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Politische und religiöse Richtungen und ihre Verflechtungen

Im Dokument Religionsunterricht im Kanton Zürich (Seite 104-107)

DIE DISKUSSION UM DEN SCHULISCHEN RELIGIONSUNTERRICHT UM 1872

4.4 Politische und religiöse Richtungen und ihre Verflechtungen

Gemäss Streuli hatten die meisten Zürcher Geistlichen der Demokratischen Bewegung gegenüber eine eher ablehnende Haltung eingenommen, auch wenn sie sie nicht gänzlich verurteilten. Beide theologischen Richtungen waren sich einig darüber, dass die Demokratische Bewegung ihren Erfolg dem Verfall von Sitte und Glaube verdanke, und verurteilten einhellig insbesondere deren Me-thode, das Verfassen von Pamphleten,61 mit der dieser Verfall ausgenützt worden sei. Von den beiden theologischen Hauptrichtungen stand die Orthodoxie der Demokratischen Bewegung am wenigsten ablehnend gegenüber.62

Während sich der liberale Pastoralverein 1868, als die Totalrevision der Verfas-sung gegen das System Escher mit 50 000 gegen 7000 Stimmen bejaht worden war, «einmütig hinter das ‹System›»63 stellte, zerfiel die Orthodoxie in drei Gruppen. Die einen liefen zu den Demokraten über, andere, wie beispielsweise Melchior Römer64 und Georg von Wyss,65 «kollaborierten» und bloss ein kleiner Teil trat in Opposition. Obwohl Römer sich entgegen der demokratischen Linie für die Beibehaltung des Bekenntnisses einsetzte, passte er den Demokraten doch besser, so dass sie den liberalen Eugen Escher (1831–1900), Anhänger von Alfred Escher, in einer Kommission durch ihn ersetzten. Römer wurde 1869 zum Stadtpräsidenten gewählt. Gemäss Streuli war bei dessen Wahl die

«Koalition zwischen Konservativen und Demokraten gegen Eugen Escher au-genscheinlich».66 Insbesondere Georg von Wyss schätzten die Demokraten sehr.

61 Ein bekanntes Beispiel solcher Pamphlete sind die vom Juristen Friedrich Locher anonym er-schienenen Pamphlete Die Freiherren von Regensberg. Locher prangerte darin Missstände im escherschen Verwaltungs- und Justizsystem an. Der entstehenden Demokratischen Bewegung lieferte er damit politische Schlagwörter. Dennoch distanzierten sich die Demokraten von ihm wegen seines aggressiven Kampfstils. Auf Grund seiner späteren Kampfschriften verlor er sogar sein Anwaltspatent (vgl. Bürgi 2008b).

62 Vgl. Streuli 1950, 483.

63 Ebd.

64 Melchior Römer (1831–1895) absolvierte das Studium der Rechte in Zürich und Berlin und promovierte 1855 in Zürich. Er hatte verschiedene Staatsämter inne: 1857–1861 Adjunkt des Statthalteramts. 1859–1861 Mitglied des Grossen Stadtrats, 1861–1889 des Kleinen Stadtrats, 1869–1889 Stadtpräsident von Zürich, 1862–1887 liberaler Kantonsrat, 1872–1887 National-rat. Einige Jahre amtete er als Leiter der Zentrumsfraktion. 1886 erhielt er die goldene Ver-dienstmedaille der Stadt Zürich (vgl. Peter-Kubli 2012).

65 Georg von Wyss (1816–1893) trat 1839 nach der konservativen Wende in den Staatsdienst ein:

1842–1847 zweiter Staatsschreiber, 1845–1879 Mitglied des Grossen Stadtrats von Zürich, 1848–1883 Mitglied des Zürcher Grossrats bzw. Kantonsrats. Wyss gehörte zur Führungs-elite der konservativen Opposition im Kanton Zürich und war Mitglied des Eidgenössischen Vereins. Wyss war 1841 ein Gründungsmitglied der Allgemeinen Geschichtsforschenden Ge-sellschaft. Ab 1850 war er Dozent an der Universität Zürich, ab 1870 ordentlicher Professor und von 1872 bis 1874 deren Rektor (vgl. Suter 2013).

66 Streuli 1950, 484.

Er wurde von ihnen in ihre Spezialkommissionen gewählt und zum Ordinarius befördert, was die Liberalen stets verhindert hatten. Die Orthodoxie war jedoch auch in der Opposition gespalten: Während die einen zu den Liberalen hielten, gingen die andern selbstständig vor. Letztere hatten ihr Zentrum in der Evange-lischen Gesellschaft.67

Die Vertreter der orthodoxen Theologie waren der Demokratischen Bewegung nach Streuli auch in politischer Hinsicht näher als die liberalen Theologen. So setzten sich beispielweise die Orthodoxen im Jahre 1868 für das proportionale Wahlsystem ein. Insbesondere «in wirtschaftlich-sozialer Beziehung standen die Orthodoxen den Demokraten bedeutend näher als die liberalen Theologen».68 1868 wurde in einer orthodoxen Synodalproposition die liberale Wirtschafts- und Sozialpolitik angegriffen. Der Proponent erachtete als zentrale Ursache der sozia-len Notstände das liberale Volkswirtschaftssystem, das «die Anwendung morali-scher Grundsätze geradezu ausschliesse».69 Insofern aus orthodoxer Perspektive einzig die Liebe als nationalökonomisches Prinzip anerkannt worden sei, ging die Orthodoxie «mit den Demokraten einig in der Forderung nach einem staatlichen Interventionsrecht».70 Dieser Proponent forderte «die Erlassung gesetzlicher Vorschriften zum Schutze der Arbeiter und der Jugend, staatliche Schiedsgerichte bei Arbeitskonflikten und eine Staatsbank».71 In sozialer Hinsicht seien die Or-thodoxen gemäss Streuli «am stärksten ‹links›»72 gestanden.

Die liberalen Theologen hingegen stützten das liberale Repräsentativsystem.

Laut Streuli gehörten «ihre Führer, Biedermann und Schweizer, […] zum engs-ten Kreis Alfred Eschers, und als die demokratische Bewegung kam, zu deren grössten Gegnern».73 Schweizer konnte die direkte Demokratie nicht mit der christlichen Lehre von der Obrigkeit in Übereinstimmung bringen. Eine Volks-versammlung war für ihn «ein Volkshaufe, der dem organischen Volksganzen gegenübertritt».74 Schweizer erachtete den Staat als eine Willenseinheit. Dieses Ideal sah er am vollkommensten in der Monarchie erreicht. «Das in kleinen 67 Vgl. ebd.

68 Ebd., 485.

69 Ebd.

70 Ebd.

71 Ebd.

72 Ebd., 486.

73 Ebd. In seiner Funktion als Kirchenrat holte Alfred Escher im Jahre 1850 den Kopf der liberalen Theologie, Alois Biedermann, von Basel nach Zürich. Der Schleiermacherschüler Alexander Schweizer und Escher bestimmten in dieser Zeit das Verhältnis von Kirche und Staat. Hinsichtlich theologischer Angelegenheiten – auch in der Besetzung von Lehrstühlen – war Schweizer oberste Autorität. Bekannte liberale Theologen, mit denen bald nach 1845 die Pfarrstellen besetzt wurden, waren Johann Kaspar Zollinger, Johann Ludwig Spyri, Heinrich Hirzel, Fries, Hiestand u. a. (vgl. Streuli 1950, 67).

74 Alexander Schweizer zit. in Streuli 1950, 486.

Verhältnissen doppelt heftige Parteiwesen, die Wandelbarkeit der Volksgunst»75 schreckten ihn ab. Die Gefahr der Demokratie sah er «vor allem darin, dass die Masse aus Eigennutz handle und stimme, die Lasten auf die überstimmten weni-gen abwälze und auf deren Kosten leichter leben wolle –, solange dort etwas zu finden sei».76 Durch die neuen Abstimmungs- und Wahlrechte erhielt die Masse der Individuen eine Bedeutung, die ihr im Liberalismus nicht zugekommen war.

Den Gegensatz zwischen Liberalen und Demokraten ortet Streuli jedoch auch auf weltanschaulicher Ebene: «Der Liberalismus glaubte an eine der Welt zu Grunde liegende geistige Einheit. Die Demokraten suchten diese im empirischen Naturzusammenhang. Im Liberalismus war die Einheit, in der sich der Einzelne als Moment geltend zu machen hatte, vorausgesetzt. An der Schranke, die die liberale Freiheit umgab, liess sich nicht rütteln. Eine grössere Freiheit zerstörte die Voraussetzungen des Liberalismus. Der Liberalismus verlor seine Wahrheit im Augenblick, wo die Freiheit zu gross wurde».77

Die Diskussionen über den schulischen Religionsunterricht im Zusammenhang mit dem schliesslich abgelehnten Unterrichtsgesetz von 1872 müssen auf dem Hintergrund der unterschiedlichen politischen und religiösen Richtungen und deren Verflechtungen gelesen werden, um deren Vehemenz einordnen zu können.

75 Ebd., 486 f.

76 Streuli 1950, 489.

77 Ebd., 490.

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