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Eine erste Annäherung: Unterscheidung zwischen Zivilreligion, politischer Religion und Staatsreligion

Im Dokument Religionsunterricht im Kanton Zürich (Seite 39-43)

BEGRIFFLICHE UND HISTORISCHE RAHMUNG

2 Zivilreligion – Phänomen und Begriff

2.1 Eine erste Annäherung: Unterscheidung zwischen Zivilreligion, politischer Religion und Staatsreligion

Sprachlich gesehen wird im Ausdruck Zivilreligion das Nomen Religion durch den Ausdruck zivil (von lat. civitas, civilis) weiterbestimmt, was bürgerlich, staat-lich, öffentstaat-lich, staatsbürgerlich heissen kann.1 Es liegt daher nahe, Zivilreligion mit politischer Religion oder Staatsreligion zu identifizieren, was auch häufig geschieht, da es über die richtige Verwendung des Begriffs Zivilreligion keinen gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Konsens gibt. Die von Hans Maier vorgenommene Unterscheidung zwischen diesen drei verschiedenen Begriffen

«nach Herkunft und historischem Hintergrund»2 scheint mir zur Präzisierung des Begriffs Zivilreligion sehr hilfreich.

Bevor ich auf die Typologie Maiers eingehe, zuerst jedoch noch eine Vorbemer-kung. Seit Eric Voegelin oder Raymond Aron wird der Begriff der politischen Religion meist in Bezug auf totalitäre Regimes des 20. Jahrhunderts verwendet, insbesondere für den Nationalsozialismus und den Leninismus bzw. Stalinis-mus.3 Mit seinem weiter gefassten Anwendungsbereich, der antike Verhältnisse einschliesst, trägt Maier einerseits zur Klärung des Sachverhalts bei, läuft ande-rerseits aber Gefahr, ein modernes Religionsverständnis, das auf einer Ausdif-ferenzierung von Staat und Kirche basiert, auf die Antike zurückzuprojizieren und somit einer anachronistischen Verzerrung Vorschub zu leisten. Ist man sich jedoch bewusst, dass das heute übliche Verständnis von Religion – eine Kombi-nation von Glaubensüberzeugung und kultischer Praxis – modernen Ursprungs ist, dann kann man aus seinen Ausführungen einigen Gewinn ziehen.

Maier bezeichnet als politische Religion «einen Religionstypus, der in einer politischen Gemeinschaft wurzelt – so sehr, dass er ohne diese politische Fun-dierung nicht existieren könnte».4 Insofern er von einer «elementaren Symbiose»

zwischen «Staat und Religion»5 spricht, könnte man auch umgekehrt sagen, dass 1 Vgl. Seitter 2003, 115.

2 Maier 2007 [1995].

3 Vgl. Voegelin 1993; Bohmann 2009; Behrens 1997. Gemäss Gerda Bohmann haben sowohl Aron wie auch Voegelin den Ausdruck politische Religion später fallen gelassen und durch andere Ausdrücke ersetzt: Voegelin mit ‹moderne politische Gnosis› bzw. ‹Ersatzreligion› und Aron durch ‹säkulare Religion› (vgl. Bohmann 2009, 3).

4 Maier 2007 [1995], 173.

5 Ebd.

der Staat ohne den religiösen Kult nicht existieren kann. Bekannteste Beispiele für einen solchen Stadt- und Staatskult in der Antike sind die griechische Polis und das republikanische und kaiserliche Rom. Der Götterkult und das Wohl der politischen Gemeinschaft sind hier aufs Engste miteinander verbunden.

Bei einem symbiotischen Verhältnis können jedoch die Partner eines solchen Verhältnisses nur aus einer Aussenperspektive auseinandergehalten werden.

Ein solcher Blick von aussen ergibt sich durch die philosophische Frage nach dem Wesen der Götter und ihrer Natur. Zu denken ist hier beispielsweise an die Kritik Platons an den Götterfabeln Homers. Oder später dann an die Unterscheidung Marcus Terentius Varros zwischen politischer Theologie und mythischer und physischer Theologie. Die politische Theologie hat nach Varro eine Mittlerfunktion zwischen der Volksreligion (mythische Theologie) und der vom polytheistischen Götterglauben gereinigten Religion der Philosophen.6 Erst «in der Fremdwahrnehmung durch Philosophie und Theologie wird die antike kultisch-kollektive Identität zur ‹politischen Religion›».7 So gesehen sind Ansätze zu einer funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft bereits in der Antike zu finden. Mit dem Christentum tritt die Spannung zwischen Religion und Staat bzw. Imperium noch deutlicher hervor: Der Kult der politischen Ge-meinschaft und die kultische Verehrung des transzendenten, christlichen Gottes werden unterschieden und sind nicht integrierbar. Maier erinnert in diesem Zusammenhang an das Zinsgroschengleichnis im Matthäus-Evangelium: Mit der Frage, ob es erlaubt sei, dem Kaiser Steuern zu zahlen, wollen die Pharisäer Jesus überführen. Auf das Bild des Kaisers auf der Geldmünze verweisend, antwortet Jesus: «So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!»

(Mt 22,21). Zwar gehorchten die frühen Christen der politischen Obrigkeit und beteten trotz der Ablehnung des Kaiseropfers auch für den Kaiser und das Heil des Reiches, doch verstanden sie den Kaiser als einen weltlichen und nicht als einen göttlichen Herrscher. Kein weltlicher Herrscher darf sich aus christlicher Sicht absolut setzen.8

Der zweite hier zu beschreibende Typus von Religion ist die Staatsreligion – oder die kirchenförmige Religion wie Maier historisch präziser formuliert. Sie entsteht durch die «Privilegierung des Christentums durch Konstantin und Theodosius».9 Im Unterschied zur politischen Religion kann die kirchenförmige Religion unabhängig von einem politischen System existieren. Nur eine solch staatsunabhängige Religion ermöglicht es einem Staat oder Imperium, diese Form von Religion entweder als Staatsreligion anzuerkennen oder als 6 Ebd., 173 f.

7 Ebd., 173.

8 Vgl. ebd., 172.

9 Ebd., 174.

feindliche Religion zu verfolgen (so zum Beispiel geschehen unter Diokletian).

Zur Eigenart des Typus Staatsreligion gehört gemäss Maier jedoch nicht nur die Eigenständigkeit, sondern auch die «Suprematie der Religion gegenüber dem Staat».10 Der Staat erhält eine dienende Rolle «als Anwalt und weltlicher Arm der Kirche».11 Diese Eigenständigkeit und Suprematie der Religion bzw. der Kir-che gegenüber dem Staat hat sich natürlich erst im Laufe der Zeit herausgebildet.

Als Stationen auf diesem Weg nennt Maier den mittelalterlichen Investiturstreit, die zunehmende Bedeutung des Papstamtes und der Konzilien, die Bildung von Völkern und Staaten durch die verbindende christliche Lehre, ihre Gebote und Rechtsnormen und das von ihr ausgehende Denken und Fühlen.12 Erst durch die durch die Reformation ausgelöste Glaubensspaltung änderte sich dieses Verhältnis und drehte sich sogar um.13 Durch den Streit um die vera religione partikularisierte sich das einstmals nationenübergreifende Christentum in natio-nalen Formen und verlor nach und nach seine Vormachtstellung gegenüber dem Staat – «bis das System schliesslich in die entgegengesetzte Form des Staatskir-chentums, der Superiorität des Staates über die Kirche»,14 umschlug.

Der dritte Typus des hier unterschiedenen Verhältnisses von Religion und Poli-tik ist die Zivilreligion. Wie zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, verweist bereits der Name zurück auf die Antike. Dies sei – so Maier – nicht zufällig: Durch die Verbreitung des Christentums ging die einstmalige Einheit von Politik und Reli-gion verloren und sollte nun durch eine Art staatliches Glaubensbekenntnis, das von allen Bürgern zu beachten ist, wiederhergestellt werden.15 Rousseau, der als der erste Theoretiker der Zivilreligion gilt, formulierte in seinem contrat social die Dogmen einer zivilen oder bürgerlichen Religion, die er für das Funktionie-ren des Staates als notwendig erachtete. Als Gewährsmänner für sein Ansinnen zog Rousseau im religiösen Bereich Mohammed und im weltlichen Bereich Thomas Hobbes bei. Mohammeds politisches System (und das seiner Nachfol-ger – der Kalifen –, solange sie sich an seine Regierungsform hielten) rühmte er für dessen Einheitlichkeit, es basierte nicht auf der christlichen Unterscheidung zwischen Gott und Kaiser. Und Hobbes rühmte er dafür, dass dieser als einziger christlicher Denker gewagt habe, «die beiden Köpfe des Adlers wieder zu

10 Ebd.

11 Ebd.

12 Vgl. ebd.

13 Es muss erwähnt werden, dass Maier in seiner Darstellung nach dem Schisma zwischen West- und Ostkirche im Jahr 1054 offensichtlich nur noch die Westkirche im Blick hat. Somit kann auch die Unterscheidung zwischen Staatsreligion und Staatskirche sinnvollerweise nur auf Westeuropa angewendet werden.

14 Maier 2007 [1995], 174.

15 Vgl. ebd., 175.

vereinigen und alles auf eine politische Einheit zurückzuführen».16 Rousseau war der Überzeugung, dass ohne eine solche politische Einheit weder Staat noch Regierung prosperieren können.17 Dies hat zur Folge, dass je mehr es gelingt, ge-sellschaftlich-politische Homogenität zu erzeugen, Zivilreligion und politische Religion (verstanden im Sinne totalitärer Regimes) in terminologischer Hinsicht ineinander übergehen.

Im 20. Jahrhundert wurde Rousseaus Konzept erneut diskutiert. Insbesondere dank dem Soziologen Robert N. Bellah, der zur Beschreibung der religiösen Dimension der amerikanischen politischen Kultur den von Rousseau entlehnten Begriff civil religion verwendete und mit seinem 1967 erschienenen Aufsatz Civil Religion in America eine weltweite akademische Debatte auslöste.18 Niklas Luhmann führte den Begriff Zivilreligion 1978 in den deutschen Sprachraum ein und dieser wurde ziemlich rasch dann auch von Hermann Lübbe aufgenommen und diskutiert.19

Bevor nachfolgend auf den Unterschied zwischen Rousseaus Verständnis von Zivilreligion und heutigen Vorstellungen von Zivilreligion eingegangen wird, soll an dieser Stelle nochmals kurz der Unterschied zwischen politischer Re-ligion (im Verständnis von Maier) und ZivilreRe-ligion zusammengefasst und etwas zugespitzt werden: Politische Religion verweist auf ein symbiotisches Verhältnis zwischen Religion und politischer Gemeinschaft. Das eine kann ohne das andere nicht bestehen und im strikten Sinne kann hier deshalb auch noch nicht zwischen Religion und politischer Gemeinschaft als zwei distinkten gesellschaftlichen Sphären unterschieden werden. Zivilreligion hingegen setzt die Ausdifferenzierung zwischen Staat und Kirche voraus und kann hinter dieses historische Faktum nicht mehr zurück. Doch soll die verlorengegangene Einheit zwischen politischer und religiöser Sphäre mittels zivilreligiösen Glaubens wiederhergestellt werden.

Auf gesellschaftliche Ausdifferenzierung als Voraussetzung für Zivilreligion geht Hermann Lübbe in seinem Aufsatz Staat und Zivilreligion. Ein Aspekt politischer Legitimität ein, in dem er auf einen fundamentalen Unterschied zwischen Rousseaus Verständnis von Zivilreligion, das dieser in seinem contrat social ausgeführt hat, und heutigen Vorstellungen von Zivilreligion verweist.

Rousseaus Zivilreligion beinhaltet eine Bekenntnispflicht der explizit formulier-ten zivil religiösen Glaubensartikel.20 Dies hat zur Folge, dass das Toleranzgebot 16 Rousseau 2008 [1762], 145.

17 Vgl. ebd., 144 f.; Maier 2007 [1995], 175.

18 Vgl. Lübbe 2004, 195.

19 Vgl. Schieder 2004, 715.

20 Die bürgerliche Religion soll nach Rousseau aus vier positiven und einem negativen Dogma bestehen. Die vier positiven Dogmen sind: «Die Existenz der allmächtigen, allwissenden, wohltätigen, vorhersehenden und sorgenden Gottheit, das zukünftige Leben, das Glück der

nicht für diejenigen gilt, die von diesem Bekenntnis abweichen. Sowohl der Gottlose als auch wer zu sagen wagt, es gäbe kein Heil ausserhalb der Kirche, muss aus dem von Rousseau propagierten freien Staat verstossen werden, da er als Feind der Gesellschaft gilt.21 Lübbe weist Rousseaus Zivilreligion insofern eine «voraufgeklärte Verfassung»22 zu, als Religionsfreiheit in Bezug auf Zivil-religion nicht als Bürgerrecht eingeklagt werden kann. Im Gegensatz dazu setzt

«vollendete religionspolitische Aufklärung»23 zur Beförderung der bürgerlichen Moral keine Bekenntnispflicht voraus. Da Bürgerrecht und Bekenntnis(pflicht) im heutigen Verständnis von Zivilreligion klar getrennt werden, beschreibt Lübbe Zivilreligion als «Religion nach religionspolitisch vollendeter Aufklä-rung».24 Oder anders gesagt: Zivilreligion setzt Religionsfreiheit voraus bzw.

Religionsfreiheit fördert die Entstehung einer Zivilreligion.25 Denn in einer religiös homogenen Gesellschaft trägt die vorherrschende religiöse Tradition massgeblich zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Bricht diese religiöse Einheit auseinander (Europa) oder war gar nie existent (Amerika), stellt sich die Frage, wer oder was diesen gesellschaftlichen Zusammenhalt gewährleisten kann, und eine mögliche Antwort auf diese Frage ist: Zivilreligion.

Im Dokument Religionsunterricht im Kanton Zürich (Seite 39-43)