgangskonzepte zugrunde legt und der andererseits in Abhängigkeit von einer digitalen Medialität aktualisierbar ist. In diesem Wissensbegriff ist Orientierungswissen als Kernkomponente des humboldtschen Bildungsideals von essentieller Bedeutung. Gleichzeitig soll aber betont werden, dass Wissen zwar immer auf Information verweist, aber eben nicht in Information verwandelt werden kann. Eine rein informationsbasierte Gesellschaft ist folglich weit von einer Wissensgesellschaft entfernt. Gleichzeitig zeigt sich bei Mittelstraß und auch in der Wissensdebatte insgesamt ein Fokus auf wissenschaftliches Wissen. Wie anhand der Beispiele in Kapitel 5 deutlich werden sollte, spielen nichtwissenschaftliche Typen von Wissen womöglich eine größere Rolle, als ihnen im hier rekonstruierten Diskurs bislang zugestanden wird.

Mit der Entstehungsgeschichte unseres bisherigen „modernen“ Wissens im Rücken, das eng gekoppelt ist an die Schrift und den Buchdruck, die Mechanisierung, Zentralisierung und daran angeschlossene Institutionalisierung, stellt sich die Frage, ob nicht konsequenterweise zum Abschluss dieser Arbeit von einem digitalen Wissen gesprochen werden muss. Wie sehen die Veränderungen im Bereich des Wissens und der Wissensgenerierung aus?

Einerseits entsteht mit dem explosionsartigen (oder nach McLuhan implosionsartigen) Datenaufkommen ein mehr an Informationen, mit denen umgegangen werden muss. Auf dieser Ebene operieren Begriffe wie wissenschaftliches Wissen, Expertenwissen und mythisches Wissen.

Sie alle bezeichnen eigentlich Informationen über die Welt und sind damit auch Grundvoraussetzung für unser tatsächliches Wissen um die Welt, unser Selbst- und Weltverhältnis.

Sie verweisen aber auch auf einen Prozess, bei dem Information erst durch Wissende entsteht, wenn diese ihr Wissen kodifizieren. Auf Makroebene scheint hier eine Verschiebung stattzufinden.

Es gibt mehr Quellen für Informationen und die traditionellen Quellen werden zunehmend hinterfragt. Das Internet verbreitet Daten im Idealfall gleich schnell und gleich weit, unabhängig vom Inhalt. Das Internet kennt keine Inhalte, es ist Ihnen gegenüber zunächst einmal ignorant. Erst am Ende, wenn Daten in Anwendungen überführt werden, entsteht ein Kontext, entsteht Bedeutung, entstehen gegebenenfalls Informationen.

Anhand der genannten Strukturmerkmale zeigen sich bestimmte Tendenzen, die als Argumente für einen Begriff des digitalen Wissens relevant sind:

1. Dezentralität als Muster für Verteilung von Informationen: Wie anhand der Beispiele sichtbar wurde, haben die meisten Dienste im World Wide Web zwar einen eher zentralisierenden Charakter, was den Ort der Daten betrifft, über das gesamte Netz aber entsteht weiterhin ein dezentraler Informationsfluss und insbesondere die sozialen Netzwerke folgen diesem Modell. Informationen als Ausgangspunkt von Wissen sind also anders als zur Zeit der analogen Massenmedien nicht an etablierte Gatekeeper oder Multiplikatoren geknüpft, diese Rollen wandern flexibel umher. Am Beispiel von Fake News wird deutlich, dass beispielsweise die Bewertung korrekter Informationen immer weniger anhand von vertrauenswürdigen Institutionen (zentralistisches Modell), sondern stärker anhand von vertrauenswürdigen Individuen (dezentrales Modell) geschieht. In einem solch komplexen Informationsnetzwerk ist insbesondere die Navigation oder Orientierung ungleich schwieriger und sie folgt anderen Kriterien.

2. Automatisierung führt zu Software: Man könnte die Überlegung anstellen, ob Software für sich genommen nicht schon eine Form digitalen Wissens ist. Auf jeden Fall aber stellt Software eine Praxis der digitalen Mediennutzung dar, mit der es möglich ist, Komplexität handhabbar zu machen. Die allgemeine Beschleunigung des elektrischen Zeitalters, die in der Annahme McLuhans zu einer Gleichzeitigkeit von Prozessen führt, macht es für Menschen unmöglich, Software ohne den Einsatz von Software zu kontrollieren, so wie Analphabeten Schwierigkeiten haben ihre als Gesetz kodifizierten Rechte zu lesen.

Software ist ein zentraler Bestandteil in der Herstellung von Informationen aus Daten und Kontext, wobei nicht garantiert ist, dass Software diesen Kontext beinhaltet. Je mehr automatisierte Datenverarbeitung stattfindet, desto komplexer wird die Bewertung der generierten Informationen.

3. Digitalisierung ist letztendlich eine Modellierung der analogen Welt in Code, eine transformierte Abbildung. Wenn Medien konstitutiv für Wissen und Bildung sind und alle Medien im Prozess der Digitalisierung erfasst werden, so wie laut McLuhan, Burke und weiteren Theoretikern alle Medien während der Industrialisierung von der Mechanisierung erfasst wurden, folgt daraus, dass sich Medialität grundlegend verändert.

Das bedeutet nicht, dass analoge Medien verschwinden, sondern es bedeutet, dass sie sich an die veränderten Medienarchitekturen anpassen. Wie genau das geschieht muss beobachtet und letztendlich reflektiert werden können, was aufgrund der Unverfügbarkeit der Medien (beziehungsweise ihrer Strukturmerkmale) nicht trivial ist.

4. Speicher und Verteiler tragen zu verschiedenen digitalen Phänomen bei. Aber im Anschluss an McLuhan, der sich mit dem Bild des Globalen Dorfes (vgl. McLuhan 1962, S.

21 ff. sowie S. 31 f.; McLuhan & Powers 1989) implizit auch auf Ideen und Konzepte von Teilhard de Chardin bezieht (vgl. Winkler 2008), kann dies als Versuch interpretiert werden, das (de-)zentrale Nervensystem des Menschen zu modellieren. Das Internet zeigt dafür durchaus Tendenzen auf, es besteht schon heute aus verteilter Information mit eigenen Kontexten. Eine erhöhte Involvierung von Menschen in fremde Erfahrungskontexte ist möglich. Es stellt sich die Frage, ob dieses Nervensystem auch in

der Lage sein wird, Erfahrungen zu sammeln und damit Wissen zu generieren. Man könnte dann die Frage stellen, ob der Mensch, wenn er immer mehr von sich (seiner Sinneswahrnehmung, seinen Fähigkeiten) nach außen verlegt, nicht auch potentiell sein Wissen nach außen legen kann und dies zu einem Erklärungsmodell für Veränderungen im Umgang mit Wissen führt.

5. Die Unbestimmtheit des Mediums trägt zu einer erhöhten Schwierigkeit bei der Rekontextualisierung von Daten zu Informationen und von Informationen zu Wissen bei.

Gleichzeitig werden nicht bestimmte Formen von Wissen-als-Information bevorzugt behandelt, wie anhand der beispielhaft vorgestellten Dienste gezeigt wurde. Zur Unverfügbarkeit des Mediums kommt also noch die Unbestimmtheit hinzu, was eine besondere Herausforderung für qualitative empirische Forschung darstellt, die hier besonders gefragt ist. Konkrete Phänomene und Nutzungspraktiken können nur bei gleichzeitiger Analyse der relevanten Medienstruktur und der Teilnehmer nachvollzogen werden. Auf jeden Fall gilt das für bildungsrelevante Fragestellungen im Sinne der Strukturalen Medienbildung sowie für den hier konzipierten Wissensbegriff aber auch für weitere Bereiche und Disziplinen. Und auch für Lernen und Bildung sollte dies Konsequenzen haben, wenn man die Forderung McLuhans ernst nimmt, dass das Individuum ein Training der Sinne benötigt, um sich der Medieneffekte bewusst zu werden. Gleichzeitig zeigt sich, dass enge Medienbegriffe wie der des Massenmediums oder des Kommunikationsmediums nur Teilbereiche von Medialität greifen können. Ein offener Begriff, wie ihn McLuhan anbietet, scheint viel eher geeignet diese Transformation von Medialität beschreiben zu können, vielleicht auch, weil ihm eine Tentativität im Umgang mit neuen Medien zugrunde liegt.

Mit dem besonderen Fokus auf Erfahrungswissen zeigt sich am Beispiel von Quora, dass ein weiträumiger Pool von Erfahrung global zugänglich wird. Natürlich ist dieser nicht exklusiv oder isoliert, sondern tritt zusammen mit anderen Formen von Wissen als Information auf. Erfahrung wird insbesondere auch nicht zwingend als solche deklariert, insofern sie dem sich äußernden Subjekt als implizites Wissen gar nicht bewusst sein muss. Ebenso kann Erfahrung in Text, Bild und Ton, also multimedial, geäußert werden. Bei Quora handelt es sich primär um Texte, die allenfalls zusätzlich illustriert werden, aber bei anderen Diensten wie Snapchat oder Instagram steht das Bild im Zentrum und wird gegebenenfalls kommentiert. Mediale Versatzstücke können so nach Belieben gemischt werden. Es wird in vielerlei Hinsicht nicht nur einfacher sich individuell auszudrücken, es werden auch immer mehr Sinne einbezogen, eine Eigenschaft, die McLuhan insbesondere elektrischen Medien zuschreibt. Der akustische Raum bei McLuhan zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er nur über die Ohren zugänglich ist, sondern dass er räumlich und zeitlich beschränkt wird und lücken- oder fehlerhaft ist. Er hat die Eigenschaften eines kalten Mediums und fordert somit eine hohe Beteiligung. Dies zeigt sich beispielsweise bei den sozialen Medien.

Medienartefakte bei Snapchat oder Instagram sind nur für einen Tag abrufbar. Livestreaming-Video-Dienste wie Periscope, Twitch oder YouNow bieten ein Live-Erlebnis, welches im Zentrum

dieser Dienste steht und nicht nachträglich hergestellt werden kann. Erfahrungen werden dabei in Echtzeit oder zumindest zeitnah in Wort, Bild beziehungsweise Video und Ton in die Welt übertragen. Es entsteht ein individuell konstituierter, gemeinsamer Erfahrungsraum, ein individuelles „Social Web“ für jeden Teilnehmer. Schon die Auswahl des eigenen Netzwerks von Freunden ist ein aktiver Prozess, der einen gemeinsamen Raum konstituiert. In diesen Räumen werden kontinuierlich implizite Erfahrungen zugänglich gemacht, zumindest solche, die die Teilnehmer teilen wollen. So können der morgendliche Wuschelkopf, das Foto vom leckeren Mittagsmenü, das Selfie mit den Arbeitskollegen und das weitergeleitete Meme am Abend, wenn diese Artefakte von der Software als zusammenhängende Story an Follower gepostet werden, als ein Angebot zum Austausch von Erfahrungskontexten verstanden werden, von dem man sich Validierung und Anerkennung erhofft. Hier kommt der Begriff der Wissenslagerung wieder ins Spiel, denn in all diesen Artefakten liegen Informationen verpackt, die zu Wissen re-kontextualisiert werden können. Dies können scheinbar banale Dinge sein (wie eben die Vorliebe für ein bestimmtes Gericht), aber in großer Zahl stellen sie letztendlich Fragmente individueller Erfahrungskontexte dar und verweisen damit auf ebenso individuelle Selbst- und Weltverhältnisse.

Der Begriff Social Web (vgl. Ebersbach et al. 2016) trifft daher genau den Punkt, um letztendlich ein Netzwerk lose verknüpfter Fragmente von Erfahrung zu beschreiben, oder zumindest Fragmente von Informationen, die auf Erfahrungen und Individuen verweisen. Erfahrungen werden zu Knoten im Netzwerk und damit verfügbar für alle Praktiken, die durch die Strukturmerkmale möglich sind.