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Aufrechterhaltung der Spannung durch Förderung eines institutionellen Pluralismus

Im Dokument Religionsunterricht im Kanton Zürich (Seite 194-198)

DIE DISKUSSION UM DEN SCHULISCHEN RELIGIONSUNTERRICHT UM 1872

7 Zivilreligiöse Erwartungen in der Diskussion um den schulischen Religionsunterricht 182 – eine Analyse

7.2 Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und der Evokation von gesellschaftlicher Einheit

7.2.3 Aufrechterhaltung der Spannung durch Förderung eines institutionellen Pluralismus

von Staat und Kirche – forderten.

7.2.3 Aufrechterhaltung der Spannung durch Förderung eines institutionellen Pluralismus

Während insbesondere von religiös-liberaler und radikaldemokratischer Seite her das einheitsstiftende Moment von Religion betont wurde, strebten bemer-kenswerterweise die Positiven danach, das in der Verfassung verankerte Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit auch auf institutioneller Ebene sichtbar werden zu lassen, indem sie sich sowohl für freie Kirchen wie auch freie Schulen einsetzten, die Lehrplan und Lehrmittel selber bestimmen können. Es mag aus heutiger Sicht erstaunen, dass nicht nur eine neoliberale Agenda für die Förde-rung privater Schulen sprechen kann. Heinrich Bachofner (1828–1897), der Di-rektor des evangelischen Lehrerseminars Unterstrass, ist ein gutes Beispiel, um die Gegenposition zum omniperspektivischen Ansatz zu illustrieren. Er forderte nicht bloss einen (positiv) christlichen Religionsunterricht, sondern christliche Schulen.66 In einem Vortrag, der sowohl im Volksblatt für die reformirte Schweiz wie auch im Evangelischen Wochenblatt zusammenfassend paraphrasiert worden war, argumentierte er dafür, dass das Christentum «der eigentliche Mittelpunkt der Schule werden» müsse. Denn die einseitige Ausbildung der Intelligenz

errei-das für mich?› (für uns, für alles, was lebt usw.) Ein Ding wäre bezeichnet, wenn an ihm erst alle Wesen ihr ‹was ist das?› gefragt und beantwortet hätten. Gesetzt, ein einziges Wesen, mit seinen eigenen Relationen und Perspektiven zu allen Dingen, fehlte: und das Ding ist immer noch nicht ‹definirt›.» (Nietzsche 1999, 140). Insofern es für Nietzsche kein perspektivenloses Denken zu geben scheint, könnte man ihn als Vordenker der Postmoderne bezeichnen. Aller-dings fügen sich für Nietzsche die unterschiedlichen Perspektiven nicht automatisch zu einem harmonischen Ganzen! Für eine Diskussion der Thematik der Perspektivität bei Nietzsche aus pädagogischer Sicht siehe Anhalt 2012b.

66 Gemäss Hardegger (2008a) «stellte die Gründung von eigenen Sozial-, Bildungs- und Ge-sundheitseinrichtungen für pietistische Kreise den einzig möglichen Weg zur Einflussnahme auf das öffentliche Leben dar» (Hardegger 2008a, 120), nachdem sie in politischer Hinsicht Minderheitsposition erlangt hatten. Mit der Gründung des Evangelischen Lehrerseminars Unterstrass im Jahre 1869 wurde das Ziel verfolgt, christliche Lehrer auszubilden, die aus-gerüstet mit Bildung und Charakterfestigkeit die Bereitschaft aufwiesen, die «Irrthümer des Zeitgeistes» (Gründungsprotokoll 1869, 6, zit. in Hardegger 2008a, 124) anzugehen.

che den Zweck der Erziehung nicht, der darin bestehe, die Menschen «glücklich zu machen». Dazu reichten ein paar wöchentliche Religionsstunden nicht. Das Christentum müsse «in ganz anderer Weise in der Schule zur Geltung gebracht werden», als dies jetzt der Fall sei. Bachofner gestand auch ein, «dass es schwer sei, das Richtige zu treffen, indem man die Kinder nicht mit dem Christenthum übersättigen dürfe; er wollte auch nicht, dass man bei Lehrgegenständen, die in keine Beziehung zum Christenthum zu bringen seien, es an den Haaren herbeiziehe».67

Sein Anliegen einer christlichen Schule68 begründete Bachofner folgendermas-sen: Für die Volksschule werde ein Lehrstoff gefordert, der «1. zu einem blei-benden, nie veraltenden Wissensschatze des gesammten Volkes werden kann, weil er für alle vom höchsten Werth ist; 2. Eine Form hat, die das Kind in sich aufnehmen kann; 3. Die Gesichtspunkte in sich schliesst, von denen aus die Dinge dieser Welt in’s wahre Licht treten, so dass der gesammte Unterricht in ihm seine Einheit hat.»69

Gemäss Bachofner ist es «der Unterricht im Worte Gottes, der diesen Anforde-rungen entspricht, der die Herzen reinigt». Die christliche Schule bringe, «und das ist die Hauptsache, in die manigfaltigen Interessen des Schullebens eine Einheit und ist darum eine wahrhaft erziehende Schule, denn der ins Centrum gestellte biblische Stoff ermöglicht es, die verschiedenen Vorstellungen gegen-seitig zu vergleichen, zu stützen, zu verstärken und zu verbinden, so dass sie zu einer Vorstellungsmasse werden, welche leicht reproduciert werden kann und darum den Willen zu bestimmen vermag».70

An dieser Stelle wird deutlich, dass es ein radikal unterschiedlicher Einheits-glaube des religiös liberalen Vögelin und des Positiven Bachofner ist, der den Ersten in Richtung eines institutionellen Monismus und den Zweiten in Rich-tung eines institutionellen Pluralismus plädieren lässt.

Das, was den Zusammenhang zwischen allem ermöglicht, war bei Bachofner eine eschatologische Realität, ein Mysterium: Gott, der sich in Christus offenbart und in den biblischen Schriften bezeugt wird. Bei Vögelin war es die Annahme einer

«hüllenlosen Wahrheit», die sich im menschheitlichen Entwicklungsprozess 67 Volksblatt für die reformirte Kirche der Schweiz, 2. 3. 1872, 38.

68 Bachofner war allerdings der Überzeugung, «dass von der Verwirklichung einer solchen Schule, welche von dem evangelischen Seminar angestrebt werde, erst dann die Rede sein könne, wenn Hausväter in freien Gemeinschaften zusammentreten, um freie Schulen zu grün-den, deren Lehrplan und Lehrmittel sie bestimmen. Möglich, dass einmal die freie Schule kommt; es ist auch uns nicht ganz unwahrscheinlich, dass das Prinzip der Glaubens- und Gewissensfreiheit auch hier seine Konsequenzen ziehen werde; vorher aber muss die freie Kirche kommen; sie kann erst die freie Schule nach sich ziehen» (Volksblatt für die reformirte Kirche der Schweiz, 2. 3. 1872, 38).

69 Evangelisches Wochenblatt, 22. 2. 1872, Hervorhebung R. K.

70 Ebd.

nach und nach erschliesst. Auch ein positiver Christ wie Bachofner wollte na-türlich von der Wahrheit sprechen – zum Beispiel mit Bezug auf folgende Stelle im Evangelium nach Johannes: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben»

(Joh 14,6); und umgekehrt war Vögelin kein gottloser Mensch. Doch wie sich Wahrheit erschliesst bzw. wie sich Gott offenbart, sahen beide unterschiedlich.

Aus der Sicht eines Bachofners erschliesst sich Wahrheit zuerst und zunächst durch das Leben und Werk Jesu Christi. Aus der liberalen Sicht eines Vögelins ist der Ort der Offenbarung Gottes bzw. der einen «hüllenlosen Wahrheit» der wissenschaftliche Erkenntnisprozess. Das einheitsstiftende Moment hat sich bei Bachofner bereits offenbart, während dieses bei Vögelin erst entdeckt bzw.

pädagogisch erzeugt werden muss.

Diese unterschiedlichen Einheitsverständnisse bieten eine Erklärung dafür, dass Bachofner nicht bloss einen christlichen Religionsunterricht forderte, sondern christliche Schulen. Das, was für Bachofner den Zusammenhang zwischen allem, was ist und zum Unterrichtsgegenstand werden kann, ermöglichte und darstellte, war der in Christus sich offenbarende und in den biblischen Schriften bezeugte Gott. Dies ist eine zutiefst perspektivische Sicht. Nur wenn die Welt aus dieser distinkt christlichen Perspektive betrachtet und erschlossen wird, erscheint sie im

«wahren Licht» und deshalb braucht es Schulen, in denen explizit aus dieser Per-spektive gelehrt und gelebt wird. Aus Vögelins omniperspektivischer Perspek-tive hingegen sollte in der Schule die Perspektivität gerade möglichst vermieden werden und das Allgemeine und der Menschheit Förderliche gefördert werden, um so mitzuhelfen, die eine «hüllenlose Wahrheit» aufzudecken.71

Die Unterschiedlichkeit der Einheitsverständnisse von Bachofner und Vögelin lassen sich auch auf grafische Weise verdeutlichen. Die Grafik für das Einheits-verständnis von Bachofner lässt sich folgendermassen beschreiben: geometrisch unterschiedliche grosse um eine Mitte herum konzentrisch angeordnete Kreise.

Von dieser Mitte – der in Jesus Christus offenbarte Gott – her erschliesst sich alles. Die in einer geometrischen Darstellung nicht vermeidbare unterschied-liche räumunterschied-liche Distanz der Kreise vom Mittelpunkt ist im übertragenen Sinne jedoch nicht räumlich gemeint, sondern verweist auf die qualitative Verschie-denheit der Dinge. Das Einheitsverständnis Vögelins lässt sich grafisch auf folgende Weise darstellen: eine Vielzahl von Strahlen – die unterschiedlichen welt anschaulich-religiösen Perspektiven –, die zu einer Spitze – die eine «hül-lenlose Wahrheit» – hin zulaufen. Alle unterschiedlichen Perspektiven laufen auf diese eine Wahrheit zu.

71 Die Aufgabe jedes einzelnen Lehrers besteht gemäss Vögelin darin, «von seinem Lehrobliga-torium Alles ferne zu halten, was an die Stelle des Allgemeinen das Partikularistische setzt, was dem Menschheitsziel nicht fördernd entgegenkommt.» (Vögelin 1879, Pädagogischer Beobachter, Heft 39, 2; vgl. auch Unterkapitel 7.2.2, S. 189 ff.).

Im ersten Fall sind Streitigkeiten darüber, wie denn diese Mitte, von der her sich alles erschliesst, richtig interpretiert wird, vorprogrammiert. Die Kirchen-geschichte gibt davon beredtes Zeugnis. Doch auch der zweite Fall ist nicht frei von Problemen. Wenn sich die Wahrheit erst durch den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess erschliesst, dann sind alle Menschen immer nur auf dem Weg zur Wahrheit, doch der vollständige Zugriff darauf ist allen verwehrt – von der einen Wahrheit sind alle Menschen zu jeder Zeit ausgeschlossen. Wie aber kann dann ein Vögelin wissen, was dem Menschheitsziel förderlich ist, ohne seine partikularistische Sicht der Dinge zur universalen zu machen?

Mit letzterer Frage wird auf eine Problematik hingewiesen, die von Seiten der Positiven auch im Zusammenhang mit dem konfessionslosen Religionsunter-richt aufgeworfen worden ist. In einem Beitrag im Evangelischen Wochenblatt wurde die Vorstellung eines solch allgemein-menschlichen, neutralen Religions-unterrichts als höchst fragwürdig dargestellt, da ein Religionsunterricht ohne dogmatische Elemente sich von allem fern halten müsse, was in den Bereich des religiösen Glaubens gehört, und somit auch von aller Religion entleert und zu ei-nem blossen Sittenunterricht reduziert würde. Die Lehrer eines konfessionslosen Religionsunterrichts «dürfen auch nicht wider andere Bekenntnisse, Religions-lehren streiten, sonst bekommt auch ihr Religionsunterricht eine dogmatische und in seiner Art konfessionelle Färbung; dürfen auch nicht einmal mehr sagen:

die Bibel sei nur Menschenwort, sonst lehren sie Dogmatik. Sie dürfen also nur, was allgemein für recht gilt, was zu einem sittsamen Wesen gehört, behandeln, alles weitere (Versöhnung, Vergebung der Sünde) gehört ja zum dogmatischen Element. Was wird vom Religionsunterricht noch übrig bleiben? Nichts, denn eine solche allgemeine Sittenlehre ist nicht Religion».72

Die theologisch-liberale Überzeugung eines Vögelins, dass beispielsweise auch die Reden Jesu Reden eines blossen Menschen seien,73 erweist sich aus dieser Sicht als eine dogmatische Position unter anderen. Und somit wird die Mög-lichkeit eines neutralen Religionsunterrichts negiert bzw. wird einem solchen Unterricht abgesprochen, Religionsunterricht zu sein. So gesehen ist auch die Vorstellung eines einheitlichen Volksganzen in Frage gestellt. Auf dieser Basis gibt es keinen Glauben, der als einheitsstiftendes Prinzip fungieren kann. Es gibt höchstens allgemeine Sitten und Gebräuche, aber keinen allgemeinen religiösen Glauben, durch den Integration hergestellt werden könnte.

In dieselbe Richtung argumentierte auch der Autor im Volksblatt für die reformirte Kirche der Schweiz. Seiner Ansicht nach war die Ersetzung des Re-ligionsunterrichtes durch «Anregungen und Belehrungen aus dem Gebiete des

72 Evangelisches Wochenblatt, 6. 8. 1868, 126 ff.

73 Vgl. Vögelin 1867, III; vgl. auch Unterkapitel 4.3, S. 101.

sittlichen und geistigen Lebens» keineswegs neutraler oder weniger anstössig:

«Denn ‹Anregungen aus dem Gebiete des sittlichen und geistigen Lebens› kön-nen das Gebiet der Religion und des Gewissens nicht unberührt lassen, sondern werden nothwendig, sei es in anerkennendem, sei es in polemischem Sinn, sich in ein Verhältnis setzen müssen zur Religionslehre der Kirche, so dass die Gefahr des Gewissenszwangs sich auch hier wiederholt.»74 Es würden, so der Gedanke, auch in diesem Fach bestimmte religiöse oder antireligiöse Überzeugungen ver-mittelt. Das bisher vorherrschende christlich- dogmatische Glaubensverständnis (Wunderglaube, Göttlichkeit Jesu usw.) werde ersetzt durch einen theologisch liberal gefärbten Humanismus. Die Problematik des Gewissenszwanges, der auch ein entdogmatisierter Religionsunterricht nicht entkomme, wurde auch im Blick auf die Geistlichen geäussert, die den Religionsunterricht in den höheren Klassen nach einem vom Erziehungsrat festgesetzten Lehrplan zu erteilen hätten: «Wenn aber dieser Lehrplan so einseitig ausfällt, dass die Geistlichen oder ein Theil dersel-ben sich dadurch in ihren Ueberzeugungen und in ihrem Gewissen beeinträchtigt fühlen, wie dann? Gilt die Gewissensfreiheit nicht auch ihnen? Wird überdies der Geistliche im Religionsunterrichte von seiner konfessionellen Bestimmtheit absehen können? Bleibt der Paragraph so stehen, wie er jetzt ist, so wird er ein Zankapfel der schlimmsten Art werden und auf’s Neue den Beweis leisten, dass Künsteleien zu nichts führen als zu neuem Streit.»75

Der Verfasser dieses Artikels macht darauf aufmerksam, dass auch eine theolo-gisch liberale Sicht eine bestimmte, andere Positionen ausschliessende Position darstellt und nicht religiös-weltanschaulich neutral ist und deshalb ebenso Konfliktpotential bietet, wenn beispielsweise ein Lehrer oder Geistlicher die Vermittlung dieser Position mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann.

Möglicherweise begünstigt aber gerade die Annahme von sogenannt allgemein menschlichen Wissens- und Glaubensbeständen, die somit angeblich religiös- weltanschaulich neutral sind, den paradoxen Aspekt von Zivilreligion, der im folgenden Unterkapitel genauer erläutert werden soll.

7.3 Paradoxie von Zivilreligion: Gesellschaftliche Ausdifferenzierung

Im Dokument Religionsunterricht im Kanton Zürich (Seite 194-198)