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Konfessionell-dogmatischer versus konfessionsloser Religionsunterricht Das sogenannte «dogmatische Element» war ein zentrales und umstrittenes

Im Dokument Religionsunterricht im Kanton Zürich (Seite 140-160)

DIE DISKUSSION UM DEN SCHULISCHEN RELIGIONSUNTERRICHT UM 1872

6 Kontroverse Themen in der Diskussion um den schulischen Religionsunterricht um 1872

6.3 Religiöse, konfessionslose oder religionslose Schule?

6.3.2 Konfessionell-dogmatischer versus konfessionsloser Religionsunterricht Das sogenannte «dogmatische Element» war ein zentrales und umstrittenes

Thema in der Diskussion um den schulischen Religionsunterricht. Entweder war man dafür oder dagegen. Selten aber wurde expliziert, was eigentlich unter dem «dogmatischen Element» verstanden wurde. Die Bedeutung schien selbst-verständlich zu sein. So wurde auch die diesbezügliche Frage im sieberschen Fragebogen nicht erläutert: «Darf er [der Religionsunterricht] das dogmatische Element und bis zu welchen Grenzen in sich aufnehmen?»102 Einige Antworten fielen entsprechend oberflächlich aus. Die Gemeindeschulpflege Wald schrieb beispielsweise: «Im Unterrichte selbst soll das historische Element vorwalten, das dogmatische in den Hintergrund treten, wenn nicht ganz wegfallen.»103 Die Antwort der Gemeindeschulpflege und der Lehrerschaft von Unterstrass war noch kürzer: «Der dogmatische Religionsunterricht ist aus der Schule zu entfer-nen.»104 Die Gemeindeschulpflege Turbenthal und die Sekundarschulpflege des 100 Ebd.

101 Eineinhalb Jahre zuvor vertrat Lang in den Zeitstimmen in einem Artikel mit dem Titel Die religionslose Schule die Ansicht, dass es in der Volksschule nicht bloss kein gesondertes Fach für Religion mehr geben, sondern generell der Wissensstoff nicht in gesonderten Fächern gelehrt werden solle. Denn dies sei nicht produktiv: «Die Volksschule verzichte auf ihr gelehr-tes Fächerwerk, mit welchem sie den jungen Geist mehr erdrückt, als entbindet; sie verfolge ausschliesslich den Zweck, den sie allein genügend erreichen kann; die formale Bildung der Geistesthätigkeiten» (Lang 1870, 86). Natürlich müsse «die formale Bildung der Geistes-thätigkeiten» immer an einem bestimmten Stoff geübt werden, da sich der Geist nur an der Welt bilde. Doch der Stoff und dessen Aneignung sei jeweils nie Zweck, sondern immer bloss Mittel: «Das Lesebuch enthalte nicht diese von Pädagogen am Schreibtisch nach moralischen Schablonen fabrizirten Geschichten, nicht Auszüge aus den verschiedenen Gebieten des Wissens, sondern klassische Stücke unserer besten deutschen Schriftsteller, welche nach Form und Inhalt geeignet sind, die Intelligenz zu wecken, den Gesichtskreis zu erweitern, das Ge-fühl zu beleben und zu veredeln, den Willen zu begeistern und zu stärken, welche eben nach diesen Gesichtspunkten sowohl auszuwählen, als zu behandeln wären. Werden sich in einer solchen Sammlung Stücke religiösen Inhalts nicht von selber einfinden? Religiöse Lieder, an denen die neuere Literatur viel reicher ist, als man gewöhnlich meint? Lebensbilder religiöser Charaktere, eines Spener, Franklin, Pestalozzi u. a.? Wer wollte an solchen religiösen Stoffen sich stossen, welcher Kirche und welcher theologischen Richtung er angehöre? Wer möchte hier sich über Glaubenszwang beklagen?» (Lang 1870, 86 f.).

102 Bekanntmachung der Erziehungsdirektion (42 Fragen) 1869, Frage 4 Teil 2.

103 Gemeindeschulpflege Wald (Bezirk Hinwil), Eingaben und Antworten der Bezirksschulpfle-gen 1870, StAZH, U 8.1.1a.

104 Gemeindeschulpflege und Lehrerschaft von Unterstrass (Bezirk Zürich), ebd.

36. Kreises hatten die sieberschen Fragen gemeinsam beraten. Sie kamen zum Schluss, dass der schulische Religionsunterricht weiterhin obligatorisch sein sollte, dass aber angesichts von Paragraph 63 der Kantonsverfassung «auf den Stufen der Alltags- & Ergänzungsschule wo möglich das dogmatische Element ausgeschlossen bleibe».105 Die Gemeindeschulpflege Weiningen und die Mitt-wochsgesellschaft forderten: «Das dogmatische Element soll möglichst in den Hintergrund treten, dagegen Sittenlehre und allgemein religiöse Unterhaltung vorherrschen.»106 Es gab aber auch dem «dogmatischen Element» gegenüber positiv eingestellte Stimmen. Die Gemeinde- und Sekundarschulpflege Ossingen meinte, «dass bei einem lebendigen, gemütsbildenden Religionsunterricht das dogmatische Element nicht gänzlich umgangen werden» könne. Sie betonten jedoch, dass «die Art und Weise, in welcher dasselbe auftritt, wesentlich von der Person des Lehrers abhängt, und der Gesetzgeber dasselbe deshalb unmöglich genau vorschreiben»107 könne. Sie waren deshalb der Ansicht, dass keine neue Bestimmung zu treffen sei.

Neben eher undifferenzierten Antworten hinsichtlich des dogmatischen Ele-ments sind auch Antworten zu finden, in denen zumindest der Versuch unter-nommen wurde, das eigene Verständnis des Ausdrucks dogmatisches Element zu spezifizieren. Die Gemeindeschulpflege Feuerthalen betonte, dass die Schule

«den religiösen Ansichten u. Überzeugungen d. Eltern» Rechnung zu tragen bzw. diese zu schonen habe. Der Religionsunterricht könne ihrer Ansicht nach

«das dogmatische Element beibehalten bis zu der Grenze, wo protestantische u./ katholische Lehre auseinandergehen». Es war dieser Schulpflege jedoch ein Anliegen, dass «die Lehrer ihre Subjektivität, ihre spezifischen Ansichten beim Religionsunterricht nicht geltend machen». Sei dies gewährleistet, gebe es keinen Grund am bisherigen Religionsunterricht etwas zu ändern. Andernfalls hätten sie sich «eher religionslose Schulen, d. h. Schulen ohne Religionsunterricht»108 gewünscht. Die Bezirksschulpflege Winterthur schrieb: «Sofern man unter dem dogmatischen Element die Lehre von den religiösen Wahrheiten überhaupt ver-steht, ist derselbe im Unterricht der Primarschule nicht zu vermeiden; dagegen soll das konfessionelle Element im weitesten Sinn des Wortes vom Unterricht der Primarschule ausgeschlossen werden.»109Aus diesen Antworten schliesse ich, dass nicht die Vermittlung religiöser Dogmen per se als problematisch erachtet worden war, sondern bloss die Vermittlung derjenigen Dogmen, mit denen kon-fessionelle Unterschiede manifest gemacht wurden. Ähnliche Töne kamen auch 105 Gemeinde- und Sekundarschulpflege Turbenthal (Bezirk Winterthur), ebd.

106 Gemeindeschulpflege Weiningen und Mittwochsgesellschaft (Bezirk Zürich), ebd.

107 Gemeinde- und Sekundarschulpflege Ossingen (Bezirk Andelfingen), ebd.

108 Gemeindeschulpflege Feuerthalen (Bezirk Andelfingen), ebd.

109 Bezirksschulpflege Winterthur (Bezirk Winterthur), ebd.

von der Schulpflege Oberwinterthur: «Der Religions-Unterricht der Schule ist nicht zu ändern. Sofern unter ‹dogmatisches Element› der Inhalt allgemein religiöser Wahrheiten zu verstehen ist, kann dieser nicht fehlen; dagegen ist aller Dogmatismus, alles Confessionelle zu vermeiden u. dem kirchlichen Unterricht zuzuweisen.»110

Die Bezirksschulpflege Andelfingen setzte ‹Dogmatik› in einen engen Zusam-menhang mit der (akademischen) Theologie und kam zum folgendem Schluss:

«Dogmatisches in dem Sinne, wie dieser Ausdruck von der Theologie verstan-den wird, ist schon aus pädagogischen Grünverstan-den von der Schule ferne zu halten.

Der Religionsunterricht soll auf den Stufen der Primarschule keinen kirchlich konfessionellen Charakter haben, sondern er soll, wie bis anhin sittlich religiöse Gefühle wecken u. zu bestimmten religiösen Begriffen ausbilden.»111

Was diese Bezirksschulpflege jedoch genau mit ‹Dogmatik› assoziierte, lässt sich nur vermuten. Es sind wohl theologische Lehrmeinungen gemeint, in denen sich die reformierten und katholischen Theologen nicht einig waren, zum Beispiel hinsichtlich der Ekklesiologie oder der Sakramentenlehre. Doch schien es der Andelfinger Bezirksschulpflege nicht bloss um die Vermeidung konfessioneller Differenzen gegangen zu sein, sondern auch um den Unterschied zwischen Kognition und Emotion. Pädagogische Gründe wurden gegen ein einseitig kognitivistisches Religionsverständnis ins Felde geführt und ein liberales von Schleiermacher geprägtes Religionsverständnis wurde sichtbar: Religion bezieht sich auf das Gemüt. Die Gemeindeschulpflege und der Gemeindsverein Mönch-altorf waren in ihrer Antwort konkreter, insofern sie Ausdrücke wie Gott, Sünde oder Erlösung als dogmatische Begriffe bezeichneten. Die Verwendung dieser Ausdrücke sahen sie in einem Religionsunterricht als unvermeidlich an.

Sie unterschieden jedoch eine alltägliche Verwendung dieser Ausdrücke von ei-ner systematischen Verwendung (vermutlich meinte die oben erwähnte Bezirks-schulpflege Andelfingen dies, wenn sie von Dogmatik im Sinne der Theologie sprach): «Ein Religionsunterricht ohne alle & jede Dogmen ist unmöglich; der Religionslehrer kann es nicht ausweichen, von Gott, von Seelen & Unsterblich-keit, von zeitlicher & ewiger Bestimmung, von Tugend, Sünde & Vergeltung, von Erlösung etc. zu reden, & das alles sind dogmatische Begriffe. Wir verstehen daher diese Frage in dem Sinn: ob das spezifisch- & systematische dogmatische, oder wie man es auch nennt, das dogmatisirende Element aufzunehmen sei? – &

da antworten wir mit einem entschiedenen Nein.»112

Es gab auch einige Antworten, die explizit den Umstand problematisierten, dass unklar sei, was unter dem dogmatischen Element zu verstehen sei. Die 110 Schulpflege Oberwinterthur (Bezirk Winterthur), ebd.

111 Bezirksschulpflege Andelfingen (Bezirk Andelfingen), ebd.

112 Gemeindeschulpflege und Gemeindsverein Mönchaltorf (Bezirk Uster), ebd.

Gemeinde- und Sekundarschulpflege Niederhasli schrieb als Antwort: «Der Be-griff ‹Dogma› ist ein sehr wager, man kann daher nicht genau bestimmen, bis zu welchen Grenzen der Religionsunterricht das dogmatische Element aufnehmen dürfe. Man will in dieser Beziehung keinen Druck, keine Bestimmung, welche dem Inhalt des § 63 der Verfassung zuwieder wäre.»113

Eine Person, die die Fragen sehr ausführlich beantwortete, meinte, man müsse, um die Frage nach dem dogmatischen Element im Unterricht beantworten zu können, sich eigentlich zuerst darüber verständigen, «was unter dem dogmati-schen Element zu verstehen sei; gibt es doch Dogmen nicht bloss in der Religion, sondern auch auf dem philosophischen Gebiete und im gemeinen Leben. Nach unserer Ansicht von Dogma und Religion gibt es gar keinen Religionsunterricht ohne dogmatische Elemente. Will man mit den Kindern von Gott, von Jesus reden, will man mit ihnen eine Geschichte des alten oder neuen Testaments lesen, so wird das selten, ja nie möglich sein ohne Anwendung und Aufstellung dog-matischer Glaubenssätze. Sogar alle Moral, in die man gegenwärtig wenigstens theilweise den Religionsunterricht will übergehen lassen, hat ihre wahre, tiefe Begründung nur in dogmatischen Sätzen. Unsere Antwort lautet deshalb: das dogmatische Element kann im Religionsunterricht nicht wegfallen. Es kann sich nur fragen: wie weit und auf welche Weise darf es vorkommen?»114 Nach Ansicht dieser Person sollten in der Volksschule «nur die einfachsten, verständlichsten, einleuchtendsten Begriffe christlichen Glaubens» gelehrt werden. Diese sollten auch nicht explizit als Dogmen, sondern eingekleidet in biblische Geschichten vermittelt werden. Insbesondere sollten «die lehrreichen, tröstlichen, verstan-des- und gemüthsbildenden Geschichten alt- und besonders neutestamentlicher Offenbarung und christlichen Lebens» thematisiert werden. Diese Person warnt zum einen davor, den Religionsunterricht «in blosse Moral» zu verflüchtigen, und zum andern davor, ihn «künstlich aller religiösen Bestimmtheit und Kon-kretheit» zu entkleiden, «um ihn desto eher für alle obligatorisch erklären zu dürfen».115

Aus den eingegangenen Antworten auf die siebersche Umfrage lässt sich zur Frage des dogmatischen Elements zusammenfassend Folgendes festhalten: Auf der einen Seite wurde die ‹Entdogmatisierung› des schulischen Religionsun-terrichts erörtert und die Frage gestellt, wie ein Religionsunterricht ohne in-haltliche Bestimmtheit möglich sein sollte. Ein von allen Dogmen entkleideter Religionsunterricht wurde aus dieser Perspektive als zumindest fragwürdig erachtet. Demgegenüber standen die Stimmen, die sittliche Bildung als von 113 Gemeinde- und Sekundarschulpflege Niederhasli (Bezirk Regensberg), ebd.

114 Privatperson (29 Seiten ohne Namen), Eingaben und Antworten von Privaten, StAZH, U 8.1.2.

115 Ebd.

religiösen Dogmen unabhängig erachteten und insofern gar keinen eigentlichen Religionsunterricht mehr wünschten.116 Auf der anderen Seite wurde das dog-matische Element problematisiert. Dies primär aus zwei Gründen: Zum einen wurden Dogmen als potentiell konfliktträchtig erachtet, weil sich an ihnen die konfessionellen Unterschiede zeigen. Zum andern wurde mit der Betonung religiöser Gefühle, die der schulische Religionsunterricht zu wecken habe, meist implizite Kritik an auswendig zu lernenden abstrakten Lehrsätzen deutlich, die das religiöse Gefühl und das Gemüt nicht ansprächen.

Interessanterweise muss anhand gewisser Antworten geschlossen werden, dass die bisherige Praxis des schulischen Religionsunterrichts hinsichtlich der Frage nach dem dogmatischen Element von vielen gar nicht als problematisch erachtet worden war. Auch bisher habe der Schwerpunkt auf den biblischen Geschichten gelegen und seien nicht die konfessionellen Lehrmeinungen betont worden. Die Gemeindeschulpflege Gossau kam zum Schluss, dass das dogmatische Element

«bisher so schwachbetont worden [sei], dass wir auch in diesem Punkte keine Änderung wünschen».117 Auch die Gemeindeschulpflege Männedorf meinte:

«Der Religionsunterricht sollte wie bis jetzt ertheilt, das geschichtliche Element die Hauptsache und das dogmatische auf das absolut Nothwendigste beschränkt werden».118 Das Geistlichkeitskapitel des Bezirks Regensberg problematisierte in seiner Eingabe ebenfalls den Begriff der Dogmatik und meinte: «Bei diesem Punkte wird es darauf ankommen, was man eigentlich unter Dogmatik verstehe.

‹Dogmatisch› im engern Sinn war auch bis anhin der Religionsunterricht in der Schule nicht, auch nicht in der Ergänzungsschule, weil überall geschichtlicher Stoff behandelt werden musste. Bliebe es so, so dürfte auch für die Zukunft die Befürchtung eines ‹dogmatischen› Unterrichtes hinwegfallen.»119

Die Schulpflege Glattfelden schrieb gar, dass auch der Inhalt des Unterrichts der sechsten Klasse – «Einführung in den Lehrgehalt des Evangeliums durch ausführliche Betrachtung und sorgfältige Erklärung von Gleichnissen und Aus-sprüchen Jesu» – «allgemein ohne dogmatische Färbung gegeben worden [sei], so dass wenigstens in hier dieser Unterricht unbedenklich nicht nur von Kindern von sektirerischen Eltern sondern selbst von Katholiken und Israeliten besucht worden ist».120

116 Vgl. Schulpflege Grüningen (Bezirk Hinwil), Eingaben und Antworten der Bezirksschulpfle-gen 1870, StAZH, U 8.1.1a.

117 Gemeindeschulpflege Gossau (Bezirk Hinwil), ebd.

118 Gemeindeschulpflege Männedorf (Bezirk Meilen), ebd.

119 Geistl. Capitel des Bezirkes Regensberg, Dielsdorf, den 5. Jan. 1870, Eingaben und Antworten von Vereinen 1870, StAZH, U 8.1.3.

120 Schulpflege Glattfelden (Bezirk Bülach), Eingaben und Antworten der Bezirksschulpflegen 1870, StAZH, U 8.1.1a.

Gleichwohl wurden in einigen Antworten die religiösen Lehrmittel erwähnt, die umzuarbeiten seien, damit «mehr auf Bildung des Herzens & Gemüthes hin-gewirkt werden» könne. Die Bezirksschulpflege Pfäffikon hielt die «bisherigen relig. Lehrmittel […] in dieser Richtung für verfehlt & daher untauglich» und forderte, dass «in dieser Richtung besseres geschaffen»121 werde. Nichtsdesto-weniger ist zu fragen, ob Sieber mit seinen Suggestivfragen mögliche oder bloss vermeintliche Probleme eines konfessionell-dogmatischen Religionsunterrichts nicht teilweise selbst heraufbeschworen hatte, um damit seine geplanten Refor-men legitimieren zu können.

In einem ersten Schritt habe ich die Antworten auf die siebersche Umfrage nach den Ansichten zur Frage nach der Art des schulischen Religionsunterrichts untersucht. In einem zweiten Schritt sollen nun auch die Diskussionen im Zusammenhang mit dem Entwurf des Unterrichtsgesetzes auf diese Frage hin näher besehen werden.

Ausgangspunkt der Diskussion in der Kirchensynode war die Unterscheidung zwischen Alltagsschule und höheren Schulstufen (Ergänzungs- und Sekundar-schule). Unter den Geistlichen schien die Ansicht weitgehend unbestritten zu sein, dass auf den höheren Stufen (7.–9. Klasse) der Religionsunterricht dogma-tisch-konfessioneller Art sein müsse bzw. dürfe, dort aber auch von der Kirche und nicht der Schule erteilt werde. Die Kontroverse zwischen konfessionellem und konfessionslosem Religionsunterricht bezog sich deshalb primär auf die Alltagsschulstufe (1.–6. Klasse). Die im Entwurf des Unterrichtsgesetzes geplante Überweisung des Religionsunterrichts auf allen Stufen an kirchliche Organe bezeichnete Pfarrer Wachter122 in seiner Proposition über den Religi-onsunterricht an der Versammlung der Kirchensynode vom 14./15. November 1871 als Danaergeschenk. Die «religiöse Anlage des Kindes» habe ein Recht auf Religionsunterricht in der Schule, und dieser sollte «in der Alltagsschule für die verschiedenen Confessionen gemeinsam obligatorisch sein, auch im Interesse der anzustrebenden Einigung der Confessionen».123 Möglicherweise befürchtete Wachter, dass ohne schulischen Religionsunterricht viele Kinder keinen Religionsunterricht mehr erhielten, da viele Eltern ihre Kinder nebst der Schule nicht noch zusätzlich für den kirchlichen Religionsunterricht ent-behren wollten. Doch sollte der Religionsunterricht obligatorisch sein, dann durfte er nach Massgabe der Verfassung nicht konfessionell sein. In seiner Replik auf Wachters Proposition betonte Diakon Fay in derselben 121 Bezirksschulpflege Pfäffikon (Bezirk Pfäffikon), ebd.

122 Pfarrer Rudolf Wachter (1835–1919), Verfasser der Chronik von Wipkingen und von 1871 bis 1898 Pfarrer in der Gemeinde Wipkingen (vgl. www.alt-zueri.ch/turicum/strassen/w/

wachterweg/wachterweg.html).

123 Amtlicher Auszug aus Protokollen der Synode der Zürcherischen Geistlichkeit, 14. 11. 1871, 26.

lung die Wichtigkeit «der Anschauung der heiligen Schrift». Religiöse Gesin-nungsbildung erachtete Fay als zentrale Aufgabe des Religionsunterrichts.

Aus diesem Grund sollte in der Schule «nicht blosse Moral mit Ausschluss alles Dogmatischen» gelehrt werden und er forderte deshalb «einen einfachen biblischen Unterricht».124

Der Vorschlag von Vögelin in der Kantonsratsdebatte vom 11. Januar 1872 wurde vom Landboten als eine «Art Vermittlungsantrag»125 bezeichnet. Vögelin kam den Geistlichen mit seinem Vorschlag insofern entgegen, als er die «Anregungen und Belehrungen aus dem Gebiete des geistigen und sittlichen Lebens» mit dem Ausdruck «religiös» ergänzte. Dafür betonte er im Unterschied zum Entwurf ex-plizit, dass «alles Dogmatische und Konfessionelle»126 auszuschliessen sei. In der am Schluss vom Kantonsrat verabschiedeten Version hiess es dann: «Anregungen und Belehrungen aus dem Gebiete des geistigen, sittlichen und religiösen Lebens, mit Ausschluss alles Dogmatischen und Konfessionellen und unter Vorbehalt des Art. 63 Absatz 1 und 2, der Verfassung. Dieser Unterricht wird für die siebente bis neunte Klasse unter Festsetzung des Lehrplans und der Lehrmittel durch den Erziehungsrath vom Ortsgeistlichen ertheilt.»127

Der Landbote kommentierte diese Veränderung von Paragraph 14 als «seltsames Gebilde» und fragte, ob dies «eine korrekte Lösung des Knotens»128 sei. Dass

«an die Religionspostulate» eine Konzession gemacht würde, sei vorausseh-bar gewesen, «aber die Konzession macht ein kurioses Gesicht». Als seltsam erachtete der Autor offenbar, dass der Religionsunterricht beibehalten und in der 7.–9. Klasse von Geistlichen erteilt werden sollte, zugleich aber alles Dog-matische ausgeschlossen und die Kompetenz für die Lehrmittel der staatlichen Behörde zugesprochen werde, um der Glaubens- und Gewissensfreiheit in der Verfassung Rechnung zu tragen. Der Autor führte seine Vorbehalte nicht aus, doch deutet die Verwendung von Adjektiven wie «kurios» und «seltsam» darauf hin, dass er den konfessionslosen Religionsunterricht zumindest als fragwürdig erachtete. Darauf deutet auch sein Kommentar zum Entscheid des Kantonsrates bezüglich des Paragraphen 25 über die Sekundarschule: «Es ist, wie wenn die Versammlung etwas von diesem Fragezeichen gefühlt habe, als sie bei der

124 Amtlicher Auszug aus Protokollen der Synode der Zürcherischen Geistlichkeit, 14. 11. 1871, 30.

125 Der Landbote, 13. 1. 1872.

126 Exakter Wortlaut von Vögelins Änderungsvorschlag: «Anregungen und Belehrungen aus dem Gebiete des geistigen, sittlichen und religiösen Lebens mit Ausschluss alles Dogmatischen und Konfessionellen und zur Förderung der Humanität» (NZZ, 12. 1. 1872; vgl. auch Der Landbote, 13. 1. 1872).

127 Der Landbote, 14. 1. 1872.

128 Ebd.

darschule mit grosser Mehrheit freie Hand und freie Wahl gab, die Geistlichkeit beizuziehen oder nicht.»129

Es ist nun aber keineswegs so, dass die Befürworter eines konfessionslosen Religionsunterrichts alle gleich argumentierten. Zumindest zwei verschiedene Argumentationslinien sind zu unterscheiden: die sittlich-moralische und die religiös-liberale. Anhand von Äusserungen Johann Caspar Siebers und Konrad Furrers sollen diese zwei Linien beispielhaft aufgezeichnet werden.130

Aus der Sicht Siebers hatte der sogenannte Religionsunterricht einzig einen ethisch-moralischen Zweck. In der Kantonsratsdebatte über das Unterrichts-gesetz forderte Sieber deshalb die Trennung von Schule und «landeskirchlicher Religion»: «Wir wollen weder dogmatische noch konfessionelle Händel in der Schule. Die Religion nach dogmatischem Zuschnitt ist nicht Zweck der Schule, sondern die humanitäre und sittliche Ausbildung der künftigen Staatsbürger.

Der ganze organische Unterricht gehört dem Lehrer der Volksschule. Die Religion soll nicht aus der Primarschule weg, aber es genügt, wenn die ethische Grundlage geboten, wenn das religiöse Element in einer dem Jugendalter ent-sprechenden und mit dem übrigen Unterricht harmonirenden Weise behandelt wird.»131

Bürgerbildung und nicht religiöse Bildung schien Sieber als zentrale Aufgabe der Schule zu erachten. Sieber ging offenbar von der Prämisse aus, dass die ethische Grundlage von der religiösen abgetrennt werden könne bzw. ethische und religiöse Bildung unabhängig voneinander zu vermitteln seien. Es scheint, als ob hier, im Unterschied zu religiösen Glaubenssätzen, die immer als potentiell kontrovers angeschaut wurden, von einer allgemein anerkannten Ethik aus-gegangen wurde. Oder anders formuliert: Sieber muss davon ausaus-gegangen sein, dass Moralunterricht per se weltanschaulich-religiös neutral sei, da ansonsten ähnliche Konflikte sich auch in diesem Bereich zeigen würden. Wie bereits oben erwähnt (vgl. Unterkapitel 5.4 und Unterkapitel 6.3), hatte Sieber mit dem neuen Unterrichtsgesetz eigentlich einen reinen Moralunterricht, der den traditionellen Religionsunterricht ersetzen sollte, intendiert.

129 Ebd.

130 Die Quellen, auf die ich mich im Folgenden beziehe, sind von der Gattung her sehr unter-schiedlich. Zur Darstellung von Furrers Argumentationsgang rekurriere ich primär auf ein von ihm verfasstes 40-seitiges Traktat zum schulischen Religionsunterricht. Zur Darstellung von Siebers Überlegungen standen mir nur kurze Zeitungsartikel über dessen Voten im Kantonsrat zur Verfügung. Die Protokolle des Kantonsrats waren zu dieser Zeit bloss Be-schlussprotokolle und die Berichte in den Tageszeitungen sehr viel ausführlicher und auch einigermassen ausgewogen.

131 Der Landbote, 13. 1. 1872.

Pfarrer Konrad Furrer132 aus Uster formulierte sein Plädoyer für einen konfes-sionslosen Religionsunterricht in einem Traktat mit dem Titel Der

Pfarrer Konrad Furrer132 aus Uster formulierte sein Plädoyer für einen konfes-sionslosen Religionsunterricht in einem Traktat mit dem Titel Der

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