• Keine Ergebnisse gefunden

Gründe für die Verwerfung des Unterrichtsgesetzes

Im Dokument Religionsunterricht im Kanton Zürich (Seite 114-117)

DIE DISKUSSION UM DEN SCHULISCHEN RELIGIONSUNTERRICHT UM 1872

5 Das abgelehnte Unterrichtsgesetz von 1872

5.5 Gründe für die Verwerfung des Unterrichtsgesetzes

Über die beiden umstrittensten Artikel – Verlängerung der Alltagsschule (Pa-ragraph 10) und Lehrerbildung an der Hochschule (Pa(Pa-ragraph 100) – konnte einzeln abgestimmt werden. Man wollte nicht das gesamte Gesetz wegen dieser zwei umstrittenen Punkte gefährden. Doch schliesslich wurden sowohl die Paragraphen 10 und 100 abgelehnt wie auch das gesamte Gesetz. Nach der Ab-stimmung suchte man nach Ursachen für die Niederlage. Über die Gründe für die Ablehnung von Paragraph 10 war man sich einig: Die Bauern und Arbeiter

35 Vgl. ebd., 241.

36 Vgl. Köhler 2003, 138.

37 Vgl. Köhler 2003, 140 f.

38 Koller 1987, 90.

39 Martha Greiner schreibt in ihrer Dissertation Der Wandel des Verhältnisses von Staat und Kir-che zur Volksschule des Kantons Zürich: «In den Beratungen beider Behörden [Kantons- und Erziehungsrat] kommt eine starke antikirchliche Tendenz zum Ausdruck, der atheistische Erziehungsdirektor war umgeben von Gesinnungsgenossen.» (Greiner 1933, 92).

40 Koller 1987, 90.

41 Ebd.

befürchteten einen zu grossen Verdienstausfall, wenn ihre Kinder, anstatt auf dem Hof oder in der Fabrik zu arbeiten, die Schule hätten besuchen müssen.42 Die Ursachen für die ablehnende Haltung gegenüber der Lehrerbildung an der Hochschule waren weit schwieriger zu eruieren. Als sachliche Gründe nennt Koller Zweifel an der Eignung einer Hochschulbildung zum Erlernen des Lehrerberufs, die hohen Kosten und organisatorische Schwierigkeiten, die mit der Einführung der Lehramtsschule verbunden gewesen wären. Nach Koller hätten aber auch irrationale Aspekte eine Rolle gespielt: die Abwehr gegen den akademisch gebildeten Lehrer und die Furcht vor dem Erstarken der Lehrer-schaft zu einer «unkontrollierbaren progressiven politischen Macht»43 im Staate.

Mög licherweise hatten auch diejenigen Kreise gegen die Hochschulbildung gestimmt, die an der Sonderstellung von Hochschule und Professorenschaft festhalten und die Lehr- und Lernfreiheit der Hochschule nicht durch die Ein-bindung von Fachschulen gefährden wollten.44

Am unklarsten sind die Gründe, die zur Ablehnung des von den beiden umstrit-tensten Artikeln befreiten Unterrichtsgesetzes geführt hatten. Zum einen ver-mutet Koller einen eher unreflektierten allgemeinen Zweifel an den Neuerungen dieses Gesetzes. Zum andern sieht er aber konkrete Vorbehalte gegenüber bestimmten Artikeln am Werk – insbesondere gegenüber denjenigen, die den Religionsunterricht, die Schulaufsicht und die Fortbildungsschule betroffen hätten. Für die Kantonsschullehrer sei möglicherweise auch die geplante Auf-hebung der lebenslänglichen Anstellung ein Grund gewesen, gegen das gesamte Unterrichtsgesetz zu stimmen. Koller denkt jedoch, dass ein grosser Anteil der Nein-Stimmen der Organisation des Religionsunterrichts gegolten habe. Diese Meinung teilt auch der von ihm zitierte Lehrer Schneebeli, der im Rückblick

42 Bereits die Ausgangslage für das Unterrichtsgesetz war ungünstig. 1870 – zu Beginn der Dis-kussionen über das Unterrichtsgesetz – wurde über ein von den Demokraten unterstütztes neues Fabrikgesetz abgestimmt und dieses abgelehnt. Männer, Frauen und Kinder sollten vor übermässiger Nutzung ihrer Arbeitskraft geschützt werden. Insbesondere den Schutz der Kinder hatte man im Blick: Nachtarbeit wollte man nur noch für männliche Arbeiter ab 16 erlauben. Der erste Entwurf wollte Nachtarbeit sogar nur für volljährige Männer gestatten.

Schüler der Alltagsschule sollten gar nicht zur Arbeit in der Fabrik zugelassen werden. Für 11- bis 12-jährige Kinder hätte eine Arbeitszeitbeschränkung von 6 Stunden eingeführt wer-den sollen und für 13- bis 15-jährige eine Arbeitszeit von 10 Stunwer-den. Des Weiteren hiess es im Gesetzesentwurf, dass die Kinder unmittelbar vor dem Besuch der Ergänzungsschule nicht in der Fabrik arbeiten dürfen. Die Gegner des Gesetzes schürten im Volk die Angst, dass nach dem Fabrikgesetz das Unterrichtsgesetz und die Verlängerung der Alltagsschule käme und sie dadurch in ihrer Existenz bedroht würden. In der Tat war es so, dass um 1870 im Zürcher Oberland nur Familien mit 2–4 verdienenden Kindern einigermassen ihre Bedürfnisse befrie-digen konnten (vgl. Koller 1987, 171 f.).

43 Koller 1987, 260.

44 Ebd., 259 f.

auf die Abstimmung als wesentliche Ursache für die Verwerfung des gesamten Gesetzes die Absichten Siebers hinsichtlich des Religionsunterrichts sah.45 Nebst inhaltlichen Gründen nennt Koller noch drei weitere Aspekte, die sich ungünstig auf das Abstimmungsverhalten ausgewirkt haben könnten. Erstens die vielen Propagandaveranstaltungen im Vorfeld, in denen die Redner, ins-besondere auch Sieber, manchmal das Mass des Verträglichen verloren hätten.

Zweitens fanden zur selben Zeit wie die Debatte um das Unterrichtsgesetz die Bundesrevisionsdiskussionen statt. Dies hatte zur Folge, dass einige gemässigte Demokraten in Bern engagiert waren und deshalb nicht in Zürich eingesetzt werden konnten. Drittens die konservative Grundhaltung des Volkes, die die Demokraten bereits bei der dem Unterrichtsgesetz vorangegangenen Niederlage zur Fabrikgesetzgebung feststellen mussten.46

Monokausale Erklärungsversuche müssen durch andere ergänzt werden. Kollers Darstellung überzeugt durch die Berücksichtigung einer Reihe von Aspekten, die zur Verwerfung des sieberschen Unterrichtsgesetzes geführt hatten. Auf dem Hintergrund meines Forschungsinteresses – die Frage nach den zivilreligiösen Erwartungen an den schulischen Religionsunterricht – und meinen diesbezüg-lichen Forschungen scheint es mir sehr plausibel, dem Religionsunterricht eine wichtige Bedeutung in den Überlegungen der Stimmbürger für ein Ja oder ein Nein beizumessen. Denn wie in Kapitel 4 gezeigt worden ist, handelte es sich hier nicht bloss um einen Kampf auf politischer Ebene zwischen liberal und demokratisch Gesinnten, sondern ebenso um einen (innerkirchlichen) Kampf auf weltanschaulich-religiöser Ebene zwischen theologisch Liberalen und Posi-tiven, der zu dieser Zeit im Vergleich zu heute noch enorme Mobilisierungskraft besass.

Im Zentrum dieser Arbeit stehen jedoch nicht die möglichen Gründe für die Ablehnung des Unterrichtsgesetzes. Vielmehr interessiert die Frage nach den zivilreligiösen Erwartungen, die sich in der Diskussion um den schulischen Religionsunterricht im Zusammenhang mit der Abstimmung über dieses Unter-richtsgesetz manifestierten. Es folgen nun die eigentlichen Hauptkapitel dieser Arbeit: Kapitel 6 dient der Darstellung der verschiedenen Themen, die in der öffentlichen Diskussion über den schulischen Religionsunterricht im Zusam-menhang mit dem Unterrichtsgesetz diskutiert worden waren. Kapitel 6 bildet auch die Grundlage dafür, in Kapitel 7 nach möglichen zivilreligiösen Aspekten in der Diskussion zu suchen.

45 Vgl. ebd., 261.

46 Vgl. ebd., 261 ff.

6 Kontroverse Themen in der Diskussion um den

Im Dokument Religionsunterricht im Kanton Zürich (Seite 114-117)