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Religionsunterricht versus Sittenlehre

Im Dokument Religionsunterricht im Kanton Zürich (Seite 130-140)

DIE DISKUSSION UM DEN SCHULISCHEN RELIGIONSUNTERRICHT UM 1872

6 Kontroverse Themen in der Diskussion um den schulischen Religionsunterricht um 1872

6.3 Religiöse, konfessionslose oder religionslose Schule?

6.3.1 Religionsunterricht versus Sittenlehre

Obwohl die Frage, ob in der öffentlichen Schule bloss Sittenunterricht anstatt Religionsunterricht erteilt werden soll, meist nicht losgelöst von der Frage nach der Art des Religionsunterrichts (vgl. 6.3.2) erörtert wurde, werde ich in diesem Unterkapitel den erstgenannten Aspekt, das heisst die «Stellung» des schulischen Religionsunterrichtes, aus methodischen Gründen dennoch für sich betrachten.

Ich beginne mit den Antworten auf die siebersche Umfrage und werde anschlies-send die Diskussionen im Zusammenhang mit dem Unterrichtsgesetzentwurf darstellen.

Da die erste Teilfrage von Frage vier der sieberschen Umfrage die «Stellung»

des schulischen Religionsunterrichtes im Blick hatte,54 ist zu diesem Aspekt der Diskussion entsprechend viel Quellenmaterial vorhanden. Auf der einen Seite des Meinungsspektrums befinden sich diejenigen, die die Beibehaltung des Religionsunterrichts in der bisherigen Form wünschten. Dies allerdings mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Begründungen. In den Stellungnahmen der einen wurde explizit ein christlicher Religionsunterricht gefordert.55 Die Gemeindeschulpflege von Richterswil schrieb beispielsweise: «Der

51 Vgl. Amtlicher Auszug aus Protokollen der Synode der Zürcherischen Geistlichkeit, 15. 11. 1871; vgl. auch Der Landbote, 19. 11. 1871.

52 Vgl. Gesetz über das gesammte Unterrichtswesen des Kantons Zürich, 23. Dezember 1859.

53 Gesetz betreffend das gesammte Unterrichtswesen des Kantons Zürich (Antrag des Regie-rungsrathes), § 14, veröffentlicht in Der Landbote, 17. 10. 1871.

54 Der erste Teil der Frage 4 der sieberschen Umfrage lautet: «Ist im Hinblick auf die Bestim-mungen des Art. 63 der Verfassung die Stellung des Religionsunterrichtes der Schule zu ändern?» (Bekanntmachung der Erziehungsdirektion vom 22. November 1869).

55 Vgl. Schulpflege Stammheim (Bezirk Andelfingen); Schulpflege Hütten (Bezirk Horgen), Eingaben und Antworten der Bezirksschulpflegen 1870, StAZH, U 8.1.1a.

unterricht soll & darf in keinem Falle aus der Schule entfernt werden, derselbe soll auf gesunden christlichen Grundsätzen ruhen».56 Ähnlich klingt die Ver-nehmlassungsantwort der Schulpflege von Uetikon, einer Richterswil gegen-überliegenden Seegemeinde: «Wir empfehlen für unsere Volksschule, deren Rayon mit demjenigen unserer evang. reform. Landeskirche zusammenfällt, einen gesunden, christlichen Religionsunterricht auf biblischer Grundlage, un-gefähr in bisheriger Weise.»57

Die Schulpflege Stammheim spezifizierte ihre Forderung nach einem christ-lichen Religionsunterricht mit der Art, wie dieser erteilt werden soll: «Der christliche Religionsunterricht als Unterricht in der biblischen Geschichte ist als unerlässliches Bildungsmittel beizubehalten.»58 Unter den Befürwortern der Bei-behaltung des schulischen Religionsunterrichts war die Meinung verbreitet, dass dieser Unterricht kein dogmatisch-konfessioneller sein sollte. Dieser Aspekt der Diskussion wird im folgenden Unterkapitel 6.3.2 noch eigens erörtert. Als Ar-gument für die Beibehaltung des schulischen Religionsunterrichts wurde in den Antworten auf Siebers Umfrage vielfach Gemütsbildung genannt. So schrieb beispielsweise die Gemeindeschulpflege Schönenberg: «Der Religionsunterricht ist nach unsrem dafürhalten auf allen Stufen beizubehalten. Denn religiöses Leben ist ohne religiösen Unterricht nicht möglich. Neben dem Verstand wird namentlich dem Gemüthe durch denselben die gehörige Nahrung zugeführt.»59 Die Gemeinde- und Sekundarschulpflege Niederhasli wünschte ebenfalls «die bisherige Stellung des Religionsunterrichtes der Schule» mit der Begründung:

«Dieser Unterricht ist den Lehrern lieb, damit kann man sehr auf das Gemüth der Kinder einwirken.»60 Auch das Schulkapitel Regensberg sprach sich «für Beibehaltung des Religionsunterrichtes als obligat. Fach der Volksschule aus», da dieser «zur Gemüthsbildung nöthig» sei und die «Schule durch Beseitigung dieses Faches ein fruchtsames Element verlieren»61 würde. Ein weiteres Argu-ment für die Beibehaltung des schulischen Religionsunterrichts kam von der Gemeindeschulpflege Dorf: «Wir würden sehr bedauern, wenn der Religions-unterricht aus der Primarschule entfernt würde, indem dadurch die Schule beim Volke an Kredit verlöre, u. der Sectirerei in die Hand gearbeitet würde.»62

56 Vgl. Gemeindeschulpflege Richterswil (Bezirk Horgen), Eingaben und Antworten der Be-zirksschulpflegen 1870, StAZH, U 8.1.1a.

57 Vgl. Schulpflege Uetikon (Bezirk Meilen), ebd.

58 Vgl. Schulpflege Stammheim (Bezirk Andelfingen) und Schulpflege Hütten (Bezirk Horgen), 59 Vgl. Gemeindeschulpflege Schönenberg (Bezirk Horgen), ebd.ebd.

60 Vgl. Gemeinde- und Sekundarschulpflege Niederhasli (Bezirk Regensberg), ebd.

61 Vgl. Schulkapitel Regensberg (Bezirk Regensberg), ebd.

62 Vgl. Gemeindeschulpflege Dorf (Bezirk Andelfingen), ebd.

Ich vermute, dass diese Schulpflege die Gründung von privaten konfessionellen Schulen befürchtete, sollte in der öffentlichen Schule kein Religionsunterricht mehr angeboten werden. Man scheint hier offenbar geglaubt oder gehofft zu haben, mit dem schulischen Religionsunterricht einer möglichen strukturellen religiösen Pluralisierung entgegenwirken zu können. Der schulische Religions-unterricht war Angehörigen von Freikirchen tatsächlich ein Dorn im Auge, weil die in diesem Unterricht vermittelte religiöse Überzeugung nicht der ihren entsprach. Als Beispiel sei hier Herr J. J. Hofer63 erwähnt, der von der Gemeinde schulpflege Dorf vermutlich als Sektierer angeschaut worden wäre.

Hofer stellte den Antrag, den Religionsunterricht entweder gänzlich wegzulas-sen oder einen Artikel ins Gesetz aufzunehmen, gemäss dem Eltern, «welche mit dem Religionsunterrichte, der in der Schule ertheilt wird, nicht übereinstimmen, nicht gehalten sind, ihre Kinder in diesen Unterricht zu schiken.»64 Hofer pochte auf das Recht der Eltern, ihre Kinder gemäss ihren eigenen religiösen Überzeugungen zu erziehen, «vorausgesetzt, dass diese Lehre nicht unsittlich oder staatsgefährlich sei, z. B. nicht mormonisch oder jesuitisch».65 Auch der Verein jüngerer Lehrer stellte den Antrag, den Religionsunterricht aus der Primarschule zu entfernen. Zum einen aus Rücksicht auf Artikel 63 der neuen Kantonsverfassung, da sie es als unmöglich erachteten, «von diesem Unterricht all das fern zu halten, was dogmatischen Charakter hat». Zum andern «im Inter-esse des Religionsunterrichtes überhaupt, der naturgemäss erst bei einer reiferen Altersstufe beginnen soll».66

Während es Hofer nicht primär um die Abschaffung des schulischen Religions-unterrichts ging, sondern vielmehr um elterliche Freiheitsrechte, das heisst um das Recht, die Kinder nach den eigenen religiösen Vorstellungen zu erziehen – und somit das Recht, die eigenen Kinder dem schulischen Religionsunterricht zu entziehen (vgl. auch die Diskussion um das Obligatorium im Unterkapitel 6.4), befanden sich auf der anderen Seite des Meinungsspektrums diejenigen, die den Religionsunterricht in der bisherigen Form abschaffen wollten zu Gunsten eines

«sittlichen Unterrichts». Die Schulpflege Grüningen erachtete beispielsweise

63 J. J. Hofer schreibt zu Beginn seines Antrags: «Wie Ihnen bereits bekannt ist, bin ich in religiö-ser Richtung von der Staatskirche getrennt und habe, von dem Rechte des Art. 63 der Verfas-sung Gebrauch machend, auch meine Kinder dem Religionsunterrichte der Schule entzogen, welches Recht mir aber von der Schulbehörde bestritten wurde, weshalb gegenwärtig ein Recurs bei dem hohen Erziehungsrathe anhängig ist.» (J. J. Hofer, Eingaben und Antworten von Privaten betreffend Religionsunterricht, StAZH, U 8.1.4).

64 Ebd.

65 Ebd.

66 Verein jüngerer Lehrer, Zürich, 8. Febr. 1870, Eingaben und Antworten von Vereinen, StAZH, U 8.1.3.

«Bildung zu wahrer Sittlichkeit»67 als Ziel des Religionsunterrichts. Diese Forde-rung gründete auf der Annahme, dass sittliche Bildung vom Dogma unabhängig sei. Die Gemeindeschulpflege Wädenswil forderte, dass «der Religionsunterricht an geschichtlichen Stoff anschliessend die ethischen Grundwahrheiten enthalten [solle], wie sie namentlich in so reichem Masse und erhabener Weise von unserm göttlichen Meister uns überliefert worden sind».68

Nach Ansicht von Lehrer Rüegg war unter Religionsunterricht «heutzutage sittliche Anregung, Erziehung zum Schönen & Guten zu verstehen». Die Lehre von Jesus als Gottessohn und die Geschichte seines Opfertodes bildeten seiner Meinung nach «eine Anschauung, die nicht mehr als allgemein gelten und kaum für das heranwachsende Geschlecht noch als passender Bildungsstoff gelten kann». Rüegg befasste sich auch mit der Frage, ob es dazu eines besonderen Un-terrichtsfaches bedürfe und verneinte diese Frage: «Nein! Religion ist in Allem

& soll in Allem sein. Religion waltet in der Schweizer-, wie in der allgemeinen Geschichte. Erzählen sie nicht Thaten des Edelmuthes, der kindlichen Liebe, der Überzeugungstreue, der Barmherzigkeit, der Aufopferung, des biedersten Bruderseins und ist der Geist, der in solchen Thatsachen sich ausspricht, nicht Religion? Läugnen lässt sich aber nicht, dass viele der wirksamsten Erzählungen doch in den Rahmen der eigentlichen Geschichte nicht aufgenommen werden können & dass man sittlich bildende & eigentlich geschichtliche Erzählungen nicht identifizieren kann. Ebenso wird eine Auswahl schöner Gedichte für sitt-liche Bildung von mächtigem Einflusse sein & nach meiner Ansicht wärs somit eine Sammlung solcher Erzählungen & Gedichte unter dem Titel ‹Sittlicher Unterricht› an die Stelle des Religionsunterrichtes zu setzen.»69

Insofern Rüegg von «Sittlichkeit» als etwas allgemein Menschlichem ausging, klingt sein Plädoyer sehr ähnlich wie dasjenige von Ferdinand Buisson. Es muss hier jedoch offenbleiben, ob Rüegg von Buisson beeinflusst war, der in einem Vortrag forderte, die biblische Geschichte abzuschaffen und sie «durch die Geschichte der Menschheit»70 zu ersetzen. Gegen einen Unterricht, in dem bloss moralische Geschichten behandelt würden, gab es freilich Gegenstimmen.

Die Gemeinde- und Sekundarschulpflege Bauma inklusive sämtlicher Lehrer der Gemeinde äusserten ihre Überzeugung, dass das «rein Dogmatische» nicht in die Volksschule, «sondern auf eine höhere Stufe» gehöre. Dennoch seien «biblische 67 Gemeindeschulpflege Grüningen (Bezirk Hinwil), Eingaben und Antworten der

Bezirks-schulpflegen 1870, StAZH, U 8.1.1a.

68 Gemeindeschulpflege Wädenswil (Bezirk Horgen), Eingaben und Antworten der Bezirks-schulpflegen 1870, StAZH, U 8.1.1a.

69 Lehrer Rüegg, Enge, dat. 1. Febr. 1870. Eingaben und Antworten von Privaten 1870, StAZH, U 8.1.4.

70 Buisson 1869a, 86. In Unterkapitel 6.6.2 wird die diesbezügliche Position Buissons noch genauer erläutert.

Geschichten, pädagogisch bearbeitet & zweckmässig ausgewählt[,] bloss morali-schen Erzählungen vorzuziehen».71

Ähnlich facettenreich verlief fast zwei Jahre nach der sieberschen Umfrage die Diskussion über den sieberschen Unterrichtsgesetzentwurf. Die zürcherische Geistlichkeit sprach sich in ihrer Synode trotz ihrer heterogenen Zusammen-setzung einmütig gegen «die Beseitigung des Religions-Unterrichtes»72 aus und beschloss eine Eingabe an den Kantonsrat. Gründe für die Beseitigung des Religionsunterrichts seien von den Behörden nicht genannt worden, sie seien aber unschwer zu erkennen, heisst es in der Eingabe der Kirchensynode. Zum einen liege es «in dem Bestreben der Neuzeit, den Staat mit der Schule von der Kirche zu trennen», zum andern «an dem allgemein anerkannten Prinzip der Glaubensfreiheit, wonach zum Besuche des Religionsunterrichtes kein Kind gesetzlich verpflichtet werden»73 könne. Doch keiner dieser Gründe nötigte aus Sicht der Kirchensynode zu den Konsequenzen, die im Entwurf für das Unter-richtsgesetz gezogen worden waren. Die «religiöse Anlage» sei «eine allgemein menschliche und soll wie alle übrigen edeln Anlagen der Kindesnatur von der Schule angefasst und entwickelt werden. Der Unterricht, der dieser Anlage entspricht, arbeitet daher nicht etwa bloss der Kirche vor, sondern bildet einen wesentlichen Faktor des Volksschulunterrichtes überhaupt und ist sowohl die innerste Vertiefung als die schönste Weihe desselben. Auch das bürgerliche und humane Interesse fordern ihn».74

Als Gewährsleute für diese These werden Pestalozzi und Scherr angeführt, die den «Religionsunterricht als die Krone alles Volksschulunterrichtes»75 bezeich-net hätten, obwohl beide nicht im Sinne gehabt hätten, für die Kirche zu arbei-ten. Des Weiteren wird auf den Kanton Aargau verwiesen, in dem «die Trennung von Schule und Kirche aufs Gründlichste durchgeführt worden» sei und der

«dennoch die Einführung eines für die gesammte Jugend ohne Rücksicht auf die Konfession geeigneten Religionsunterrichtes in sämmtlichen Schulen statuirt»76 habe. Es sei vorauszusehen, dass auch der geplante Sittlichkeitsunterricht nicht ohne religiöse Elemente auskommen könne und dass in die Lehrmittel für diesen Unterricht auch biblische Stoffe aufgenommen würden. Deshalb gebühre «es

71 Gemeinde- und Sekundarschulpflege Bauma (Bezirk Pfäffikon), Eingaben und Antworten der Bezirksschulpflegen 1870, StAZH, U 8.1.1a.

72 Eingabe der Kirchensynode zu dem Gesetzesentwurf betreffend das Unterrichtswesen, 11. Dezember 1871, 1.

73 Ebd.

74 Ebd., 2.

75 Ebd.

76 Ebd.

sich, der Sache den richtigen Namen zu geben und grundsätzlich den Religions-unterricht als Lehrfach anzuerkennen».77

Die Kirchensynode erwähnte in ihrer Eingabe auch das Recht der Glaubensfrei-heit, das als Argument gegen den Religionsunterricht angeführt werde. Von den Verfassern des Unterrichtsgesetzentwurfes werde offenbar befürchtet, dass es zu

«einer verderblichen Scheidung unter den Kindern und einer nicht zu duldenden ungleichen Stellung derselben zur Schule» komme, weil auf Grund dieses Rechts niemand zum Religionsunterricht gezwungen werden könne. Man glaube nun, diesen befürchteten Missstand dadurch beseitigen zu können, dass das religiöse Element im Unterricht zu Gunsten des sittlichen beseitigt werde, und somit

«alle Kinder zur Annahme dieses veränderten Unterrichtes verpflichten» zu können. Dagegen wandte die Kirchensynode ein, dass im Kanton bisher nur we-nige Kinder dem Religionsunterricht ferngeblieben seien und «die Einführung einer blossen Sittenlehre» diesen Umstand eher noch verstärken als vermindern würde. Abgesehen davon sei in der Verfassung «neben der Glaubens- auch die Gewissensfreiheit» festgeschrieben «und da der Inhalt der Sittenlehre ebenso sehr das Gewissen in Anspruch nimmt, wie der Inhalt der Religionslehre den Glauben, so ist von nun an weder in der einen noch in der andern Richtung ein staatlicher Zwang ausführbar».78

Die Kirchensynode schien in ihrer Eingabe keineswegs zu negieren, dass der schulische Religionsunterricht mit der Glaubensfreiheit konfligieren könne.

Aber ebensowenig schien sie davon auszugehen, dass ein sogenannt reiner Sittenunterricht das Gewissen nicht tangiere. Somit – so die Argumentation der Kirchensynode – müsste mit Berufung auf das Recht auf Gewissensfreiheit auch eine Dispens von der Sittenlehre verlangt werden können.

Die Kirchensynode unterbreitete dem Kantonsrat in ihrer Eingabe drei Vor-schläge: 1) Für die Primarschüler vom 1.–6. Schuljahr sollte es in Paragraph 14 nicht «Anregungen und Belehrungen aus dem sittlichen und geistigen Lebens»

heissen, sondern «Anregungen und Belehrungen aus dem sittlich-religiösen Gebiete», wobei explizit noch angefügt wurde: «immerhin mit Vorbehalt des Art. 63 der Staatsverfassung».79 2) In den 7.–9. Klassen (Primarschule, Sekundar-schule und Gymnasium) sollte die «Ertheilung des Religionsunterrichtes durch die Kirche im Anschlusse an den Schulorganismus vom Unterrichtsgesetze ausdrücklich ermöglicht»80 werden. Dies anstelle der im Entwurf geforderten

77 Ebd.

78 Ebd., 2 f.

79 Ebd., 5; vgl. Amtlicher Auszug aus Protokollen der Synode der Zürcherischen Geistlichkeit, 15. 11. 1871, 36.

80 Eingabe der Kirchensynode zu dem Gesetzesentwurf betreffend das Unterrichtswesen, 11. Dezember 1871, 5.

Sittenlehre in der Primar- und Sekundarschule (vgl. Paragraphen 14,1 und 25,1) und der Ethik im Gymnasium (vgl. Paragraphen 71 und 7681). 3) In Paragraph 2 sollten die Worte «sittlich guten Menschen» durch «sittlich religiösen Men-schen»82 ersetzt werden.

In der Kantonsratsdebatte über den Entwurf des Unterrichtsgesetzes Anfang Januar 1872 begründete Regierungsrat Sieber die Rede von «sittlich gut» an-statt «sittlich religiös» damit, dass man «jeden Anstoss bei anders Gläubigen vermeiden und dadurch der Verfassung gerecht werden»83 wolle. Folgt man der Berichterstattung in der NZZ und dem Landboten, nahm Sieber jedoch nicht Bezug auf das von der Kirchensynode vorgebrachte Argument, dass auch ein

‹reiner› Sittenunterricht die Gewissensfreiheit tangieren könne.

Zur Verteidigung des Vorschlags der Kirchensynode hinsichtlich der Formulie-rung von Lemma 1 des Paragraphen 14 (Anregungen und BelehFormulie-rungen aus dem Gebiete des geistigen und sittlichen Lebens) stellte Pfarrer Scheller tags darauf in der Kantonsratsdebatte vom 10. Januar 1872 die Unabhängigkeit von Sittlichkeit und Religion als fraglich hin. Zum einen monierte er, dass «Belehrungen aus dem Gebiete des geistigen Lebens» zu geben, Aufgabe jedes Unterrichtsfaches sei und insbesondere des Faches Geschichte. Zum andern liege das Hauptgewicht auf dem Ausdruck «sittlich», was zeige, dass man «eine rein abstrakte Sittenlehre vor-aus[setze]». Eine solche sei aber «in solcher Form ein Unding». Gemäss Scheller gibt es «keine von allem Religiösen losgelöste Sittenlehre, sie wurzelt nun einmal überall in einer bestimmten religiösen Form. Man entgegnet vielleicht, es gebe doch sittlich gute Menschen, ohne bestimmte religiöse Anschauung zu haben;

das Faktum ist richtig, nicht aber der Schluss. Dass es solche Menschen gibt, beweist noch keineswegs, dass Sittlichkeit der religiösen Grundlage entbehren könne. Auf die Art jedes Menschen wirken Tausende von Faktoren ein, die nicht von seinem Willen abhängig sind, und so haben auch jene, wenn schon selbst zu keiner bestimmten Religion oder Konfession zählend, sich doch zahlreichen religiösen Einwirkungen nicht entziehen können.»84

Scheller stellte als Fazit den Antrag, entweder die Religionslehre anstatt der Sittenlehre zu belassen oder dann diese Passage, das heisst Lemma 1 von Para-graph 14, ganz aus dem Entwurf zu streichen. Trotz seiner Kritik vertrat Scheller

81 In der Eingabe der Kirchensynode wird bezüglich des Ethikunterrichtes explizit auf den § 76 verwiesen, der die Lehrgegenstände des Realgymnasiums aufzählt. Gemäss des im Landboten vom 19. 10. 1871 veröffentlichten Entwurfs, steht in § 76 nichts von Ethik. Das Fach Ethik wird nur in § 71, der sich auf das Literargymnasium bezieht, erwähnt.

82 Eingabe der Kirchensynode zu dem Gesetzesentwurf betreffend das Unterrichtswesen, 11. Dezember 1871, 5.

83 NZZ, 9. 1. 1872; vgl. auch Der Landbote, 10. 1. 1872.

84 NZZ, 11. 1. 1872.

die Meinung, dass die Organisation des Religionsunterrichts Sache der Schule und nicht der Kirche sei.

Diakon Spyri verteidigte in seiner Schrift Der Religionsunterricht und der Ent-wurf des neuen Schulgesetzes des Kantons Zürich. Ein Wort zur Verständigung ebenfalls den Änderungsvorschlag der Kirchensynode, die folgende Passage forderte: «Anregungen und Belehrungen aus dem Gebiete des religiösen und sittlichen Lebens».85 Zwar könne er auf dem Hintergrund der in Paragraph 63 der Kantonsverfassung verankerten Glaubens- und Gewissensfreiheit die Mo-tivation der Verfasser des Unterrichtsgesetzentwurfs verstehen, den Religions-unterricht in der Schule mit Sittenlehre zu ersetzen, «die losgelöst von aller Religion, dasjenige enthalten sollte, was allen Religionen gemeinsam als gute, edle Sitte sich ergebe, was daher Niemanden in seiner religiösen besonderen Auffassung störe, und das daher auch als Gemeingut für alle Religionen obliga-torisch erklärt werde könne».86 Gegen eine solche Argumentation wandte Spyri nun allerdings ein, dass es nicht bloss auf sittlichem Gebiet, «sondern auch auf dem Glaubensgebiete Berührungen» gebe und dass ein guter Religions-lehrer auf den höhern Stufen sowohl auf diesbezügliche Gemeinsamkeiten als auch auf Unterschiede aufmerksam machen müsse. Während in der Eingabe der Kirchensynode die Verschiedenheit menschlicher Auffassungen sowohl in religiöser wie auch in sittlicher Hinsicht betont wurde, legte Spyri in seinem Traktat den Fokus auf religiöse wie auch sittliche Gemeinsamkeiten. Wie Pfarrer Scheller war auch Spyri der Überzeugung, dass sich Religion und Sittenlehre nicht voneinander trennen lassen: «Die letztere kann nur aus der Religion aufgebaut werden. Die Religion bildet den Grund und innersten Kern aller Sitte. So ist denn auch die Sittenlehre, die im Entwurf vorgeschlagen wird, nichts Anderes als Religionsunterricht».87

Den blossen Sittlichkeitsunterricht kritisierte er noch auf eine andere Weise. Er erachtete die Idee, «durch eine Sammlung von Lebensbildern von Erfindern den nöthigen Stoff» für den Sittenunterricht zu liefern, als problematisch, da dieser

«für 9 Jahre nicht nur zu beschränkt ist, sondern seinen Zweck ganz verfehlt;

denn eine Geschichte der Erfindungen ist für diese Altersstufen viel zu hoch und das Sittliche, auf das es für die Jugend ankommt, ist in allen diesen Lebensbil-dern dasselbe, so dass, wer ein paar gelesen hat, nach der sittlichen Seite hin alle kennt.»88

Ein Einsender, der Diakon Spyris Traktat in der NZZ besprach, vertrat die Ansicht, dass angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit der Einwohner des 85 Spyri 1872, 5, Hervorhebung R. K.

86 Ebd.

87 Ebd.

88 Ebd.

Kantons Protestanten seien – gemäss Verfasser waren von 285 876 Einwohnern 263 785 protestantischer Konfession –, «eine vollständige Scheidung von Kirche und Schule nicht indizirt, zudem fast unmöglich [sei], da der weitaus grösste Theil der Lehrer ja zu jenen Protestanten gehört».89 Der Einsender pflichtete Spyri bei, dass der Gesetzesentwurf auf eine «neutrale Sittenlehre» abziele. Da-gegen wandte der Einsender ein, dass auch wenn das entsprechende Lehrmittel für diesen Zweck verfasst werde, «bei seiner Anwendung, wenn der Lehrer überhaupt religiös ist, daraus ein Religionsunterricht von selbst werden»90 würde. Seiner Ansicht nach «stehen auch die Lehrer soweit sie religiöse Interes-sen haben, nicht ausserhalb der Strömungen der Zeit, und werden ihre Ansichten der Lehrmeinungen sich unwillkürlich geltend machen». Aus diesem Grund könne man anders gesinnte Eltern nicht zwingen, ihre Kinder in diesen Un-terricht zu schicken, ebenso wenig «als wenn derselbe von Geistlichen ertheilt würde».91 Dieser Einsender ging also davon aus, dass wenn der Sittenunterricht von einem religiösen Lehrer erteilt wird, dieser notwendigerweise zu einem Religionsunterricht mutiere. Es scheint, als ob der Einsender nicht an die

Kantons Protestanten seien – gemäss Verfasser waren von 285 876 Einwohnern 263 785 protestantischer Konfession –, «eine vollständige Scheidung von Kirche und Schule nicht indizirt, zudem fast unmöglich [sei], da der weitaus grösste Theil der Lehrer ja zu jenen Protestanten gehört».89 Der Einsender pflichtete Spyri bei, dass der Gesetzesentwurf auf eine «neutrale Sittenlehre» abziele. Da-gegen wandte der Einsender ein, dass auch wenn das entsprechende Lehrmittel für diesen Zweck verfasst werde, «bei seiner Anwendung, wenn der Lehrer überhaupt religiös ist, daraus ein Religionsunterricht von selbst werden»90 würde. Seiner Ansicht nach «stehen auch die Lehrer soweit sie religiöse Interes-sen haben, nicht ausserhalb der Strömungen der Zeit, und werden ihre Ansichten der Lehrmeinungen sich unwillkürlich geltend machen». Aus diesem Grund könne man anders gesinnte Eltern nicht zwingen, ihre Kinder in diesen Un-terricht zu schicken, ebenso wenig «als wenn derselbe von Geistlichen ertheilt würde».91 Dieser Einsender ging also davon aus, dass wenn der Sittenunterricht von einem religiösen Lehrer erteilt wird, dieser notwendigerweise zu einem Religionsunterricht mutiere. Es scheint, als ob der Einsender nicht an die

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