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Die Entstehung der modernen öffentlichen Schule

Im Dokument Religionsunterricht im Kanton Zürich (Seite 79-83)

BEGRIFFLICHE UND HISTORISCHE RAHMUNG

3 Die zürcherische Volksschule im Spannungsfeld zwischen Kirche und Staat

3.2 Die Entstehung der modernen öffentlichen Schule

Die traditionelle Schulgeschichtsschreibung nennt als Geburtsjahr der modernen Zürcher Volksschule das Jahr 1832.41 In diesem Jahr wurde das zürcherische Schulsystem zum ersten Mal durch ein staatliches Gesetz geregelt, zu dem es infolge der am Ustertag von 1830 geforderten neuen kantonalen Verfassung kam, die im März 1831 mit deutlicher Mehrheit vom Volk angenommen worden war.42 Wie bereits im Einleitungskapitel erwähnt wurde, suggeriert die aus der liberalen Siegerperspektive verfasste traditionelle Schulgeschichtsschreibung einen plötzli-chen Wandel von einer vormodernen zu einer modernen Schule. Ich folge Daniel Tröhler – und damit der neueren Schulgeschichtsschreibung –, der die Ent-wicklung der modernen öffentlichen Schule im Kanton Zürich in den Zeitraum

38 Vgl. Verfassung des Kantons Zürich vom 27. Februar 2005, Art. 130 Abs. 2 lit. a und b.

39 Vgl. Röhl 2006, 203.

40 Vgl. ebd., 205.

41 Vgl. Guggenbühl 1933.

42 Vgl. Tröhler 2008, 56.

zwischen 1770 und 1870 datiert.43 Häufig wurde in Gesetzen festgeschrieben, was bereits lange vorher auf kommunaler Ebene eingeführt worden war. So wie es bereits vor 1832 Bestrebungen gab, die Schule zu modernisieren, war das Schul-wesen auch nach 1832 von vormodernen Elementen geprägt.44 Die nach 1870 folgenden Änderungen und Reformen sind gemäss Tröhler als Weiterentwicklung von etwas bereits Bestehendem anzusehen.45 Im Folgenden sind bloss die we-sentlichen Etappen erwähnt, die im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung zwischen Kirche, Staat und Schule von Bedeutung sind.46

Bis ins Jahr 1798 kam die oberste Aufsicht über das gesamte Schulwesen im Kanton Zürich – inklusive dem Landschulwesen – dem grösstenteils aus Kle-rikern bestehenden Gremium der Obersten Schulherren zu. Die Aufsicht über das Landschulwesen war jedoch noch wenig ausgebaut. 1637 wurde für den Kanton Zürich die erste Landschulordnung erlassen, die für alle Schulen «uff der Landschaft» gelten sollte. Zur selben Zeit gaben sich einige Gemeinden eigene Schulordnungen. 1778 wurde im Zuge einer Reorganisation des städtischen Schulwesens von den obersten Schulherren eine neue Landschulordnung erlas-sen. Bloch nennt als wesentliche Neuerungen die Verlängerung der Schulzeit, die Einführung einer Repetierschule und die strengere Kontrolle des Unterrichts-besuchs. Doch nach wie vor war der Pfarrer für den Vollzug der Verordnungen verantwortlich, obwohl zum ersten Mal auch der Land- und Obervogt als Voll-zugsinstanz erwähnt worden sei.47 Untersuchungen von Andrea de Vincenti und Norbert Grube zeigen jedoch, dass die Gemeinden bereits im 18. Jahrhundert erstaunlich basisdemokratisch und eigenständig funktionierten. Die Analyse einer Umfrage bei Pfarrern an drei Pfarrkapiteln in den Jahren 1770/71 führte zum Ergebnis, dass entgegen den offiziellen Regelungen – die Wahl der Lehrer oblag de jure dem Examinatorenkonvent, der aus einem Teil des Gremiums der Obersten Schulherren bestand – die Landgemeinden de facto das Recht bean-spruchten, ihre Lehrer selber zu wählen.48

Zu einer strukturellen Neuorganisation des Schulwesens kam es erst während und nach der Helvetik. 1803 erliess der Kanton Zürich ein neues Schulgesetz.

Der gesellschaftliche Ausdifferenzierungsprozess und die veränderten Staats-vorstellungen nach 1789 machten sich im Kanton Zürich beispielsweise in der Gründung einer zivilen Behörde, des Erziehungsrates, bemerkbar. Im Unter-schied zum Gremium der Obersten Schulherren, das bis 1798 gewirkt hatte und

43 Tröhler 2011, 153.

44 Vgl. Tröhler/Hardegger 2008, 10 f.

45 Tröhler 2011, 153.

46 Bei der folgenden Darstellung stütze ich mich primär auf Bloch (1999) und Tröhler (2008).

47 Bloch 1999, 124 ff.

48 De Vincenti/Grube 2011, 285 ff.

vorwiegend aus Klerikern bestand, konnten neben den bisherigen Mitgliedern – der ältere von den zwei Bürgermeistern, Antistes, Rektor des Gymnasiums und zwei Mitgliedern des kleinen Rats – die übrigen acht Mitglieder auch weltlichen Stand haben und mussten vom Grossen Rat gewählt werden. Neu wurden 15 Schulinspektoratsstellen geschaffen, die als Aufsichtsorgane über die Primar-schulen zu wirken hatten. Die 15 dafür neu eingeführten Schulinspektoratskreise wurden jedoch an die bestehende Struktur der Dekanate angepasst. Analog zur Aufgabe der Dekane kam den Schulinspektoren ebenfalls eine Vermittlungs-funktion zwischen der obersten Behörde und den Pfarrern, die nach wie vor die unmittelbaren Schulaufseher vor Ort waren, zu.49

Im März 1831 wurde die neue Verfassung vom Volk angenommen. Die Artikel 20, 70, 79 und 86 dieser Staatsverfassung waren für die Schule von grosser Bedeutung. In Artikel 20 wurde die moderne Schule als Volksschule definiert und nicht als staatliche Schule, wie Tröhler betont.50 In Artikel 70 wurde als Aufsichtsbehörde «über die sämmtlichen Schulanstalten des Cantons» der Erziehungsrat (heute: Bildungsrat) genannt. Im Unterschied zu den anderen europäischen Ländern bestand der Erziehungsrat nicht aus staatlichen Beamten, sondern aus einer vom Parlament gewählten ehrenamtlichen Behörde. Artikel 70 erwähnte nicht bloss die «Organisation des Erziehungswesens», sondern ebenfalls «die Errichtung einer Schulsynode».51 Die Lehrersynode ist eine Art Lehrerparlament und gemäss Tröhler «ein weltweites Unikum».52 Die Schulsyn-ode wurde vom Juristen Conrad Melchior Hirzel53 initiiert. Mit ihr sollte es ge-lingen, die Schule von der Kirche zu emanzipieren, ohne sie zu einer staatlichen Institution zu machen. Organisationsmässig orientierte man sich dennoch an der Kirche, da diese die einzige grosse, vom Staat teilweise unabhängige Institution war. Analog zur Synode der Geistlichkeit sollte es für alle Lehrkräfte eine Versammlung geben. Die durch die Verfassung festgelegte Garantie für eine ei-gene Lehrerversammlung erhöhte natürlich das Selbstbewusstsein der Lehrer.54 Während in Artikel 70 der Erziehungsrat als schulische Aufsichtsbehörde für den gesamten Kanton genannt wurde, bestimmte Artikel 79 die Schulaufsicht in

49 Vgl. Bloch 1999, 126 f.

50 Vgl. Tröhler 2008, 57. In Artikel 20 der Staatsverfassung für den eidgenössischen Stand Zü-rich vom 10. März 1831 heisst es: «Sorge für die Vervollkommnung des JugendunterZü-richts ist Pflicht des Volkes und seiner Stellvertreter».

51 Staatsverfassung für den eidgenössischen Stand Zürich vom 10. März 1831, Art. 70.

52 Tröhler 2008, 57.

53 Conrad Melchior Hirzel (1793–1843) wurde mit der neuen Staatsverfassung von 1831 Regie-rungsrat und erster Präsident des Erziehungsrates. Ein Jahr später wurde er Bürgermeister, das heisst, Regierungsratspräsident des Kantons Zürich. Der konservative Umsturz im Jahre 1839 kostete ihn alle Ämter (vgl. Tröhler 2008, 57).

54 Vgl. Tröhler 2008, 57.

den kantonalen Bezirken – die sogenannte Bezirksschulpflege – und Artikel 86 diejenige in den Gemeinden – die sogenannte Gemeindeschulpflege.

Im Anschluss an die Verfassung wurden noch im selben Jahre durch den vom Parlament gewählten Erziehungsrat mehrere Gesetze erlassen, die für die Entwicklung der Volksschule wichtig waren: die eigene Geschäftsordnung, die Gesetze über die Organisation der Bezirksschulpflegen und der Gemeindeschul-pflegen, das Gesetz über die Lehrerbildung und das Gesetz über die Schulsyn-ode. Am 2. Oktober 1832 wurde schliesslich das Gesetz über die Organisation des gesammten Unterrichtswesens im Canton Zürich vom Regierungsrat in Kraft gesetzt. Die gesetzlichen Grundlagen für die Zürcher Volksschule waren damit gesetzt. Tröhler verweist in seiner Darstellung auf den öffentlichen Charakter der zürcherischen Volksschule. ‹Öffentlichkeit› meint hier, dass die Aufsicht über das Schulwesen nicht primär von Staatsbeamten ausgeführt wird, sondern durch vom Stimmvolk direkt gewählte Repräsentanten aus dem Stimmvolk.55

Was es bedeutete, dass die Schule bis 1831 eine kirchliche Institution war, beschreibt Urs Hardegger kurz und knapp: «Offene Stellen wurden von der Kanzel verlesen, der Lehrer musste den Kirchenchor leiten und das Vorsinger- und Sigristenamt übernehmen, die Schule war mit der Konfirmation beendet, schwere Disziplinarfälle waren dem Pfarrer zu melden und der Pfarrer beteiligte sich am Schuljahresschlussexamen.»56

Der Entflechtungsprozess zwischen Kirche und Schule vollzog sich über meh-rere Jahrzehnte. Sigristen- und Lehrerstelle wurden bereits im Jahre 1833 getrennt und die Verpflichtung der Lehrer zur Übernahme der Vorsingerstelle wurde im Jahre 1838 auf Druck der organisierten Lehrerschaft aufgehoben.57 Das Gesetz betreffend die Organisation der Bezirksschulpflege von 1831 sah folgende Zusammensetzung der sieben Mitglieder vor: zwei durch ihr Kapitel gewählte Geistliche, zwei von der Lehrerversammlung des Bezirks gewählte Lehrer und drei von der Bezirksversammlung gewählte Einwohner. Gemäss Gesetz über die Organisation der Gemeindeschulpflege umfasste diese neben dem Pfarrer, dem kraft seines Amtes der Vorsitz zugesprochen wurde, mindes-tens vier Gemeindemitglieder, darunter auch den Lehrer. Erst mit dem neuen Schulgesetz von 1859 wurde die kirchliche Zweiervertretung in der Bezirks-schulpflege aufgehoben und 1865 fiel die Regelung, dass der Pfarrer von Amtes wegen Präsident der Gemeindeschulpflege zu sein hatte.58 Damit war die Schule organisatorisch gesehen von der Kirche gelöst.

55 Vgl. ebd., 58.

56 Hardegger 2008b, 42.

57 Vgl. Tröhler 2007, 57 f.; Bloch 1999, 148.

58 Vgl. Bloch 1999, 128 f.; Tröhler 2008, 58 f.

3.3 Zur Geschichte des schulischen Religionsunterrichts

Im Dokument Religionsunterricht im Kanton Zürich (Seite 79-83)