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Wer unterrichtet – der Lehrer oder der Pfarrer?

Im Dokument Religionsunterricht im Kanton Zürich (Seite 123-129)

DIE DISKUSSION UM DEN SCHULISCHEN RELIGIONSUNTERRICHT UM 1872

6 Kontroverse Themen in der Diskussion um den schulischen Religionsunterricht um 1872

6.2 Wer unterrichtet – der Lehrer oder der Pfarrer?

Die im Unterkapitel 6.1 dargestellte Diskussion um die Frage, wer für die innere Organisation des Religionsunterrichts zuständig sei, wurde, wie sich gezeigt hat, nicht losgelöst von der Frage, wer dieses Unterrichtsfach erteilen soll, debattiert. Untersucht man die Antworten auf die siebersche Umfrage von 1869 hinsichtlich dieser Frage, stellt sich unter denjenigen, die nicht gänz-lich gegen einen staatgänz-lichen Religionsunterricht waren, als Mehrheitsmeinung eine nach Alter geteilte Verantwortung zwischen Schule und Kirche heraus:

Der Lehrer erteilt weiterhin den schulischen Religionsunterricht in der All-tagsschule (1.–6. Klasse), während die Verantwortung für die nachfolgenden Stufen dem Geistlichen obliegt.23 Es gab auf der einen Seite allerdings einzelne 22 Vgl. Gesetz betreffend das gesammte Unterrichtswesen des Kantons Zürich, 21. Februar 1872

(Abstimmungsvorlage), § 14.

23 Vgl. Gemeindeschulpflegen Wald (Bezirk Hinwil), Thalwil (Bezirk Horgen), Russikon (Be-zirk Pfäffikon), Mönchaltorf (Be(Be-zirk Uster); Gemeindsverein Mönchaltorf (Be(Be-zirk Uster),

Stimmen, die auch auf Alltagsschulstufe den Religionsunterricht vom Geist-lichen erteilt haben wollten.24 Auf der anderen Seite gab es aber auch diejeni-gen, die der Meinung waren, der Lehrer habe nicht bloss in der Alltagsschule, sondern auch in der Ergänzungsschule (7.–9. Klasse) den Religionsunterricht zu halten.25

Diakon Spyri beschäftigte sich in seinem oben erwähnten Traktat26 eingehend mit dieser Frage. Die Ansicht, dass bei einer zunehmenden Entflechtung von Kirche und Staat der Geistliche als Repräsentant der Kirche nicht mehr befugt sei, schulischen Religionsunterricht zu erteilen – auch nicht auf den oberen Stufen –, entkräftet Spyri mit dem Argument, der Geistliche sei «gar nicht mehr der Repräsentant der Kirche, sondern ein Lehrer, der der Kirche dient».27 Umgekehrt seien aber auch die Lehrer religiös geprägt. Die Lehrer «sind nicht farblos, sondern zählen sich zu dieser oder jener religiösen Gemeinde, von denen zu schweigen, die grundsätzlich von keiner Religion wissen wollen, und bei denen es doch etwas eigenthümlich wäre, wenn sie unsern Kindern Religionsunterricht ertheilen sollten».28 Den einzigen Unterschied zwischen Lehrer und Pfarrer sieht Spyri in der Fachkompetenz des Pfarrers hinsichtlich des Gegenstandes Religion, die dem Lehrer als Allrounder notgedrungen abgehe. Spyri weist zudem hin auf die «Thatsache, dass auch extreme Richtun-gen von relativen Laien viel einseitiger verfolgt werden, als von eiRichtun-gentlichen Fachmännern; so ist z. B. ein pietistischer Geistlicher viel weniger einseitig als ein pietistischer Lehrer».29

Über die Frage, ob Geistliche schulischen Religionsunterricht erteilen dürfen, wurde auch im Kantonsrat debattiert. Das Argument, Geistliche seien Fachmän-ner der Religion, konterte Vögelin30 in der Kantonsratsdebatte vom 11. Januar

Eingaben und Antworten der Bezirksschulpflegen 1870; Gesellschaft Bülach, Eingaben und Antworten von Vereinen 1870.

24 Vgl. J. Hech, dat. Seuzach, 30. 1. 1870, Eingaben und Antworten von Privaten 1870.

25 Vgl. Schulkapitel Uster (Bezirk Uster) und Affoltern (Bezirk Affoltern), Eingaben und Ant-worten der Bezirksschulpflegen 1870.

26 Vgl. Spyri 1872.

27 Ebd., 8.

28 Ebd., 8 f.

29 Ebd., 9.

30 In der NZZ wird der Redner Hr. Professor Vögeli genannt. Obwohl es in Zürich auch einen Historiker namens Vögeli (1810–1874) gab, der 1870 ausserordentlicher Professor an der Hochschule Zürich wurde (vgl. Moser 2013), kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgegan-gen werden, dass hier nicht dieser Vögeli gemeint ist, sondern Friedrich Salomon Vögelin. In der Berichterstattung des Landboten über dieselbe Kantonsratsdiskussion ist denn auch von Prof. Vögelin die Rede, der am Schluss seines Votums gesagt haben soll, «dass er, wenn er noch Amtsgeistlicher wäre, alle diese Dinge vermuthlich etwas anders beurtheilen würde» (Der Landbote, 13. 1. 1872). F. S. Vögelin wurde im Jahre 1870 zum ausserordentlichen Professor für Kunst- und Kulturgeschichte an die Universität Zürich berufen (vgl. Betulius 1956).

gemäss Berichterstattung der NZZ folgendermassen: «was aber an der Religion Fachstudium ist, das wollen wir gerade in der Schule nicht, sondern nur sitt-lich-religiöse Anregung.»31 Im selben Votum legte Vögelin auch seine von Spyri abweichende Überzeugung dar, dass, obzwar es zum Teil richtig sein möge, dass Lehrer als theologische Laien ihre religiösen Ansichten fanatischer verträten, in der Regel «die Geistlichen als Fachmänner fanatischer seien».32 Es gebe ein-gestandenermassen auch areligiöse Lehrer, doch «wenn dies wäre, so wird sich ein solcher Lehrer schon von vornherein sträuben, den Religionsunterricht zu ertheilen».33

Nun aber nochmals zurück zu Spyri, der in seinem Traktat auch ein zweites Argument dafür, den Religionsunterricht in der 7.–9. Klasse den Geistlichen wegzunehmen, zu entkräften versucht. Spyri kann es zwar teilweise nachvoll-ziehen, dass die Einheit der Klassenführung gefährdet sei, wenn zwei Perso-nen, der Pfarrer und der Lehrer, an derselben Klasse unterrichten. Zugleich kann er einem Lehrerwechsel aber auch etwas Positives für die Schüler ab-gewinnen. So könne «der Eintritt einer andern Kraft in der Schule wolthätig»34 wirken. Und Spyri begegnet dem Einwand, dass die Lehrer, zumal sie eine wissenschaftliche Bildung haben, ebenso wie die Geistlichen geeignet seien, auf den oberen Stufen Religionsunterricht zu erteilen, mit einem deutlichen

«Nein! Der Mensch kann eben nicht Alles in gleicher Weise. So wenig z. B. ein Geistlicher im Stande wäre, so ohne weiteres Unterricht in der Sprache und im Rechnen bei einem Kinder der ersten Klasse der Elementarschule zu ertheilen, wie das jeder Primarlehrer ohne grosse Mühe thut […], ebenso wenig ist ein Lehrer befähigt, den Fach unterricht in der Religion zu ertheilen, wie das ein gebildeter Geistlicher zu thun im Stande ist.»35 Spyri betont jedoch, dass damit keineswegs eine Verachtung des Lehrers verbunden sei: «Wir achten den Stand der Lehrer zu hoch, um nicht annehmen zu müssen, dass ihnen die Beschrän-kung des Wissens und das Prinzip der Theilung der Arbeit ganz bekannte und auch anerkannte Dinge wären.»36

Ferner verweist Spyri auf einen seiner Ansicht nach grundlegenden Unterschied zwischen Lehrer und Pfarrer, nämlich die moralische Vorbildhaftigkeit des Geistlichen: «[…] bei dem Geistlichen fallen Amt und Beruf so zusammen, dass daraus Eine Persönlichkeit, die vielleicht im Leben ihre eckigen und 31 NZZ, 12. 1. 1872. Im Landboten wird Vögelins Votum auf folgende Weise wiedergegeben:

«Wir brauchen nicht sogenannte Fachmänner in dieser Disziplin, auch nicht Störung im gan-zen Organismus der Schule, sondern Einheit.» (Der Landbote, 13. 1. 1872).

32 NZZ, 12. 1. 1872.

33 Ebd.

34 Spyri 1872, 9.

35 Ebd., 10.

36 Ebd.

men Seiten haben kann, wird, die aber um dieser Einheit willen, wie keine andere Person geeignet ist, gerade den Religionsunterricht zu ertheilen, da ja dessen Einfluss auf dem Eindrucke der Persönlichkeit ruht.»37 Als Gegenbeispiel führt Spyri einen Lehrer an, der ab und an einen Schluck über den Durst trinkt. Man möge deswegen «die Achseln zucken». Dieses Laster werde den betroffenen Lehrer jedoch nicht daran hindern, erfolgreich Mathematik oder Geographie zu unterrichten. Problematisch hingegen wäre es, wenn dieser Lehrer Reli-gionsunterricht oder Anregungen aus dem sittlichen und geistigen Leben ertei-len würde. «Damit soll nicht gesagt sein, dass es nicht Lehrer gebe, die wir höher achten als manche Geistliche, oder dass die letztern etwa ohne Sünden seien;

aber wenn so etwas vorkäme, so dürfte ein solcher Geistlicher nicht nur nicht mehr Religionsunterricht ertheilen, sondern er müsste überhaupt abtreten.»38 In dieser aus heutiger Sicht etwas fragwürdigen Unterscheidung zwischen Lehrer und Pfarrer werden insbesondere zwei Dinge deutlich: einerseits die Annahme einer engen Verquickung zwischen Religion und Moral, andererseits, dass es im Religionsunterricht um mehr geht als um Wissensvermittlung bzw. dass Spyri den schulischen Religionsunterricht als den Ort der Persönlichkeits- und Charakterbildung ansieht.

In seiner Argumentation für die Beibehaltung der Geistlichen in der Volksschule nennt Spyri noch einen weiteren zu berücksichtigenden Aspekt: die Arbeitslast.

Müssten die Lehrer gemäss neuem Unterrichtsgesetz auch auf den oberen Stufen den Religionsunterricht erteilen, nehme diese für die Lehrer zu, während sie für die Geistlichen massiv abnehme, da man ihnen nur noch eine Stunde zugestehe.

Dazu komme auch noch, dass man den Geistlichen auch die Zivilstandsregister und das Armenwesen wegnehmen wolle; «man lässt ihnen die Predigt und die Seelsorge und nimmt ihnen ¾ des Religionsunterrichtes weg».39 Spyri fürchtet, dass die Geistlichen so nicht bloss entbehrlich, sondern zu einer «abzuschütteln-den Last» wür«abzuschütteln-den.

Diese Furcht war nicht ganz unbegründet: Gegenüber dem Vorwurf, mit dem neuen Unterrichtsgesetz wolle man «nicht bloss die Religion, sondern auch die Geistlichen aus der Schule hinaustreiben», äusserte Sieber am 10. Januar 1872 in einer Rede im Kantonsrat unverblümt die Meinung, dass die Schule «ihren Weg ohne kirchliche Leitung finden» werde und dass er wünsche, «dass künftig die Kirche der Schule ihren eigenen Weg zu gehen erlaube». Der Einfluss der Geist-lichen solle aber nicht gänzlich beseitigt werden. In der Zivilschule sei der Ort

37 Ebd.

38 Ebd., 11.

39 Ebd.

für das Wirken der Geistlichen, wobei auch dort nicht der Ort sei, «dogmatische und konfessionelle Händel» auszutragen.40

Tags darauf, in der Kantonsratssitzung vom 11. Januar 1872, erinnerte Pfar-rer Wolf[f]41 im Kantonsrat daran, «dass die Geistlichen nicht die schwarzen bildungsfeindlichen Elemente sind, wie man sie geschildert hat, sondern die freundlichen Gehülfen der Lehrer». Wolff war damit einverstanden, «dass das Konfessionelle auf dieser Schulstufe wegfalle», doch war es ihm ein Anliegen zu bemerken, «dass schon jetzt solche Geistliche, die in anderem Sinne lehren, zu den Ausnahmen gehören».42 Auch ein anderer Pfarrer namens Kägi erhob sich gegen den negativen Ruf des Klerus. Die zürcherische Geistlichkeit habe um die zürcherische Volksschule grosse Verdienste: «sie griff den Lehrern meistens fördernd unter die Arme und lieh ihrem Wirken eine wohlthuende Unterstüt-zung; diese Wohlmeinenheit hätte heute bessere Anerkennung verdient.»43 Ein Lehrer namens Frei bezog sich auf das Votum von Pfarrer Kägi und erklärte, warum die Lehrer den Religionsunterricht gerne selber erteilen wollten. Die Autonomie bzw. Alleinherrschaft des Lehrers werde seiner Ansicht nach durch den Pfarrer gestört: «Schon der Eintritt eines 2. Lehrers in die Schule ist störend;

noch mehr, wenn dieser sein Fach in einem andern Geiste ertheilt. Der Lehrer will Alles nach bestimmten Gesetzen erklären, der Geistliche bezieht sich auf das Wunderbare im Alten und Neuen Testamente. Früher brachte man beinahe nur religiösen Stoff in die Schule, heute soll es anders sein; wir wollen einen Reli-gionsunterricht, der psychologisirt ist und darum muss die biblische Geschichte, der Katechismus und das Testament weg erkannt werden. Wir hoffen eine vollständige Lostrennung der Schule von der Kirche, sowie dass die Mitwirkung der Kirche bei Abfassung religiöser Lehrmittel ganz und gar aufhöre. Wir haben bereits einen vollständig geordneten religiösen Lehrstoff, der allen Bedürfnissen genügen kann.»44

Vögelin verdeutlichte in derselben Kantonsratsdebatte den Unterschied zwi-schen den Forderungen der Kirche und denjenigen des 40 NZZ, 11. 1. 1872.

41 Vermutlich ist hier Philipp Heinrich Wolff (1822–1903) gemeint, obwohl in der NZZ nur von einem «Pfarrer Wolf» die Rede ist. In der Berichterstattung des Landboten über diese Kan-tonsratssitzung wird aber ein Wolff genannt (vgl. Der Landbote, 13. 1. 1872). Philipp Heinrich Wolff absolvierte sein Vikariat am Fraumünster in Zürich und war von 1849 bis 1903 Pfarrer in Weiningen. Er war Zunftmeister der Schiffsleutezunft und von 1853 bis 1903 Kantonsrat.

Wolff gilt als Vater des schweizerischen Tierschutzes: Er war mitbeteiligt an der Gründung des Zürcher Tierschutzvereins und des Schweizerischen Zentralvereins zum Schutz der Tiere und amtete als Präsident der Gesellschaft zur Gründung eines Zoos in Zürich (vgl. Lüthi 2013).

42 NZZ, 12. 1. 1872.

43 Ebd.

44 Ebd.

wurfs folgendermassen: «Die Kirche dringt darauf, dass das Religiöse neben dem Sittlichen hergehe; der Entwurf will, dass eine Sittlichkeitslehre gegeben werde, die überall her genommen werden kann.» Seiner Ansicht nach kommt dem Lehrer (und nicht dem Pfarrer) die Aufgabe zu, diese ‹allgemeine› Sittenlehre dem Kind zu vermitteln: «Der ganze Unterricht ist ein Organismus, und keine Gewalt ausser der Schule soll darauf massgebend einwirken».45

Fraglich allerdings ist, wer oder was die Schule ist. Insofern die Schule als Institution organisiert werden muss, stellt sich unweigerlich die Frage, welche Instanz bzw. welche Instanzen für deren Organisation zuständig sein soll(en).

Die Kirche darf es gemäss Vögelin nicht mehr sein. Mit seiner Argumentation, dass «keine Gewalt ausser der Schule» auf den Unterricht einwirken dürfe, müsste Vögelin allerdings konsequenterweise nicht bloss den Einfluss der Kir-che, sondern auch den Einfluss staatlicher Gewalt auf den Unterricht kritisieren.

Der staatliche Einfluss sollte mit dem Entwurf für das neue Unterrichtsgesetz sogar noch vergrössert werden. Denn während im damals noch bestehenden Unterrichtsgesetz von 1859 von den sieben Mitgliedern des Erziehungsrates zwei von der Schulsynode gewählt werden konnten – allerdings unter Vor-behalt der Bestätigung durch den Grossen Rat46 –, steht im Entwurf zum neuen Unterrichtsgesetz nichts mehr von einer Wahl durch die Schulsynode. Es heisst lediglich noch: «Der Direktion des Erziehungswesens ist ein Erziehungsrath von sechs Mitgliedern beigegeben, welche vom Kantonsrathe nach seiner Integral-erneuerung auf die Dauer von 3 Jahren gewählt werden».47 Wie ich im Unter-kapitel 7.2.2 anhand einer Rede Vögelins über das Schulobligatorium zeigen werde, hatte Vögelin allerdings sehr wohl ein Bewusstsein für das Spannungs-feld, das sich im Hinblick auf die individuellen Freiheitsrechte angesichts eines staatlichen Schulobligatoriums eröffnet.

45 Ebd.

46 Vgl. Gesetz über das gesammte Unterrichtswesen des Kantons Zürich, 23. Dezember 1859, § 2.

47 Gesetz betreffend das gesammte Unterrichtswesen des Kantons Zürich (Antrag des Regie-rungsrathes), § 131, veröffentlicht in Der Landbote, 20. 10. 1871.

Im Dokument Religionsunterricht im Kanton Zürich (Seite 123-129)