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Kontroverse Altes Testament

Im Dokument Religionsunterricht im Kanton Zürich (Seite 170-175)

DIE DISKUSSION UM DEN SCHULISCHEN RELIGIONSUNTERRICHT UM 1872

6 Kontroverse Themen in der Diskussion um den schulischen Religionsunterricht um 1872

6.6 Was soll im schulischen Religionsunterricht vermittelt werden?

6.6.2 Kontroverse Altes Testament

Hinsichtlich des schulischen Religionsunterrichts stellte sich nicht bloss die Frage, ob neben den biblischen Schriften auch ausserbiblische Schriften zu behandeln seien. Es war bereits umstritten, welche der biblischen Schriften im Schulunterricht thematisiert werden sollten. In seiner Proposition an der Geistlichkeitssynode im November 1871 forderte Pfarrer Wachter, dass die Bibel als Lehrmittel gebraucht werde, «welche ja der Jugend bekannt und lieb gemacht werden sollte, und bei welcher allein volle Freiheit der Bewe-gung für den Lehrer möglich sei». Er betonte jedoch, dass er eine in einem bestimmten Sinne zensurierte Bibel meine: eine «Jugend- und Volksbibel, in welcher das Anstössige und bloss Antiquarische oder grausame Bilder und alles für uns ganz Unverständliche weggelassen sei».215 Welche Teile aus seiner Sicht konkret weggelassen werden müssten, darüber äusserte er sich in seiner Proposition nicht.

Diesbezüglich etwas konkreter war die Schulpflege Schmidrüti-Sitzberg in ihrer Stellungnahme zu Frage 4 des sieberschen Fragebogens. Die Mehrheit der Schul-pflegemitglieder wünschte, «es möchte die bibl. Geschichte, namentlich des alten Testaments, beziehungsweise die Geschichte von Israel, als Unterrichtsfach in den beiden ersten Abtheilungen, also den 6 ersten Jahresklassen unbeschadet

214 Volksblatt für die reformirte Kirche der Schweiz, 26. 10. 1872, 198.

215 Amtlicher Auszug aus Protokollen der Synode der Zürcherischen Geistlichkeit, 14. 11. 1871.

der religiösen Unterweisung wegfallen».216 Bloss eine Minderheit habe ihre Bei behaltung gewünscht. Aus Sicht der Mehrheit dieser Schulpflege sollten also nicht bloss einzelne «anstössige» Geschichten weggelassen werden, sondern gleich das gesamte Alte Testament. Konrad Furrer argumentierte in seinem Trak-tat genau gegen diejenigen Stimmen, die «den Werth des alten Testamentes für den Jugendunterricht auf’s entschiedenste bestritten, ja dasselbe als ein für die Jugend verderbliches Buch bezeichne[n], indem es zahllose Stellen darin gebe, die bald gegen die moderne Weltanschauung, bald gegen ein geläutertes ethi-sches und religiöses Bewusstsein verstossen».217 Nach Ansicht Furrers betrifft diese Polemik jedoch «im Grunde nur eine rohe Behandlung der ehrwürdigen Schriftsammlung, eine scholastische Exegese, die hartnäckig wenigstens die kanonischen Bücher fast in jedem Buchstaben als gut und wahr vertheidigen will und auf solche Weise allerdings im bedauerlichsten Masse dogmatisch-confes-sionell verfährt».218

Das Alte Testament war für Furrer ganz klar «kein Kinderbuch». Es bedürfe

«eines kundigen Meisters, um das aus demselben herauszuheben, was den kindlichen Geist in seiner Gemeinschaft mit Gott befördern kann».219 Wie Pfarrer Wachter erachtete auch Furrer es als wichtig, dass eine Auswahl an alttestamentarischen Schriften getroffen werde und man für die Jugend alles ausscheide, «was nur ein antiquarisches oder zeitgeschichtliches, aber kein unmittelbar sittlich-religiöses Interesse bietet» sowie, was «von den confes-sionellen und dogmatischen Parteien»220 umstritten sei. Dieser Zensur zum Opfer fallen würden bei Furrer beispielsweise die 613 Gebote und Satzungen im Pentateuch, die Geschlechtsregister oder die Beschreibung der Herrlichkeiten des Tempels Salomons; ebenso zum Beispiel die beiden Schöpfungsgeschichten, denn diese müssten aus seiner Sicht symbolisch gedeutet werden, was aber denen gegenüber ein Affront wäre, die an die Erschaffung der Welt in sechs Tagen glaubten oder aus Adams Sündenfall die Erbsündenlehre ableiteten. Problemlos und ohne symbolische Deutung könnten nach Furrer die Geschichten Josephs, Moses’ – allerdings ohne die Wundergeschichten –, Josuas, Gideons, Ruths, Samuels oder auch Davids erzählt werden. Furrer war der Überzeugung, dass diese Geschichten «bei pädagogisch weiser Behandlung» ethisch und religiös wirksame Momente erzeugen könnten. Dies gerade deshalb, weil sie «keine Heiligenbilder» zeigen, sondern Menschen, «in denen neben vielen Schatten

216 Schulpflege Schmidrüti-Sitzberg (Bezirk Winterthur), Eingaben und Antworten der Bezirks-schulpflegen 1870, StAZH, U 8.1.1a.

217 Furrer 1872, 19.

218 Ebd.

219 Ebd., 21.

220 Ebd.

der Endlichkeit unvergänglich lichte Züge inniger Gottesgemeinschaft sich ausgewirkt haben».221

Furrer versuchte mit viel Engagement und über viele Seiten hinweg seine Leserschaft davon zu überzeugen, dass es ein grosses Unrecht wäre, das Alte Testament aus einem konfessionslosen Religionsunterricht zu verbannen. Den-noch macht er am Ende seiner diesbezüglichen Ausführungen deutlich, dass er als «das höchste Object alles religiösen Unterrichtes» das Evangelium Jesu Christi erachte: «Wir sollen die Gesinnung des grossen Meisters in die Kinder einpflanzen, dass sie Gott erfahren, wie er, dass sie, ob auch in weit schwächerer Weise, so religiös empfinden, so glauben, lieben, hoffen, wie er gethan. […]

Gott ein Vater mit allen Attributen väterlicher Macht, Weisheit und Gnade, der Mensch sein Kind mit aller Verpflichtung zu rückhaltlosem Vertrauen, absoluter Demuth, unauslöschlicher tiefster Liebe.»222

Im Anschluss an Jesus Christus sollte gemäss Furrer auch Paulus erwähnt werden. Der Fokus sei dabei jedoch weniger auf dessen Theologie zu richten.

Vielmehr sollte ein psychologisches Verständnis für seine seelischen Kämpfe erzielt werden, da es «doch dieselben sittlich-religiösen Probleme, mit deren Lösung ein jeder nach Gottes Frieden strebende Mensch zu ringen» habe.

Idealismus und Gewissensangst nennt Furrer als Beispiele und stellt Paulus dar als «furchtlosen Streiter für eine Religion der Freiheit der Gesinnungstreue, des Universalismus».223

In deutlichem Kontrast zu Furrers Plädoyer für die Behandlung von biblischen Geschichten im konfessionslosen Religionsunterricht stand Ferdinand Buisson, der in einem in Neuenburg gehaltenen Vortrag mit dem Titel Die biblische Geschichte in der Volksschule für die gänzliche Abschaffung von Biblischer Geschichte in der Volksschule plädierte.224 Biblische Geschichten beeinflussten die kindliche Entwicklung des Geistes wie auch des Gewissens negativ. Diesen negativen Einfluss auf die Entwicklung des Geistes begründete Buisson damit, dass die biblischen Geschichten die Kinder nicht dazu führten, Gott «in den Gesetzen der physischen oder sittlichen Welt, nicht in der ewigen Harmonie der Gestirne, nicht in dem wunderbaren Bau der Blume oder des Insekts, nicht in dem Schauspiel der grossen Scenen des Weltalls [zu suchen], sondern in Gott 221 Ebd., 24.

222 Ebd., 28.

223 Ebd., 30.

224 Ferdinand Buisson hat sich zwar nicht direkt an der zürcherischen Diskussion um den schu-lischen Religionsunterricht im Zusammenhang mit dem geplanten neuen Unterrichtsgesetz beteiligt. Sein Vortrag, den er im Jahre 1869 gehalten hatte, wurde jedoch sehr bald ins Deut-sche übersetzt und in deutschsprachigen Zeitungen rezipiert (vgl. Unterkapitel 2.4.1). Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass sich auch Konrad Furrer mit diesem Vortrag beschäftigt hatte.

weiss welchen Störungen, in Erschütterungen, welche, wenn sie stattgefunden, nur den Mangel an Vorsicht, die göttliche Wandelbarkeit und Ohnmacht bewie-sen hätten».225

Mit den biblischen Geschichten werde in den Kindern noch mehr angeregt, was ohnehin «nur zu üppig schon wuchert: Phantasien, Hirngespinnste, Un-kenntnis der Ursachen, Unbekümmertheit um die Regel, die Furcht anstatt des Gedankens, den Glauben statt des Wissens».226 Zugleich werde vermittelt, dass wer diese «Erzählungen, Doktrinen und Wunder» bezweifle, Gotteslästerung begehe und die Verdammnis verdiene. Als zentrales Erziehungsziel erachtete Buisson die Vermittlung der Vorstellung «von der Einheit, der Gleichheit, der Verwandtschaft der Menschen aller Racen und aller Zeiten, aller Klimate und aller Farben».227 Die Geschichte von der Auserwählung des Volkes Israel sah er aber damit in unauflöslicher Spannung stehend.

Die durch die biblischen Geschichten vermittelten Lehren beeinflussten nach Buisson auch die Gewissensentwicklung negativ. Als problematisch erachtete er beispielsweise «die Lehre von der Gnade, von der Auserwählung, der Prä-destination, dem göttlichen Recht».228 Die Auserwählung des Volkes Israel habe Gott «als besonderes Werkzeug der Verbindung mit der Menschheit» gedient.

Einzig sein freier Wille habe ihn dazu veranlasst. Bis zu Moses werde Gott als derjenige dargestellt, der zum Schutz der Seinen alles tue und dies «sogar gegen die Forderungen der elementarsten Moral. Er lässt seine Auserwählten überall und stets siegreich hervorgehen, sie mögen im Recht oder Unrecht sein».229 Zur Illustration nennt er die Geschichte von Abraham, der in Ägypten seine Frau Sara als seine Schwester ausgab, damit er wegen ihrer Schönheit nicht getötet würde, oder die Geschichte von Jakob, der alle verdrängt, die «nach Recht und Gerechtigkeit den Vorrang vor ihm haben müssten».230 Als moralisch höchst an-stössig erwähnt Buisson die Geschichte der Opferung Isaaks. Diese Geschichte vermittle, dass man zwischen Gott und dem Sittengesetz unterscheiden müsse:

«Die Voraussetzung, dass es einen ‹Willen Gottes› geben, dem man den Vorzug vor der Stimme des Gewissens geben müsse, sollte man sich hüten, im Gemüthe des Kindes aufkommen zu lassen, wenn man aus ihm nicht einen dunkeln Schwärmer, sondern einen redlichen Menschen und einen wahren Christen ma-chen will. Der blinde Gehorsam gegen Gebote Gottes, die nicht vollständig mit denen der Pflicht übereinstimmen, das ist grade das entscheidende Merkmal des

225 Buisson 1869a, 35.

226 Ebd.

227 Ebd., 11.

228 Ebd., 39.

229 Ebd., 40.

230 Ebd., 46.

Fanatismus.» Wolle man die Geschichte von Isaaks Opfer «mit der Sittenlehre in Uebereinstimmung bringen», so dürfe man sie «nicht als eine wahre Geschichte, sondern als die hebräische Legende vortragen, welche an die Abschaffung der Menschenopfer erinnert, so wie dies bei den Griechen die Legende von der Iphigenie und bei anderen Völkern zahlreiche andere Legenden thun».231

Trotz diesen Geschichten erachtete Buisson die Bibel nicht als «ein Gesetzbuch der Unsittlichkeit», sondern als ein kostbares Buch, da dieses ermögliche, «von Zeitalter zu Zeitalter die stufenweise und langsame Entwicklung des Gewissens bei einem der merkwürdigsten Völker des Alterthums, von der Epoche der frühesten Barbarei an, bis zur Messianischen Aera zu verfolgen».232 Die Bibel könne für die Kinder dann ein Gewinn sein, wenn sie als Mittel verstanden werde, den Fortschritt des menschlichen Gewissens zu illustrieren. Würden aber die Bibeltexte so vermittelt, dass «alles gleichmässig und unbedingt göttlich sein muss»,233 dann helfe auch das Abmildern oder Verändern gewisser Texte nichts.

Buisson erachtet die Bibel auf Grund ihrer vielen anstössigen Geschichten als Schullektüre für ungeeignet. Er problematisiert zugleich aber auch den Ansatz, den Kindern eine von anstössigen Stellen gereinigte Bibel abzugeben, da auch eine solcherart zensurierte Bibel denselben Geist atme, den zu vermitteln es zu verhindern gelte. Den Kindern solle nicht die Geschichte eines Volkes erzählt werden, das zwar gross gewesen sei, aber «von der fortschreitenden Menschheit […] längst überholt worden ist». Es solle vielmehr dafür gesorgt werden, dass die «Kinder mit vollen Zügen, in der Schule wie in der Familie, die Luft der Re-publik einathmen». Ihnen soll früh «von Recht und Pflicht, von Vaterland und Menschheit, von Freiheit, Gleichheit und Gegenseitigkeit» gesprochen werden.

Lehrer und Schüler sollten nicht mehr «ihre Augen hinter sich auf einen kleinen Fleck Erde in Syrien» richten, sondern ihren «Geist und ihr Herz allem Herr-lichen und Guten» gegenüber öffnen, woher auch immer es komme. Buisson beendet seinen langen Vortrag sehr dezidiert: «Schafft die biblische Geschichte ab und ersetzt sie durch die Geschichte der Menschheit».234

Buissons radikale Forderung erinnert an Voltaire, in dessen Essai sur les mœurs anstelle des Heiligen Geist der menschliche Geist (l’esprit humain) rückt und somit die Heilsgeschichte durch die Menschheitsgeschichte ersetzt wurde. Erich Voegelin beschrieb diese säkulare Wende in der Geschichtsschreibung fol-gendermassen: «The corpus mysticum Christi has given way to the corpus mysticum humanitatis».235 In der zürcherischen Diskussion um den schulischen 231 Ebd., 52.

232 Ebd., 53.

233 Ebd., 55.

234 Ebd., 84 f.

235 Voegelin 1975, 10; vgl. auch Katzenstein 2013, 20 f.

Religionsunterricht sticht insbesondere eine Person hervor, die eine ähnlich radikal-säkulare Ansicht vertrat wie Buisson: Dies ist Erziehungsrat Sieber, der bereits als Mitglied des Verfassungsrates die Abschaffung des Religionsunter-richts und einen reinen Sittenunterricht forderte. Ob er von Buisson beeinflusst war, muss hier jedoch Spekulation bleiben.236

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